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Torf stechen
Der Tod ist wie Blattern, trocken, mürbe, lässt sich nicht greifen und festhalten, infiziert mich, bis ich selbst wegbrösele wie du, Gerrit. Sterben und zerfallen, zerfallen und dann sterben, wo ist der Unterschied? Für dich eine saubere Kugel ins Genick, die zweite in den Rücken, schwäbische Gründlichkeit, wäre nicht mehr nötig gewesen. Ich verwese von innen, das Organ, das mir Lust spendete und unsere Tochter ins Leben entließ, fault aus mir heraus.
Geh nach Hause, Anne. Ich konnte keinen Stuhl absetzen mit dem Pfleger neben mir, konnte deinen Vater nur im Stall auf dem Heuboden lieben, wo meine Schwester nicht hinkam, mit ihren von Kinderlähmung verkrüppelten Füßen. Durch hektische Arbeit abgetrotzte Minuten, in denen wir mit moorschwarzen Händen unter sandige Kleider fuhren und Haut suchten. Wie soll ich loslassen und sterben können, wenn du da bist.
Du solltest Janneke heißen, weißt du das, Anne? Wir stritten um den Namen, während er sacht über meinen Bauch fuhr, obwohl man noch nichts spüren konnte. Für einen Jungen Rainer, bestimmte ich schließlich, und er für ein Mädchen Janneke. Er kaute Brot und Käse, mein Vesper, das ich ihm heimlich zusteckte, und ahmte Vogelstimmen nach. „Ist es nicht seltsam, die Nachtigall singt auch im Krieg.“
In die dünne Suppe geschmuggelte Kartoffeln. Vogelstimmen. Ein offener Blick und ein aufrechter Gang, ein junger Mann in Lumpen, der verlangte, gesiezt zu werden, bitte und danke, wie wenig Liebe braucht.
Anne, Janneke. Es wäre egal gewesen, als du zur Welt kamst, patrouillierten längst Amerikaner durch Tiefenbach, aber ich war zu feige. Verzeih mir.
Seit Stunden sitzt du an meinem Bett und erzählst, Anne. Meine Welt ist klein geworden, ein Zimmer, ein Fenster mit Blick auf den Zoo, eine Matratze, was darüber hinausgeht, bringst du in Worten mit.
„Martin lernt segeln. Du kennst noch Martin? Dein Enkel, der große mit den dunklen Augen.“
„Sie haben die Kastanie im Innenhof gefällt. Sie hatte irgendeinen Pilz. Schade, so ein schöner Baum.“
„Das Laub wird längst gelb, dabei ist erst Mitte September. Sieh mal, ich habe dir einen Strauß Ahornblätter auf den Nachttisch gestellt.“
Das Leben besteht aus nichts als Augenblicken, kleinen Alltäglichkeiten, das hast du längst begriffen, und schenkst mir einen Moment um den anderen. Ich fühle meine Füße nicht mehr, die Hände steif, der Tod sitzt schon auf der Zunge, ich kann nur noch hören und blinzeln. Ich habe Angst.
Und dann, beiläufig, in kaum merklich anderem Ton: „Jemand hat Altöl ins Moor am Federsee abgelassen. Direkt hinter eurem alten Haus.“ Du streichst zärtlich über meine fieberheiße Stirn. Warum weinst du?
Wir haben Torf dort gestochen. Kühe hatten wir auch, und Baumwiesen. Erst starb Mutter. Vater heiratete nochmals, eine Gastwirtstochter aus Augsburg. Ich blieb mit meiner Schwester und ihrem Mann zurück, im Sommer ein Saisonknecht, so kamen wir hin. Dann zogen sie Erwin nochmals ein, zum Panzer reparieren ins Fränkische. Kein arbeitsfähiger deutscher Mann weithin, Russland fraß sie alle.
