Toter Hund
Etwas lag im Gleisbett. Kein Mensch, der alte Hübner sah es sofort: ein Mensch war es nicht. Eher ein Fuchs. Oder ein Wolf. Aber woher sollten hier Wölfe kommen? Noch nie gab es in dieser Gegend Wölfe, nicht, solange der alte Hübner sich erinnern konnte.
Es war ein Hund. Ein schönes Tier, ein Schäferhund. Das Blut an seinem Kopf und seinen Pfoten war schon geronnen. Der Kadaver musste weg, herunter von den Schienen. Am besten wäre es, er würde ihn vergraben. Aber womit? Er hatte keine Schaufel dabei.
Er machte sich auf den Weg zurück, nach Hause. Er kam mit einer Schaufel zurück, er hatte sie sich vom Nachbarn geliehen, aber nicht gesagt, wofür er sie brauchte. Der hätte sie ihm nicht geliehen, nicht für einen toten Hund. Alma, seine Frau, hatte er nicht am Fenster gesehen, und vor die Tür war sie auch nicht getreten. Vor Alma musste er sich vorsehen, sie hätte ihn gefragt, warum er von seinem Spaziergang schon zurück sei, so früh am Vormittag, und er hätte vielleicht nicht gewusst, was antworten, und sich verraten.
Ein paar Züge waren inzwischen durchgefahren, der Hund aber lag so, dass ihn die Räder nicht erfassen konnten, mitten auf dem Gleisbett, wie der alte Hübner ihn verlassen hatte.
Er grub ein Stück seitwärts von den Schienen, da, wo bald wieder Gras drüber wachsen würde. Die Grube war jetzt tief genug. Er griff mit beiden Händen zu, an den Vorder- und den Hinterpfoten. Das Tier war schwer, er musste alle Kraft einsetzen, es von den Schienen herunterzuziehen. Es musste schon lange tot sein, viele Stunden, die Erstarrung hatte schon eingesetzt.
Das Tier fiel in die Grube, es lag auf dem Rücken und streckte alle Viere himmelwärts.
Als er mit dem Zuschütten fertig war, musste er einen Moment verschnaufen. Er setzte sich ins Gras. Es war Sommer, Juli, und rings summten Insekten, ein Greifvogel, der alte Hübner konnte nicht erkennen, was für einer, er flog zu hoch, stieß einen piepsenden Schrei aus. Schon immer hatte er sich gewundert, dass Greifvögel eine so kleine Stimme hatten. Sie sollten aus tiefer Brust, angsteinflößend schreien, das waren sie ihren Opfern schuldig, dachte der alte Hübner.
Er erhob sich. Noch hatte er erst die halbe Strecke abgegangen, bis Mörickendorf, wo er immer umkehrte, war es weit. Mittags wollte er zu Hause sein, seine Frau, die Alma, würde sonst misstrauisch fragen, wo er gewesen sei die lange Zeit. Sie war noch immer eifersüchtig, das hatte sie sich in den langen Jahren der Ehe nicht abgewöhnen können.
Wenn er ihr die Wahrheit sagte, so und so, er sei die Strecke abgegangen, würde sie ihn auslachen. Du alter Dickschädel, würde sie sagen, du bist mit deinen Schienen verheiratet, du hast nicht begriffen, dass du ausgemustert bist, dass jetzt andere deine Arbeit übernommen haben. Die Bahn braucht dich nicht mehr, du Trottel. Ja, das würde sie sagen.
Er machte große Schritte, von Schwelle zu Schwelle. Manchmal aber trat er daneben. Der Schotter knirschte dann unter dem Fuß.
Er kannte die Strecke, jeden einzelnen Meter. Hier, an Kilometer 5,8, war er damals gestürzt. Er hatte sich von den Schienen herunterrobben müssen. Die Wahrheit war, sie hatten ihn nicht vermisst und ihn gar nicht gesucht. Und als er sich dann krankmeldete, hatte ihn niemand zu Hause besucht. Wer besucht schon einen Streckenwärter, der kaum Kontakt zu den anderen hatte, den man nur vom Sehen kannte oder bestenfalls seinen Namen.
