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Torf stechen

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14.08.2008
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Torf stechen

Der Tod ist wie Blattern, trocken, mürbe, lässt sich nicht greifen und festhalten, infiziert mich, bis ich selbst wegbrösele wie du, Gerrit. Sterben und zerfallen, zerfallen und dann sterben, wo ist der Unterschied? Für dich eine saubere Kugel ins Genick, die zweite in den Rücken, schwäbische Gründlichkeit, wäre nicht mehr nötig gewesen. Ich verwese von innen, das Organ, das mir Lust spendete und unsere Tochter ins Leben entließ, fault aus mir heraus.

Geh nach Hause, Anne. Ich konnte keinen Stuhl absetzen mit dem Pfleger neben mir, konnte deinen Vater nur im Stall auf dem Heuboden lieben, wo meine Schwester nicht hinkam, mit ihren von Kinderlähmung verkrüppelten Füßen. Durch hektische Arbeit abgetrotzte Minuten, in denen wir mit moorschwarzen Händen unter sandige Kleider fuhren und Haut suchten. Wie soll ich loslassen und sterben können, wenn du da bist.

Du solltest Janneke heißen, weißt du das, Anne? Wir stritten um den Namen, während er sacht über meinen Bauch fuhr, obwohl man noch nichts spüren konnte. Für einen Jungen Rainer, bestimmte ich schließlich, und er für ein Mädchen Janneke. Er kaute Brot und Käse, mein Vesper, das ich ihm heimlich zusteckte, und ahmte Vogelstimmen nach. „Ist es nicht seltsam, die Nachtigall singt auch im Krieg.“
In die dünne Suppe geschmuggelte Kartoffeln. Vogelstimmen. Ein offener Blick und ein aufrechter Gang, ein junger Mann in Lumpen, der verlangte, gesiezt zu werden, bitte und danke, wie wenig Liebe braucht.
Anne, Janneke. Es wäre egal gewesen, als du zur Welt kamst, patrouillierten längst Amerikaner durch Tiefenbach, aber ich war zu feige. Verzeih mir.

Seit Stunden sitzt du an meinem Bett und erzählst, Anne. Meine Welt ist klein geworden, ein Zimmer, ein Fenster mit Blick auf den Zoo, eine Matratze, was darüber hinausgeht, bringst du in Worten mit.
„Martin lernt segeln. Du kennst noch Martin? Dein Enkel, der große mit den dunklen Augen.“
„Sie haben die Kastanie im Innenhof gefällt. Sie hatte irgendeinen Pilz. Schade, so ein schöner Baum.“
„Das Laub wird längst gelb, dabei ist erst Mitte September. Sieh mal, ich habe dir einen Strauß Ahornblätter auf den Nachttisch gestellt.“
Das Leben besteht aus nichts als Augenblicken, kleinen Alltäglichkeiten, das hast du längst begriffen, und schenkst mir einen Moment um den anderen. Ich fühle meine Füße nicht mehr, die Hände steif, der Tod sitzt schon auf der Zunge, ich kann nur noch hören und blinzeln. Ich habe Angst.
Und dann, beiläufig, in kaum merklich anderem Ton: „Jemand hat Altöl ins Moor am Federsee abgelassen. Direkt hinter eurem alten Haus.“ Du streichst zärtlich über meine fieberheiße Stirn. Warum weinst du?

Wir haben Torf dort gestochen. Kühe hatten wir auch, und Baumwiesen. Erst starb Mutter. Vater heiratete nochmals, eine Gastwirtstochter aus Augsburg. Ich blieb mit meiner Schwester und ihrem Mann zurück, im Sommer ein Saisonknecht, so kamen wir hin. Dann zogen sie Erwin nochmals ein, zum Panzer reparieren ins Fränkische. Kein arbeitsfähiger deutscher Mann weithin, Russland fraß sie alle.
„Wir schaffen das nicht allein“, ich schnaubte dem Ortsvorsteher ins Gesicht, bestes Sonntagskleid, weiß mit blauen Punkten, ich musste mich das erste Mal durchsetzen, und ich genoss es. „Luise mit ihren verkrüppelten Füßen, der einzige Mann weg, was denkt ihr?“ „Mach dir keine Sorgen, Kindchen.“, er kannte mich seit meiner Taufe vor zwanzig Jahren. Kindchen. Er hatte selbst keine. Der unehelich geborene Hermann, die schwachsinnige Margarete, für sie alle fühlte er sich verantwortlich, nun eben wir. „Ich kümmere mich drum. Es gibt immer eine Lösung.“

