- Beitritt
- 12.10.2005
- Beiträge
- 586
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Toscana
Toscana
Wir leben hoch in unserem Niedergang
Ich nahm den Kieselstein in die Hand und spürte die spitzen Ecken. Ohne weiter nachzudenken warf ich ihn gegen das Fenster im zweiten Stock. Wie jedes Mal, wenn ich das tat, hatte ich Angst, er wäre zu schwer oder zu fest geworfen. Ihre Eltern konnten streng sein, eine zerbrochene Scheibe würden sie mit Hausverbot strafen.
Nur zu gut erinnerte ich mich in diesem Moment, wie ihre Mutter mich einmal vor die Haustür gezerrt hatte. Sie hatte mich angeschrieen und ich hatte nicht einmal den Grund dafür gewußt.
Auch diesmal hatte ich nicht zu fest geworfen. Der Stein prallte von der Scheibe und fiel schließlich ins darunterliegende Gebüsch. Ich sah nach oben und wartete, dass etwas passiert. Erst ein Geräusch, dann wurde der Raum hinter dem Fenster hell. Das Licht, welches die Dunkelheit der Nacht erhellte, sah für mich kurz aus wie ein Tor zu einer anderen Welt. Das Fenster wurde geöffnet und ich sah Natalie herausschauen.
Sie erkannte mich sofort und schmunzelte.
„Hey Jan?"
„Kann ich hochkommen?", fragte ich.
Mit einer Hand strich ich mir durchs Haar. Ich hatte schlecht geträumt, bis ich vor einer Stunde mit einem Mal aufrecht in meinem Bett saß. Minuten hatte ich gebraucht, um zu registrieren, dass ich aufgewacht war. Schweiß klebte mir in den Haaren.
„Warte eben, ich komm nach unten. Muß mir nur eben was anziehen, wenn du verstehst", flüsterte sie und verschwand wieder vom Fenstersims.
Ich blickte an mir herab. Für die Jahreszeit war ich mit einem Tshirt und der Jeans völlig unpassend angezogen und fror.
Ich ging zum Hintereingang. Sie stand schon unter dem offenen Türbogen und sah mich grinsend an. Ihre Haare hingen ungekämmt im Gesicht und sie hatte sich schnell einen Trainigsanzug angezogen. Früher hätte es ihr nichts ausgemacht, mich im Schlafanzug zu empfangen und wäre barfuß mit mir nach draußen gegangen, hätte sich mit mir ins Gras gesetzt, ihre Bettdecke um die Schultern.
„Na, komm rein", sagte sie. „Ist ja lustig, dass du dich das nochmal traust. Ich war echt ganz schön erschrocken, als es plötzlich an mein Fenster geklopft hat. Wie lange hast du das jetzt schon nicht mehr gemacht?"
In ihrem Gesicht war dieses herrliche Schmunzeln zu sehen. Sie amüsierte sich darüber, dass ich noch immer nachts zu ihr kam, genauso wie ich es mit sieben getan hatte.
„Mit vierzehn oder fünfzehn. Auf jeden Fall ist es schon was her."
„Ich fands nur echt erschreckend. Aber bist ja nur du."
Ja, nur ich, dachte ich und atmete tief ein. Ich folgte ihr durch das Wohnzimmer. Es sah alles so aus, wie bei meinem letzten Besuch, bis auf die Tatsachen, dass in Natalies Fotorahmen neue Bilder waren.
Neben den Bildern aus ihrer Kindheit konnte man jetzt sehen, wie sie zu einer Frau herangewachsen war. Auf dem letzten Bild, wo sie ihren achtzehnten Geburtag feierte, war sie engumschlungen mit ihrem Exfreund zu sehen. Sie strahlte wie eine Sonnenblume. Auf einem der kleinen Fotos war ich zu sehen. Ein kleiner, lebensfreudiger Junge, der Natalie einen Kuss auf die Wange zum Geburtstag gibt.
„Keine Sentimentalitäten und pass auf mit den Stufen", flüsterte sie in meine Richtung.
Wenn ich an Natalie denke, dann verbinde ich meistens zwei Dinge mit ihr. Wir gingen in den gleichen Kindergarten, in die selbe Grundschule und später auf das gleiche Gymnasium. Fast immer saßen wir nebeneinander. Trotzdem fällt mir als erstes immer ihr Schmunzeln ein, dass sich so schnell in ein Lachen verwandeln konnte. Ihre rötlichen Sommersprossen waren in den Jahren verschwunden, die Zöpfe waren langem blonden Haar gewichen. Aber der Sonnenschein wollte nicht aus ihrem Gesicht weichen, als wäre er ihr angeboren.
„Am Tag deiner Geburt muß die Sonne nur für dich getrahlt haben", schrieb ich ihr einmal in ihr Poesiealbum, als sie es ausversehen auf ihrer Schulbank hatte liegen lassen. Sie sprach mich nie darauf an.