„Wir schaffen das nicht allein“, ich schnaubte dem Ortsvorsteher ins Gesicht, bestes Sonntagskleid, weiß mit blauen Punkten, ich musste mich das erste Mal durchsetzen, und ich genoss es. „Luise mit ihren verkrüppelten Füßen, der einzige Mann weg, was denkt ihr?“ „Mach dir keine Sorgen, Kindchen.“, er kannte mich seit meiner Taufe vor zwanzig Jahren. Kindchen. Er hatte selbst keine. Der unehelich geborene Hermann, die schwachsinnige Margarete, für sie alle fühlte er sich verantwortlich, nun eben wir. „Ich kümmere mich drum. Es gibt immer eine Lösung.“
„Sie mussten auf hunderte Meter das Moor abgraben.“
Torf stechen, schwarzer Torf, brauner Torf.
„Das Moor ist eine Tür zur Vergangenheit, in ihm speichert die Erde nahezu unversehrt die Geschichte. Die Vorstellungen von unseren Vorfahren und ihrer Lebensweise sind durch Funde von Moorleichen revolutioniert worden.“ Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers? Hauff sein Name, er war klein, unsagbar dick, und schwitzte im Licht des Diaprojektors. Grauballe-Mann, Mann von Vindeby, Mädchen aus dem Uchter Moor, die Bilder auf den Folien flatterten vorbei. - Sechsundachtzig, im November. Ich war gerade in Rente gegangen. „Durch maschinellen Torfabbau werden Moorleichen unwiederbringlich zerstört, was uns den Zugang zu unserer Vergangenheit verschließt.“
Das Ried um den Federsee steht unter Naturschutz. Kein Torfstich seit Jahrzehnten.
Du kramst in der Jackentasche, legst ein kleines, goldenes Kreuz an einer Kette zwischen meine reglos gefalteten Hände. Ich weiß, was auf die Rückseite eingraviert ist. Johanna * 1923.
„Sie haben Leichen gefunden.“ Jetzt stehst du auf, wendest dich ab, gehst unruhig im Zimmer herum. Deine Hände rücken Bilder zurecht, die längst gerade hängen. „Männer. Erschossen. Einer hat das getragen.“
Deine Vergangenheit wurde konserviert. Da war ein heimlicher Liebster, von dem es keine Bilder geben durfte, aber er liegt nicht in den Ardennen. Verachte mich nicht für meine Lügen.
„In deinem Jahrgang gab es in Tiefenbach nur eine Johanna.“ Du machst deine Stimme hart, anklagend, aber ich kenne dich besser. „Vater ist nicht gefallen, nicht wahr?“ Und, was du nicht sagst, aber deine Blicke fragten, als du in Atlanten Belgien suchtest, als du dich, ein Backfisch schon, im Spiegel betrachtetest und mit den Fingerspitzen all die Linien nachfuhrst, die ich dir nicht mitgegeben habe: Wer war er?
Sein Vater war Polizeichef von Den Bosch. Er weigerte sich, Juden zur Deporation aufzulisten. Sein Vater nach Dachau, Gerrit zu uns. Mutter und Schwester? '48 wollte niemand in Holland einem Moffenmädchen helfen. Wenn der Krieg vorbei ist, kommst du zu mir, ich werde dich vom Bahnhof abholen und dir ein Schild um den Hals hängen: Das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat. Ich malte mir aus, wie ich nach Holland fahren würde, den Strohhut mit Seidenband schräg aufs Haar gedrückt, den großen Leinenkoffer mit Lederschließen bei mir. Ich kam nicht einmal mit seiner Asche nach Den Bosch.
Der Tod auf meiner Zunge. Komm zu mir, Kind.
Endlich setzt du dich wieder, siehst du, wie ich den Kopf schüttle? Gerrit de Wolf, will ich sagen, meine trockenen Lippen stoßen tonlos aufeinander. Du nimmst das Kreuz aus meinen Händen, fragender Blick, ich blinzle einmal, zweimal. Du nickst, du verstehst.
Viel später gehst du, zum Roten Kreuz, zu den Stadtarchiven, nach Dachau, irgendwo wird Gerrit vermerkt sein, sie haben ja alles so akkurat niedergeschrieben, wie sie es auch tun werden, wenn ich nicht mehr da bin. Sei nicht traurig, wenn du mich morgen schon nicht mehr vorfindest. Ich werde ebenfalls zu einem Eintrag einer Liste werden, und dort, bei Gerrit, werde ich auf dich warten.