„Sie mussten auf hunderte Meter das Moor abgraben.“
Torf stechen, schwarzer Torf, brauner Torf.
„Das Moor ist eine Tür zur Vergangenheit, in ihm speichert die Erde nahezu unversehrt die Geschichte. Die Vorstellungen von unseren Vorfahren und ihrer Lebensweise sind durch Funde von Moorleichen revolutioniert worden.“ Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers? Hauff sein Name, er war klein, unsagbar dick, und schwitzte im Licht des Diaprojektors. Grauballe-Mann, Mann von Vindeby, Mädchen aus dem Uchter Moor, die Bilder auf den Folien flatterten vorbei. - Sechsundachtzig, im November. Ich war gerade in Rente gegangen. „Durch maschinellen Torfabbau werden Moorleichen unwiederbringlich zerstört, was uns den Zugang zu unserer Vergangenheit verschließt.“
Das Ried um den Federsee steht unter Naturschutz. Kein Torfstich seit Jahrzehnten.
Du kramst in der Jackentasche, legst ein kleines, goldenes Kreuz an einer Kette zwischen meine reglos gefalteten Hände. Ich weiß, was auf die Rückseite eingraviert ist. Johanna * 1923.
„Sie haben Leichen gefunden.“ Jetzt stehst du auf, wendest dich ab, gehst unruhig im Zimmer herum. Deine Hände rücken Bilder zurecht, die längst gerade hängen. „Männer. Erschossen. Einer hat das getragen.“
Deine Vergangenheit wurde konserviert. Da war ein heimlicher Liebster, von dem es keine Bilder geben durfte, aber er liegt nicht in den Ardennen. Verachte mich nicht für meine Lügen.
„In deinem Jahrgang gab es in Tiefenbach nur eine Johanna.“ Du machst deine Stimme hart, anklagend, aber ich kenne dich besser. „Vater ist nicht gefallen, nicht wahr?“ Und, was du nicht sagst, aber deine Blicke fragten, als du in Atlanten Belgien suchtest, als du dich, ein Backfisch schon, im Spiegel betrachtetest und mit den Fingerspitzen all die Linien nachfuhrst, die ich dir nicht mitgegeben habe: Wer war er?
Sein Vater war Polizeichef von Den Bosch. Er weigerte sich, Juden zur Deporation aufzulisten. Sein Vater nach Dachau, Gerrit zu uns. Mutter und Schwester? '48 wollte niemand in Holland einem Moffenmädchen helfen. Wenn der Krieg vorbei ist, kommst du zu mir, ich werde dich vom Bahnhof abholen und dir ein Schild um den Hals hängen: Das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat. Ich malte mir aus, wie ich nach Holland fahren würde, den Strohhut mit Seidenband schräg aufs Haar gedrückt, den großen Leinenkoffer mit Lederschließen bei mir. Ich kam nicht einmal mit seiner Asche nach Den Bosch.
Der Tod auf meiner Zunge. Komm zu mir, Kind.
Endlich setzt du dich wieder, siehst du, wie ich den Kopf schüttle? Gerrit de Wolf, will ich sagen, meine trockenen Lippen stoßen tonlos aufeinander. Du nimmst das Kreuz aus meinen Händen, fragender Blick, ich blinzle einmal, zweimal. Du nickst, du verstehst.

Viel später gehst du, zum Roten Kreuz, zu den Stadtarchiven, nach Dachau, irgendwo wird Gerrit vermerkt sein, sie haben ja alles so akkurat niedergeschrieben, wie sie es auch tun werden, wenn ich nicht mehr da bin. Sei nicht traurig, wenn du mich morgen schon nicht mehr vorfindest. Ich werde ebenfalls zu einem Eintrag einer Liste werden, und dort, bei Gerrit, werde ich auf dich warten.

 

Wirklich schön geschriebener Text, der mir überhaupt nichts gibt, weil ich nie in der Geschichte bin. Ist so verdichtet, dass ich bei jedem einzelnen Sprung komplett rausfalle, ohne wirklich mal drin gewesen zu sein.
Erzähl doch auch die Stellen, die weniger dicht und emotionsgeladen sind und die du sicher in deinem Kopf hast.
Handwerklich, erzähltechnisch, was das Einführen von Figuren und Szenen angeht, ist die Geschichte ein Albtraum, aber bin mir bewusst, dass manche gerade sowas mögen. Vielleicht kriegst du von denen dann eine Kritik, die dir mehr hilft.

Gruß
Quinn

 

Hallo Pardus,

ich reihe mich mal hinter Quinn ein. Ehrlich, so schön Bildbände sind, sie sind nicht jedermanns Sache. Du malst gut, aber du setzt es nicht in Szene. Du machst nichts aus den Bildern.

Wenn den Zweck nur war, alte, gelbe Postkarten zu erstellen, bei denen man an das Früher denken muss, dann, ja - dann ist es dir gelungen.

Aber die Personen bleiben blass und farblos, ohne Hintergrund, langweilig, wie auf einem Foto, das man in einer alten Schuhschachtel findet, ohne Bezug, ohne Hintergrund, ohne Geschichte.

Aber, wie Quinn schon gesagt hat, manche mögen es wohl genau so.

Schöne Grüße,

yours

 

An alle,

da mein Kater den Laptop unter Tee gesetzt hat, und ich auf dieser Arbeitsstelle eigentlich nicht ins Internet darf, wird es mit Antworten und Änderungen ein wenig dauern.

Toet ziens, Pardus

 
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Salvete,

der Laptop liegt zwar immer noch im Koma, aber wenigstens habe ich für die nächsten Tage anderweitig Zugang zum Internet.

Hallo Quinn:
die Bruchstückhaftigkeit ist Absicht, ich wollte die schlaglichtartigen Gedankengänge Sterbender wiedergeben. Mal sehen, wie ich mehr Fleisch auf die Knochen bringe, ohne meine Intention zu konterkarieren.
Ich bin übrigens selbst Fan solcher stilistischen Albträume, wenn sie gut gemacht sind. Ob das bei meiner KG der Fall ist, müssen andere beurteilen.


Hallo yours,
der Kommentar ist ja fast so ermutigend wie "eine nette Geschichte"! (Die wirst Du nicht mehr los :D.) Übrigens nennt man den Ton alter Fotos nicht Gelb, sondern Sepia.
Ansonsten kann ich dich nur, wie Quinn, auf die bearbeitete Version vertrösten, die hoffentlich irgendwann demnächst in diesem Theater erscheinen wird.

PS: Ich hab Dir vor längerer Zeit einen Kommentar zu "Eine Begegnung" geschrieben. Hast Du ihn noch nicht entdeckt, oder hast Du mit der KG schon abgeschlossen?


Hallo rueganerin,
schön, dass Dir die KG gefallen hat. erwähnte Berliner Lyrik ist mir völlig unbekannt. Schickst Du mir ein par Autoren per PN?


Gruß an alle und schönes Wochenende,

Pardus

 

Hallo Pardus!

Mit gelb meinte ich eher alt und verblichen, nicht Sepia. Und ... ähm ... da geh ich doch gleich mal nachsehen. Entschuldige. :)

yours

 
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Salvete,

habe versucht, den "Albtraum" (Quinn) mit mehr Leben zu füllen. Ich hoffe, es gefällt.