Ich weiß nicht, ob sie je in mich verliebt gewesen war, ich war es nie. Irgendwann begann ich, sie anders als vorher anzusehen und anzufassen. Wie früher Fußballspielen war nicht mehr möglich. Immer hatte ich Angst, sie an Stellen zu berühren, an denen ich sie nicht berühren darf. Dennoch war ich glücklich mit meiner Rolle als falscher Zwillingsbruder. Bis zu diesem Abend vielleicht, an dem ich begriff, dass wir nie Geschwister sein würden.
„Dann leg mal los. Was gibt’s? Du hast eh Glück, dass ich nicht geschlafen habe, sonst hättest du mich nie im Leben wachbekommen."
Ich überlegte einen Moment, wie ich es sagen sollte. Die Stille im Haus war regelrecht spürbar, als würde sie mit ihrer Hand an meine Schulter tippen. Ich schloss kurz meine Augen.
„Es ist... wegen der Toscana. Laß uns abhauen!"
In warmen Sommennächten saßen wir beide manchmal im Gras und redeten darüber, was wir später einmal machen wollten.
„Ich werde Staatsanwalt", sagte ich dann zu ihr. „Reich werden, einen Porsche fahren, Verbrecher hinter Gitter bringen."
„Eine Art Supermann?"
„Ja, aber im schwarzen Anzug und weißer Kravatte", kicherte ich. „Und du?"
„Weiß nicht, vielleicht Tierärztin. Mal sehen, was so kommt."
„Mein Vater meint, man sollte schon so früh wie möglich wissen, was mal will, damit man schneller auf seine Ziele hinarbeiten kann."
„Ach, du und dein Vater habt mir nix zu sagen", antwortete sie. Mit dem Ellenbogen schlug ich sie gegen die Schulter.
„Alle Mädchen wollen Ärztin werden. Komm, du wirst doch noch eine Idee haben."
Natalie überlegte kurz und sah mich durchdringend an.
„Eigentlich ist mir egal, was ich später mache und wieviel Geld ich verdiene und was ich für ein Auto fahre", meinte sie dann immer. „Hauptsache ich werde glücklich."
Sie hielt wieder kurz inne, betrachtete die Sterne am Himmel, die leise rachelnden Bäume, das stumme Gras.
„Und wenn das alles nicht klappt, dann fahren wir beide, nach Italien zu meinem Onkel. Der hat ein Haus mitten in der Toscana, dass man nur auf einer Landstraße erreichen kann. Das nächste Dorf ist mehrere Kilometer entfernt und nur selten verirren sich Fremde in die Gegend. Man kann unendlich weit gucken und glaubt fast, das Mittelmeer in der Entfernung rauschen zu hören. Die Felder der Bauern reichen soweit das Auge reicht und der Duft der Kirschbäume macht einen schon alleine so gücklich, das man nie wieder gehen will."
Ich habe sie immer für ihren Onkel beneidet und tat doch nichts lieber, als ihr zuzuhören, wenn sie von der Toscana redete.
„Und ist das Glück?"
„Ja, wenn du morgens aufwachst und das erste, was du sieht, wenn du das Fenster öffnest, diese herrliche Landschaft ist, dann muß man einfach glücklich sein."
Wie wir damals nachts auf dem warmen Gras lagen, waren Träume noch etwas schönes, etwas, für das es sich lohnte, die Wirklichkeit zu verlassen.
„Toscana?"
Natalie sah mich lange und seltsam an. Sie schien überrascht, dieses Wort zu hören, ganz so, als würde es gar nicht in ihrem Wortschatz auftauchen.
„Zu deinem Onkel", sagte ich leise aber bestimmt. „Laß uns abhauen, bevor es zu spät ist."
Endlich schien sie zu verstehen. Plötzlich aber wirkten ihre Augen müde. Sie strich sich die langen Haare aus dem Gesicht.
„Achso, das meinst du."
Aus ihrem erst entsetzten Gesicht wurde ein Lächeln.
„Aber das meinst du doch jetzt nicht ernst, oder?", sagte sie.
Ich nickte nur.
„Ich hab geträumt, das wir unser Glück hier nicht finden werden, Natalie. Bitte, laß uns gehen. Wenn wir jetzt losfahren, sind wir sicher schon mittags über der Grenze. Ich hab um die Ecke geparkt. Meine Mutter wird ihr Auto erst heute abend vermissen. Sie wird denken, dass ich damit zur Schule gefahren bin. Und noch später als das Auto werden meine Eltern mich vermissen. Jede Sekunde, die wir hier verbringen, ist verlorene Zeit."
Aber Natalie schien nicht so erfreut, als ich ihr von meinem Plan erzählte.
„Das kannst du doch nicht machen!"
Ich zitterte ein wenig und blieb stumm. Plötzlich wirkte Natalie so erwachsen, so gar nicht mehr, wie der Mensch, der mir lebhaft von Italien erzählt hatte.