Avete, Pardus

 

Hey Pardus,

es ist immer noch ganz schön schwer. ;) Vielleicht bin ich schlicht zu blöd dafür; aber es ist auch jetzt noch, für mich, wie ein Puzzle. Ich frag mich dann auch, ob ein Autor von seinen Lesern verlangen kann, so aufmerksam zu lesen, und zwei- und dreimal. Und am besten mit einem Notizblock nebendran.
Es macht es mir schwer, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, wenn ich immer auf die Handlung starren muss.

Da ist eine sterbende Frau. Ihre Tochter ist am Sterbebett. Man hat Moorleichen gefunden, eine davon ist ihr Vater.
Aber wie das dann weitergeht und zusammenhängt: Ob die Mutter am Tode ihres "heimlichen Geliebten" mitschuldig war - und wer jetzt Jude war oder nicht. Boah ... also da raucht mir der Schädel.

Sie hat ihn verschwiegen. Ja, es war wohl auch keine "große Liebe", sondern eine Notwendigkeit eher. Aber herrje, da muss man schlicht schlauer sein als ich, um den Text richtig mitzukriegen. Vielleicht auch erfahrener in solchen Dingen.

Ich seh ja die Motive. Dass sich die Mutter fast ins Sterben flüchten, ohne diese Lebenslüge aufgedeckt zu wissen. Aber da hauen immer so Satzfetzen rein, in denen das Geheimnis liegen könnte, die isch mir in der Form aber einfach nicht erschließen, die könnten auch in Sanskrit geschrieben sein:

Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers? Hauff sein Name, er war klein, unsagbar dick, und schwitzte im Licht des Diaprojektors. Grauballe-Mann, Mann von Vindeby, Mädchen aus dem Uchter Moor..
Wann spielt das? Sind die Namen der ganzen Leute jetzt berühmte Moorleichen? Wann hat Hauff das gesagt? Wann wurde der Torf gestochen?

„Sie haben Leichen gefunden.“, jetzt stehst du auf, wendest dich ab, gehst unruhig im Zimmer herum. Deine Hände rücken Bilder zurecht, die längst gerade hängen. „Männer. Erschossen. Einer hat das getragen.“
Die Mutter hat einen NS-Mann um Hilfe angefleht, der hat ihnen Juden oder Internierte geschickt und die haben dann das Moor gestochen und wurden schließlich erschossen? Da müsste vorher auch mal deutlich werden, dass die vom Torf stechen gelebt haben, damals.

Sein Vater war Polizeichef von Den Bosch. Er weigerte sich, Juden zu listen. Sein Vater nach Dachau, er zu uns. Mutter und Schwester? 48 wollte niemand in Holland einem Moffenmädchen helfen. Wenn der Krieg vorbei ist, kommst du zu mir, ich werde dich vom Bahnhof abholen, mit einem Schild um den Hals: das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat. Ich kam nicht einmal mit Asche.
Der Tod auf meiner Zunge. Komm zu mir, Kind.
Das ist auch sowas. Dass hat sie ihm nur versprochen, oder? Hat nur gesagt: Wenn der Krieg vorbei ist, dann. In Wirklichkeit hat doch Gerrit das Ende des Krieges gar nicht mehr erlebt?

Klar, ich versteh die Intention: Sterbende und Gedankenfetzen. Doch als Leser seh ich hier: Puzzle und Arbeit.
Jetzt ist es fast noch fieser als vorher, wiel man nun - im Vergleich zur letzten Version - eben wirklich Puzzleteile hat, mit denen man arbeiten kann. ;)

Ich hab überhaupt nichts dagegen mit einem Text zu arbeiten, aber dass man sich den Text, bevor man mit ihm arbeiten kann, noch zusammensetzen muss - mäh, vielleicht wenn ich älter bin. Ich erkenne den Reiz darin und alles, aber bin nicht unbedingt bereit, mir von einem Autor so eine Leistung abverlangen zu lassen.

Gruß
Quinn

 
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Hallo Quinn,

Jetzt ist es fast noch fieser als vorher
Was soll ich dazu sagen?

Ob die Mutter am Tode ihres "heimlichen Geliebten" mitschuldig war - und wer jetzt Jude war oder nicht.
Warum sollte die Mutter mitschuldig sein? Und woraus liest Du einen Hinweis auf Juden?

Ja, es war wohl auch keine "große Liebe", sondern eine Notwendigkeit eher.
Wenn es keine große Liebe war, weshalb hält sie dann immer noch innerlich Zwiesprache mit ihm ("unsere Tochter ins Leben entließ")? Und warum sieht sie sich dann nach ihrem Tod an seiner Seite?
Und woraus, bitteschön, ergibt sich die Notwendigkeit, trotz schlimmster drohender Konsequenzen mit einem Zwangsarbeiter ins Heu zu gehen?

Zitat:
Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers? Hauff sein Name, er war klein, unsagbar dick, und schwitzte im Licht des Diaprojektors. Grauballe-Mann, Mann von Vindeby, Mädchen aus dem Uchter Moor..
Wann spielt das? Sind die Namen der ganzen Leute jetzt berühmte Moorleichen? Wann hat Hauff das gesagt? Wann wurde der Torf gestochen?
Irgendwann halt - ein Menschenleben ist lang. Die Namen beziehen sich tatsächlich auf berühmte Moorleichen. Und es geht nicht um Torfstich am Federsee speziell (dort bis Anfang der 50er, so weit ich weiß), sondern um Torfstich allgemein, und dass dabei eben durch Zufall immer wieder wichtige, sehr gut erhaltene archäologische Funde gemacht werden.

Die Mutter hat einen NS-Mann um Hilfe angefleht, der hat ihnen Juden oder Internierte geschickt und die haben dann das Moor gestochen und wurden schließlich erschossen? Da müsste vorher auch mal deutlich werden, dass die vom Torf stechen gelebt haben, damals.
Auf dem Hof war nur ein Internierter, nämlich Gerrit. Und zum Thema, ich hätte das Tofstechen unterschlagen, verweise ich höflichst auf den 5. Absatz, 1. Satz.

Wenn der Krieg vorbei ist, kommst du zu mir, ich werde dich vom Bahnhof abholen, mit einem Schild um den Hals: das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat. Ich kam nicht einmal mit Asche.
Das ist auch sowas. Dass hat sie ihm nur versprochen, oder?
Gut, ich sehe, der Satzbau ist missverständlich. Er hat versprochen, sie nach Holland zu holen.

Ich erkenne den Reiz darin und alles, aber bin nicht unbedingt bereit, mir von einem Autor so eine Leistung abverlangen zu lassen.
Du lässt Dir eine reizvolle Aufgabe entgehen :p?

mäh, vielleicht wenn ich älter bin
Du machst mich neugierig auf dein Alter ... . Aber lass Dich warnen, Denken fällt in jungen Jahren leichter :D, ich seh es tatgtäglich an meinen Patienten.

Gruß, Pardus

 

Hallo,

Johanna verheimlicht ihrer Tochter den Vater, schließlich müsste sie sich dann auch vor ihrer Familie outen, ein Verhältnis mit einem Zwangsarbeiter gehabt zu haben. Also erfindet sie einen akzeptablen gefallenen Deutschen, und je länger sie mit der Lüge lebt, umso schwieriger wird es, die Wahrheit zu offenbaren. Bis die Tochter es selbst ahnt, weil Gerrit durch einen Zufall ausgegraben wird.
Das hier ist der Schlüssel. Daher meine ganzen Annahmen, sie müsste da mit dem Mord ihre Hände im Spiel haben und sich davor so schämen.
Diese Begründung mit "vor ihrer Familie outen" ... kurz vor dem Tod? Das hält sie noch so geheim? Also, klar Menschen sind seltsam. Aber ... es ist jetzt für mich kein naheliegender Gedanke. Ich dachte tatsächlich, sie schämt sich für den Vater ihrer Tochter aus ... jo ... dunkleren Motiven.
Und mal von der Logik: Sie erfindet einen "akzeptablen Deutschen", den aber keiner aus der Familie gesehen hat? Ist ja auch irgendwie ein "Outen" dann.

Und die vielen Kleinigkeiten, die ich nicht mitbekommen habe, das liegt bei manchen Sachen daran, dass mir die Erlebniswelt schlicht fremd ist (Die Leben vom Torfstechen - das ist ein Gedanke, der mir erstmal ins Hirn gehämmert werden muss) und zum anderen, dass es halt so durcheinander geht.

Du musst's ja nich umändern meinetwegen, aber ich sag nur: Wenn hier einer herkommt und das alles auf einen Blick sieht und erkennt, dann zieh ich aber meinen Hut. Kollege Kasimir hat mal so ein Ding geschrieben, mit dem ich nun gar nix anfangen konnte, und dann kam die Goldene Dame und hat die Bilder bis aufs I-Tüpfelchen noch auseinander analysiert und das ganze wurde sogar noch empfohlen.
Nimm mich da nicht als Maßstab.
Wobei ich jetzt nach der Komplexität der Geschichte schon fast vermute, dass die Geschichte hier einen realen Hintergrund hat - und den dann literarisch wiederzugeben ist alleine schon eine große Herausforderung; das dann noch mit dem ... "Handicap" zu verbinden, mit der Auflage, die Erzählsituation einer sterbenden Frau in die Handlung mithinein zu weben, ist schon heftig.

Gruß
Quinn

 

Moin Quinn,

Diese Begründung mit "vor ihrer Familie outen" ... kurz vor dem Tod? Das hält sie noch so geheim? Also, klar Menschen sind seltsam. Aber ... es ist jetzt für mich kein naheliegender Gedanke.
Gerade das hätte ich erwartet, aber vielleicht lege ich falsche Maßstäbe an. Zum einen verschwinden die alten Feindbilder mit der Kapitulation nicht automatisch aus den Köpfen: die minderwertigen Juden, die lausigen Zigeuner, die heimtückischen Kommunisten, und der Rest waren bestimmt schlimmste Gewaltverbrecher, Kinderschänder, usw.

Da die Prota hochschwanger ist, muss sie irgendeinen Kindsvater aus dem Hut zaubern. Ein Deutscher, mit dem sie nicht verheiratet war, ist da noch weniger verwerflich, als ein "Feind" - heute würde man wahrscheinlich einen verflossene Fernbeziehung erfinden, von der man sich in aller Freundschaft getrennt hat, anstatt zuzugeben, dass man völlig zugekokst auf irgendeiner Party mit drei Typen gevögelt hat, bei denen man sich nicht mal mehr an die Haarfarbe erinnert.
Und je länger man mit der Lüge lebt, umso schwerer wird es, die Wahrheit einzugestehen.

Dann kommt es sicher noch darauf an, mit welchen Moralvorstellungen man aufgewachsen ist. In meiner Familie gab es eine Frau, die in dieser Zeit ein uneheliches Kind erwartete - sie protestantisch, er katholisch. Der Kindsvater versprach, sie zu heiraten, als seine reichen Eltern mit Enterbung drohten, ward er aber nur noch von hinten gesehen (übrigens ein "ordentlicher" deutscher Soldat, den die Frau als Lazarettschwester kenenn gelernt hatte).
Sie hat ihrer Tochter bis zum Tod die Wahrheit vorenthalten, andere Verwandte, alte Freunde der Mutter, die die Wahrheit erfahren hatten, mussten es ihr stecken. so viel zum Thema, oute ich mich, oder nicht.

Bis auf diese zufällige Koinzidenz, die mir jetzt erst ins Auge sticht, hat die Geschichte aber keinen realen Background, obwohl sie sicher ähnlich irgendwo passiert ist.

Zum Umändern: bisher ist aber noch keiner gekommen, und hat von sich aus alles richtig interpretiert. Als objektive Leserwahrnehmung kann ich halt nur abgegebene Kommentare nehmen.