„Nein, alleine kann ich das nicht. Aber wir, du und ich, zusammen schaffen wir das. Nimm soviel mit, wie du brauchst. Ich werde nichts brauchen. Hier gibt es nichts mehr, das mich hällt. Laß uns einfach gehen!"
Meine Stimme muß mitleiderregend geklungen haben. Auf einmal spürte ich ihre Hand auf meinen Schultern und sie etwas Unverständliches flüstern. Ihr Atem stirch mir um den Hals.
„Bitte, Natalie, ich halt es echt nicht mehr aus. Ich habe geträumt, das alles so bleiben wird, wie es ist und ich bin mir sicher, dass es so werden wird. Denk doch nur an die Kirschbäume."
Ich glaubte, ein kurzes Blitzen in ihren Augen zu sehen. Sie versuchte etwas zu sagen, dann stand sie plötzlich auf und ging zu ihrem Kleiderschrank.
„Okay, lass uns fahren!"
Ich half ihr dabei, ein paar Klamotten und die wichtigsten Utensilien einzupacken. Für das meiste war schon gesorgt. Geld hatte ich aus dem Portmonai meines Vaters genommen. Nicht viel, aber sicher genug, dass es ihm auffallen würde. Ein wenig Essen und Trinken hatte ich auch im Kofferraum verstaut. Für die Fahrt nach Italien würde es sicher reichen.
„Und du bist dir auch sicher, dass du den Weg finden wirst?"; sagte ich zu Natalie.
„Ich denke schon, zur Not fragen wir, ich kenne ja noch den Namen des Dorfes, das da in der Nähe ist."
„Sieh nur, ich hab für alles gesorgt. Sogar Schokolade hab ich für dich eingepackt. Vorausgesetzt, du bist grade nicht wieder auf einer deiner Diäten."
Sie lachte leise über den Scherz. Das Auto stand unter einer Straßenlampe im Glanze des Lichtes. Irgendwo in den Bäumen glaubte ich einen Vogel sein frühes Morgenlied singen zu hören. Am Horinzont sah ich das Grau des Tages über die Nacht siegen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es schon fast vier Uhr war. Nicht mehr lange und das Leben würde hier wieder erwachen. Aber ohne uns, dachte ich, sah Natalie an und öffnete die Tür.
„Du ahnst nicht, wie sehr ich mich auf die Toscana freue. Denk nur, wie nahe wir am Mittelmeer leben werden, wie die Sonne auf uns scheinen wird", sagte ich und startete den Motor. „Wir werden mit dem Fahrrad lange Touren machen und glücklich sein."
Natalie nickte. Sie legte eine Kassette in das alte Autoradio. Langsam wurde die Musik lauter wie ein Bild das an Klarheit gewinnt. Dann fuhr ich los.
„Jan, halt mal an."
Ich blickte zu ihr nach rechts über die Schulter. Etwas war mit ihrem Gesicht passierte. Es brauchte lange, bis ich es begriff, was sich verändert hatte. Sie schmunzelte nicht mehr.
„Halt sofort an!"
Im Nachhinein wünschte ich mir, dass ich einfach weitergefahren wäre. Immer weiter, bis es keine Stopschilder mehr gibt, bis uns niemand mehr einholen kann. Aber mein Fuß gehorchte ihrem Befehl und trat auf die Bremse. Mitten auf der Straße standen wir da, nur die leise Musik aus den Boxen schien dem ganzen Wirklichkeit zu geben.
„Jan, wir können nicht weg. Es gibt keinen Onkel und es gibt auch kein Haus in der Toscana. Meine Güte, du bist achtzehn Jahre alt, du bist erwachsen. Das waren doch nur Kinderträumereien. In der dritten Klasse, da sollten wir doch mal ein Referat über schöne Landschaften machen. Ich habe mich in die Bilder von damals einfach verliebt."
Plötzlich hörte ich nicht einmal mehr die Musik. Ich blickte nach vorne aus der Windschutzscheibe, eine Katze raste über die Straße.
„Oh Jan, es tut mir so leid", hörte ich sie reden, aber es war viel mehr, als würde jemand aus einer tiefen Schlucht zu mir heraufrufen und nicht, als würde sie neben mir sitzen. „Ich gehe jetzt, okay?"
„Okay", sagte ich.
Ich sah nicht nach rechts, als sie die Tür öffnete. Das Klacken des Schließen tat aber plötzlich unendlich weh und hämmerte sich in meinen Kopf ein wie die Schüsse eines Maschinengewehres. Im Spiegel konnte ich sie noch am Auto vorbeigehen sehen, bis sie zwischen den Bäumen der Allee verschwand.
Irgendwann trat ich wieder aufs Gaspedal und fuhr nach Hause, legte mich in mein Bett und wartete, dass es hell wurde.
Marburg, 26.7.2005