Einen schönen Tag noch,

Pardus

 

Hallo Pardus!

Das ist eine sehr schön erzählte, traurige Geschichte, die ich gern gelesen habe.

Aus den Gedanken einer Sterbenden heraus erzählst Du eine ganze Familiengeschichte und beginnst damit bei ihren Erinnerungen an Gerrit, den Vater ihrer Tochter, der, wie wir gleich im ersten Absatz erfahren, durch eine deutsche Kugel ins Genick gestorben ist.

Sterben und zerfallen, zerfallen und dann sterben, wo ist der Unterschied?
Das gefällt mir sehr gut.
Ich verwese von innen, das Organ, das mir Lust spendete und unsere Tochter ins Leben entließ, fault aus mir heraus.
»mir Lust spendete« würde ich weglassen, das paßt nicht so zu einer Frau aus dieser Generation; vielleicht anders formulieren, sodaß es nicht um Lust, sondern um Liebe geht. Auch könnte es sich auf den ganzen Körper und nicht nur auf »das Organ« beziehen.

Im zweiten Absatz sprechen ihre Gedanken zu ihrer Tochter, die bei ihr zu Besuch im Sterbezimmer ist. Sie möchte, daß sie nach Hause geht, damit sie loslassen und sterben kann. Sie muß durch ihre Anwesenheit an Gerrit denken (und beim zweiten Lesen macht es auf mich auch den Eindruck, daß sie beim Anblick der Tochter vielleicht sogar schlechtes Gewissen hat, weil sie ihr nie etwas erzählt hat).
Daß sie keinen Stuhl absetzen konnte mit dem Pfleger neben sich, triggert bei ihr offenbar die Situation, wie sie Gerrit nur heimlich lieben konnte. Diesen Stuhl-Trigger finde ich nicht ganz so gelungen und auch nicht notwendig, um diese Erinnerung zu erzählen, aber okay. Meiner Meinung nach wäre die Situation an sich, daß sie nicht sterben und damit nicht zu ihrem Gerrit kann, nicht mit ihm alleine ist, solange die Tochter anwesend ist, viel passender.
Außerdem hast Du mich mit dem Stuhl ganz verwirrt: Jetzt gewöhne ich mich seit Jahren daran, wenn ein Deutscher »Stuhl« sagt, »Sessel« zu verstehen und keine seltsamen Bilder von in ihrem eigenen Stuhl sitzenden Menschen zu produzieren, und dann meinst Du tatsächlich diesen Stuhl und ich fragte mich anfangs: Was hat sie bloß mit diesem Sessel? :lol:

Dann erfahren wir von der Liebe der beiden und daß die Tochter eigentlich Janneke heißen sollte, die Erzählerin sich aber nicht traute, ihr diesen Namen zu geben, obwohl der Krieg bei ihrer Geburt schon vorbei war, aber die Schranken im Kopf waren noch immer da und deshalb wählte sie den unverfänglichen deutschen Namen Anne.
Gerrit fuhr sacht über ihren Bauch und machte für sie Vogelstimmen nach, das zeigt, daß er sie geliebt hat. Die Erzählerin hat ihm Essen zugesteckt, er war offenbar Zwangsarbeiter.

Meine Welt ist klein geworden, ein Zimmer, ein Fenster mit Blick auf den Zoo, eine Matratze, was darüber hinausgeht, bringst du in Worten mit.
Sehr schön, wie Du mit so wenigen, einfachen Worten so viel sagst.
Das Leben dringt nur noch durch die Tochter zu ihr, die ihr von der Welt draußen erzählt.
Das Leben besteht aus nichts als Augenblicken, kleinen Alltäglichkeiten, das hast du längst begriffen, und schenkst mir einen Moment um den anderen.
Die Tochter schenkt der Mutter das Leben in Form von Augenblicken – das finde ich sehr schön gesehen, und ich glaube, das ist mein Lieblingssatz. :)

Und dann, beiläufig, in kaum merklich anderem Ton: „Jemand hat Altöl ins Moor am Federsee abgelassen. Direkt hinter eurem alten Haus.“ Du streichst zärtlich über meine fieberheiße Stirn. Warum weinst du?
Eine Nachricht, die wiederum die Erinnerung der Erzählerin heraufholt, aber sie weiß noch nicht, was die Tochter weiß, daher fragt sie sich, warum sie weint.
Im nächsten Absatz denkt sie wieder an die Zeit zurück und wir erfahren, in welchen Verhältnissen sie damals gelebt hat und wie sie den Ortsvorsteher um Hilfe gebeten hat, welcher versprach, sich um sie und ihre Schwester zu kümmern, deren Eltern gestorben und der Mann der Schwester eingezogen waren.
Dann erzählt die Tochter weiter, daß sie wegen dem Altöl das Moor abgraben mußten.

„Das Moor ist eine Tür zur Vergangenheit, in ihm speichert die Erde nahezu unversehrt die Geschichte. Die Vorstellungen von unseren Vorfahren und ihrer Lebensweise sind durch Funde von Moorleichen revolutioniert worden.“ Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers?
Hier ist mir nicht ganz klar, ob die Frau sich die Worte des Lehrers ins Gedächtnis ruft, oder ob die Tochter sie als Überleitung erwähnt, bevor sie die Kette hervorholt.
Das Ried um den Federsee steht unter Naturschutz. Kein Torfstich seit Jahrzehnten.
Die Leichen sollten wohl nicht entdeckt werden, die Geschichte begraben bleiben. Wie auch in der Erzählerin. Doch dieses Altöl ändert alles, es wird umgegraben und die Geschichte kommt zum Vorschein, und so auch das Kreuz, das die Liebe zwischen der Erzählerin und Gerrit offenbart.

gehst unruhig im Zimmer herum. Deine Hände rücken Bilder zurecht, die längst gerade hängen.
Wieder so ein tolles, vielsagendes Bild: Während für die Mutter die Bilder längst gerade hängen, sie die Vergangenheit für sich längst abgeschlossen hat, fängt die Tochter gerade erst an, sie zurechtzurücken, es läßt ihr von nun an keine Ruhe. Sie hat bereits begonnen, nachzuforschen, ist sich sicher, daß die Gravur in dem gefundenen Kreuz ihre sterbende Mutter meint, und erkennt nun die Geschichten, ihr Vater sei im Krieg gefallen, als Lüge.

Verachte mich nicht für meine Lügen.
„In deinem Jahrgang gab es in Tiefenbach nur eine Johanna.“ Du machst deine Stimme hart, anklagend, aber ich kenne dich besser. „Vater ist nicht gefallen, nicht wahr?“ Und, was du nicht sagst, aber deine Blicke fragten, als du in Atlanten Belgien suchtest, als du dich, ein Backfisch schon, im Spiegel betrachtetest und mit den Fingerspitzen all die Linien nachfuhrst, die ich dir nicht mitgegeben habe: wer war er?
Da steckt viel Tragisches drinnen. Die Suche der Tochter nach der eigenen Identität, die sehr schwer ist, wenn man nur einen Elterteil kennt und über den anderen nur falsche Informationen hat. Und nun, da sie ein Stück ihrer eigenen Geschichte gefunden hat und die Mutter darauf anspricht, ist es zu spät, da die ihr nun nichts mehr erzählen kann.

Sein Vater war Polizeichef von Den Bosch. Er weigerte sich, Juden zur deporation aufzulisten. Sein Vater nach Dachau, Gerrit zu uns.
Nur aus ihren Gedanken erfahren wir als Leser, daß der Großvater zu den Mutigen gehörte, die offenen Widerstand geleistet haben, weshalb er ins KZ kam und Gerrit, sein Sohn, als Zwangsarbeiter zur Erzählerin und ihrer Schwester geschickt wurde.

Mutter und Schwester? 48 wollte niemand in Holland einem Moffenmädchen helfen. Wenn der Krieg vorbei ist, kommst du zu mir, ich werde dich vom Bahnhof abholen und dir ein Schild um den Hals hängen: das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat. Ich malte mir aus, wie ich nach Holland fahren würde, den Strohhut mit Seidenband schräg aufs Haar gedrückt, den großen Leinenkoffer mit Lederschließen bei mir. Ich kam nicht einmal mit seiner Asche nach den Bosch.
Hier bin ich mir nicht sicher: Hat sie versucht, 1948 nach Holland zu gehen und wurde nicht gewollt, oder ging sie nicht, weil niemand sie gewollt hätte?
Jedenfalls haben Gerrit und die Erzählerin offenbar noch als er gelebt hat überlegt, ob sie nach Holland gehen soll. Doch als Deutsche wäre sie dort nicht gern gesehen gewesen. Gerrit glaubte daran, nach dem Krieg wieder nach Hause zu kommen, und daß er die Vorurteile aus dem Weg geräumt hätte. Doch er wurde erschossen und im Moor versenkt, sie hatte nicht einmal seine Asche.

„Vater ist nicht gefallen, nicht wahr?“
[…]
Endlich setzt du dich wieder, siehst du, wie ich den Kopf schüttle? Gerrit de Wolf, will ich sagen, meine trockenen Lippen stoßen tonlos aufeinander. Du nimmst das Kreuz aus meinen Händen, fragender Blick, ich blinzle einmal, zweimal. Du nickst, du verstehst.
Das ist sicher für beide Frauen sehr schmerzlich. Die Mutter, die nichts mehr erzählen kann, jetzt, wo sie endlich reden will, weil es einen Anlaß dazu gibt, und die Tochter, die so nah dran ist, aber zu spät, um von ihrer Mutter etwas über ihren Vater zu erfahren, das über ein kopfschüttelndes Nein und ein Ja in Form von Blinzeln hinausgeht.
Die Mutter und Erzählerin weiß, welche schwierige Suche der Tochter nun bevorsteht, doch es ist nicht mehr zu ändern, sie ist bereits am Weg zu Gerrit.


Wie gesagt, finde ich die Geschichte sehr schön und aus einer interessanten Perspektive heraus erzählt. Ich sehe darin aber noch mehr als »nur« ein trauriges Familienschicksal (ob Du das so wolltest, weiß ich nicht, da die Geschichte nicht in Gesellschaft steht, wo sie meiner Meinung nach hingehörte): Das Problem von uns Nachkriegsgenerationen, daß die Geschichte nie gründlich aufgearbeitet wurde, solange man noch mit den Alten darüber sprechen hätte können. Es wurde viel verschwiegen, weil die Menschen nicht darüber geredet haben – sich erst nicht trauten, dann lieber verdrängten.
Was bleibt, sind Generationen, die mit ihrer Geschichte nicht umgehen können, weil sie eine Schuld geerbt haben, die sie nicht haben; Deutsche, die ein Problem damit haben, Deutsche zu sein; Menschen, die sich für ihre Identität schämen oder ihre wahre Identität gar nicht kennen, weil ihnen die Wahrheit aus Bequemlichkeit immer vorenthalten wurde.
Ein schwieriges Thema, das Du meiner Meinung nach sehr gut in die Geschichte verpackt hast, wenn es so gewollt war, auch wenn Du die für die Protagonistin angenehmere, ja beruhigendere Variante gewählt hast: Zu erfahren, daß der Vater Zwangsarbeiter war, weil der Großvater Widerstand geleistet hat, ist zwar tragisch, aber sicher um einiges leichter, als zu erfahren, daß sie begeisterte, ranghohe Nazis waren. Auf den Großvater kann Anne ja direkt stolz sein, wenn sie es jemals erfährt. Aber es wird eine schwierige Aufgabe für sie, nun den Rest von Gerrits Familie, ihre Verwandten, zu finden.

Ein paar Kleinigkeiten noch:

»Dann zogen sie Erwin nochmals ein, zum Panzer reparieren ins Fränkische.«
– zum Panzerreparieren

»„Sie haben Leichen gefunden.“, jetzt stehst du auf,«
– gefunden.“ Jetzt …

»mit den Fingerspitzen all die Linien nachfuhrst, die ich dir nicht mitgegeben habe: wer war er?«
– groß, da ganzer Satz nach dem Doppelpunkt: Wer war er?

»Er weigerte sich, Juden zur deporation aufzulisten.«
– zur Deportation

»und dir ein Schild um den Hals hängen: das ist das Mädchen, das mich auf fünfzig Kilo hochgefüttert hat.«
– hängen: Das ist das Mädchen

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Salve Häferl,

schön, dass Du die Geschichte verstanden hast, und vor allem, dass sie Dir gefallen hat.

»mir Lust spendete« würde ich weglassen, das paßt nicht so zu einer Frau aus dieser Generation; vielleicht anders formulieren, sodaß es nicht um Lust, sondern um Liebe geht. Auch könnte es sich auf den ganzen Körper und nicht nur auf »das Organ« beziehen.
da dies ein jugendfreies Forum ist, verschweige ich, was ich von Frauen dieser Generation schon gehört habe.
Das Organ "fault heraus" - Johanna hat Gebärmutterkrebs, wobei dieselbe genau jenes tut.
Mit der Lust hab ich auch kein Problem. Liebe ist etwas seelisches, Lust körperlich, und es ist der Körper, der zerfällt.

Diesen Stuhl-Trigger finde ich nicht ganz so gelungen und auch nicht notwendig, um diese Erinnerung zu erzählen, aber okay.
Vielleicht ändere ich das mit dem Kot absetzen noch, würd es aber gern lassen, einfach weil es sich dabei wie beim sex und beim Sterben um sehr körperliche Vorgänge handelt, bei denen man ganz loslassen können muss, sich hineingeben, sonst funktioniert es nicht. Jede zusätzliche Person, vom Partner beim Sex mal abgesehen, stört da nur.
Ich erlebe immer wieder, dass Angehörige bis zur letzten Minute beim Sterbenden bleiben wollen, und der wartet mit seinem Abgang so lange, bis er mal für einen Augenblick allein ist ...

Hier ist mir nicht ganz klar, ob die Frau sich die Worte des Lehrers ins Gedächtnis ruft, oder ob die Tochter sie als Überleitung erwähnt, bevor sie die Kette hervorholt.
Die Mutter erinnert sich an einen Vortrag, den sie gehört hat: "Wann war dieser Vortrag des pensionierten Geschichtslehrers? (...) Sechsundachtzig, im November. Ich war gerade in Rente gegangen."

Hier bin ich mir nicht sicher: Hat sie versucht, 1948 nach Holland zu gehen und wurde nicht gewollt, oder ging sie nicht, weil niemand sie gewollt hätte?
Sie ging nach Holland, um Gerrits Familie zu suchen, aber niemand half ihr ("Ich kam ... nach Den Bosch". Hätte sie nur die Absicht gehabt, ohne es umzusetzen, müsste der Konjunktiv Irrealis stehen (z.B.: "48 hätte niemand in Holland einem Moffenmädchen geholfen", "ich hätte nicht einmal seine Asche nach Den Bosch gebracht").

auch wenn Du die für die Protagonistin angenehmere, ja beruhigendere Variante gewählt hast
Das bezweifle ich, wenn ich überlege, mit welchen Lügen Johanna leben musste. Mit einem ranghohen Nazi wäre die Geschichte wahrscheinlich nicht so zustande gekommen, denn Johanna hätte die Beziehung niemals verheimlichen müssen, sondern hätte sich noch damit brüsten können, zumindest bis 45. Und danach sicher auch, zumindest unter der Hand. Eine militärische Niederlage generiert ja nicht automatisch einen Gesinnugnswandel in der Bevölkerung.
Das hätte schon ein Kaliber wie Mengele oder Göth sein müssen, dass die Familie einen Mantel des Schweigens drüber breitet.

Danke fürs Lesen und Kommentieren,

Pardus

 

Hallo Pardus

Drei Mal schon saß ich am Bett eines sterbenden Mensche. Meine Mutter ist heute 80 und wenn sie zu erzählen beginnt - es sind Fetzen, sie setzen voraus, dass Du ihren Background hast, aber das macht nichts. Wenn ich mich darauf einlasse, kann ich eine Welt sehen, die längst Geschichte ist. Eine Reise unter die Haut, in eine Dunkelheit, in der ein dünner Strahl einer Taschenlampe Fragmente an die Oberfläche zerrt. Aufregend, spannend und voller Tragik. Was mich auch versöhnlich stimmt, denn alles Leid wird irgendwann getilgt, vergeben, vergessen und war doch so prägend für das eine Leben dieses einen Menschen. Es ist so phantastisch.
Deine Geschichte hat so viel Tiefe, in jedem Satz steckt eine Geschichte für sich, die sich nach dem Lesen in meinem Kopf entfaltet und wie eine Sepia durchsichtige Bilder übereinander schiebt. Stumm. Nur das Rascheln der trockenen Hände in dem Zimmer der Alten. Stumme Bilder. Lebendige Bilder aus einer anderen Zeit. Du siehst, ich schwärme. Weil diese Art, die Vergangenheit heraufzubeschwören, ausstirbt.
Mal schau´n, ob noch mehr solcher Geschichten von Dir auf ihre Entdeckung warten. Sehr gerne gelesen.
Liebe Grüße
Detlev

 

Salve Detlev,

was soll ich noch sagen? Danke fürs Lob - schön, dass diese Geschichte gerade wegen ihrer eigenwilligen Art Anklang gefunden hat.

LG, Pardus

 

Salü Pardus,

da habe ich eine sehr kraftvolle Geschichte übersehen, bei der ich mich sicher nicht über Inhalt und Form beklagt hätte, wenn ich ihr früher begegnet wäre :)

'Torf stechen', 'Leichen finden', sind für mich wie Synonyme für eine Zeit, in der ich im Schweigen der Erwachsenen aufwuchs. Es wurde geschwiegen, verschwiegen, zum Schweigen aufgefordert, im Schweigen verheimlicht. Damals wurde nicht diskutiert, debattiert, informiert. Keiner breitete seine Geschichten aus. Man erwähnte allenfalls mit sparsamen Wortbrocken selbsterlebte Vorfälle und schon legte sich wieder das Schweigen darüber.

Du hast mir diese Zeit mit Deiner sorgfältig sparsamen Sprache wieder lebhaft in Erinnerung gerufen. Mag sein, das heute Deine Geschichte wie ein 'Knochen ohne Fleisch' daherkommt. Für mich ist da sehr viel selbsterlebtes Fleisch dran. Es liest ja immer auch die eigene Erfahrung mit und die hast Du bei mir voll getroffen. Danke dafür!

Lieben Gruss,
Gisanne

 

Salve Gisanne,

danke für das Lob.
Wenn ich die Kommentare rekapituliere, scheint die Geschichte tatsächlich bei den Lesern am Besten anzukommen, bei denen sie ein eigenes Erleben triggert.

Es ist schon erstaunlich, auf welche Geschichten man stößt, wenn man tiefer gräbt, und in das Schweigen hineinhört. Und dass diese Geschichten auf irgendeine Weise noch das Leben von späteren Genrationen beeinflussen.

Wenn Dir als "Betroffener" die Schilderung plausibel und verständlich erscheint, freut mich das umso mehr.

Gruß, Pardus

 

Hallo Pardus,

Die Geschichte hat mich beeindruckt, schön geschrieben und das Thema spricht mich sehr an.

Ja, das ist mir jetzt fast peinlich, denn Du gibst ja zwei - eigentlich klare - Hinweise auf das Geschlecht des Erzählers (Name und das mit dem Organ), aber ich muss Dir gestehen, dass ich beim ersten Mal lesen, bis fast zum Schluss hin geglaubt habe, der Erzähler sei ein Mann, zumindest teilweise - mit Erzählerwechsel - (hab mich noch gewundert über den "seltsamen Frauennamen" und die Beschreibung des Organs), und stand dadurch natürlich ordentlich neben den Schuhen. Ich glaube, es war die Ausdrucksweise, z. B. "Für dich eine saubere Kugel ins Genick, die zweite in den Rücken, schwäbische Gründlichkeit, wäre nicht mehr nötig gewesen", was mich an einen Mann als Erzähler denken liess, irgendwas war's und es war gleich am Anfang. Die Sprache klingt mir nicht nach Frau, vor allem nicht dieser Generation. Vielleich war’s auch nur ich, aber ich habe schon mal so ein ähnliches Kommentar unter einer Deiner Geschichten gelesen (die mit dem vergewaltigten Mädchen) und Deine Frage danach, darum lass ich Dich’s wissen.

Wie sie ihre Gebärmutter und/oder Vagina beschreibt, finde ich übrigens auch nach der Erleuchtung noch ziemlich schräg und ebenso das mit dem Stuhl absetzen. Zu kompliziert ausgedrückt für meinen Geschmack.

Was ich auch nach zweitem Lesen nicht verstand ist, warum sie ihn erschossen, und ich habe auch nur aus den Kommentaren verstanden, dass sie tatsächlich nach Holland fuhr.

Abgesehen davon, ein Genuss zu lesen.

Liebe Grüsse

Elisabeth

 

Hallo Elisabeth,

yours' Komm, dass die Erzählstimme in "Tut das weh?" nicht nach einer Frau klinge, bezog sich auf die erste, längst nicht mehr existente Version.

Klar, die "saubere Kugel" klingt nach Männersprache - allerdings denke ich, das Organ ist Hinweis genug auf das Geschlecht der Prota. Und wer weiß, in welchem Umfeld die Prota groß geworden ist.

Dank meines Berufs höre ich viele alte Damen reden - proletenhaft, gewählt, gebildet, geschraubt. Es gibt keine "Tonlage" die man nicht findet.

Dass die Prota nach Holland fuhr, steht klar im Text: "Ich kam ... nach Den Bosch."
Vielleicht schreibe ich zu konzentriert, wenn ich einen wichtigen Hinweis nur einmal in einem Kurzsatz mitteile. Da muss ich noch einen Weg für mich finden, denn eigentlich mag ich verdichtete Texte, und fand, zu diesem Setting, wenige Tage vor dem Tod der Prota, passt es auch ganz gut. Alles wird reduziert, konzentriert sich auf das WEsentliche.
Natürlich muss ich aufpassen, den Leser dabei nicht zu verlieren, da hast Du recht.

Und warum Gerrit erschossen wurde? Da habe ich auf die Allgemeinblidung der Leser vertraut. Todesmärsche vielleicht. Fluchtversuch. Kollektivstrafe für das Vergehen eines anderen. Es gibt viele unschöne Möglichkeiten, und die Prota wird wohl selbst nie die Wahrheit erfahren haben.

LG und gute Zeit,
Pardus

 

Hi Pardus,

eine schöne, stille und traurige Geschichte. Eine Mutter die am Sterbebett nochmal in die Vergangenheit eintaucht und der Tochter ein paar geschuldete Brocken mitbringt und übergibt.

Die kurzen Sätze und die leise Erzählart haben mir sehr gefallen.

Besonders angetan hat es mir dieser Satz:

Meine Welt ist klein geworden, ein Zimmer, ein Fenster mit Blick auf den Zoo, eine Matratze, was darüber hinausgeht, bringst du in Worten mit.

Jetzt muß ich erst mal wieder in Humor rumstöbern um meine Gedanken aufzuhellen! :)

Sehr gern gelesen.

Liebe Grüsse
GR

 

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