Ein ganzes Leben lang bei der Bahn. Der alte Hübner konnte sich nicht erinnern, dass er in den letzten Jahren noch ein paar Kollegen wiedergesehen hätte, vom Anfang, damals, als er Lehrling gewesen war, in den dreißiger Jahren. Damals fuhren noch mehr Züge als heute. Aber damals war er noch nicht Streckenwärter gewesen, er hatte selbst Züge gefahren. Kleine Züge, Regionalzüge, aber immerhin. Aufpassen musste er genauso, als ob er D-Züge gefahren wäre. Und als dann die ersten Züge mit den vergitterten Fenstern fuhren, aus denen sich nackte Hände streckten und Geschrei zu hören war, hatte er sich nichts dabei gedacht. Später, nach dem Krieg, schrieben die Zeitungen, das seien Züge aus dem nahen KZ gewesen. Und die Bahn habe sich mitschuldig gemacht. Und alle Bahnmitarbeiter, fügte der damals noch nicht alte Hübner hinzu. Alma hatte sich an den Kopf gefasst: Du doch nicht. Aber er hatte gewusst: Auch er.
In den Krieg hatte er nicht gemusst, er war unabkömmlich gewesen. Das war sein Glück. Erkauft mit den KZ-Zügen, und er wusste es damals nicht. Manche Kollegen hatten etwas gemunkelt, sehr leise, aber er hatte sich nie dafür interessiert. Er war stolz darauf, ein guter Arbeiter zu sein, mehr wollte er nicht, Politik verdarb bloß den Charakter.
Der Bahnhof von Mörickendorf kam in Sicht. Der Zug nach Berlin müsste in zwei Minuten einfahren, er musste herunter von der Schiene. Wenn der Zug durch war, würde er zurücklaufen, die ganze Strecke, bis nach Hause.
Vielleicht, überlegte der alte Hübner, sollte er dem Hund ein Kreuz spendieren. Einfach Zweige zusammenbinden und in die Erde stecken. Dass einer, der zufällig vorbeikäme, sofort wüsste, hier liegt was begraben, kein Kaninchen, nein, ein Hund. Vielleicht würde er einen Moment stillstehen, das Kreuz sehen und an seinen eigenen Hund denken. Wo lassen die Leute heute eigentlich ihre toten Hunde? Er hatte etwas von der Tierkadaverbeseitigungsanlage in der Stadt gehört. Was war das? Sicher ein Riesenofen, und dort wurden die toten Tiere zusammen mit dem Hausmüll verbrannt.
Der Zug nach Berlin war durch. Der alte Hübner machte sich wieder auf den Weg, Schritt für Schritt, Schwelle für Schwelle.
Der kleine Hügel hatte sich nicht verändert, der Sand war aber schon ein bisschen ausgetrocknet.
Er bückte sich, hob ein paar Zweige auf, nicht so dünne, sie mussten schon etwas dicker sein, damit der Wind das kleine Kreuz nicht umwehen würde. Es musste tief in den Boden hineingesteckt werden. Er suchte in der Hosentasche nach Bindfaden, er hatte immer welchen bei. Nicht nur Bindfaden, auch eine Nagelschere, zwei Sicherheitsnadeln, ein Taschenmesser, drei lange und drei kurze Nägel. Für den Fall aller Fälle. Er band die beiden Zweige zusammen, über Kreuz, rammte das Kreuz in den Sand und trat es mit den Füßen fest.
Er besah sich sein Werk. Kein Wind der Welt würde das Kreuz umpusten können. Er stand noch ein Weilchen, dann kletterte er wieder hoch auf das Gleisbett, setzte sich in Bewegung, Schritt für Schritt und Schwelle für Schwelle.
Wenn nur Alma nicht fragte, warum sein Spaziergang heute länger gedauert hatte als sonst. Er habe einen Umweg gemacht, würde er sagen. Einen kleinen Umweg, noch nach dem Garten geschaut. Dort sei alles pikobello gewesen, das würde er sagen.
Ein paarmal blickte er sich um, so lange, bis er den Hügel mit dem Kreuz nicht mehr sah. Die Schienen lagen blitzblank vor ihm, mit dem Schotter war auch alles in Ordnung. Der nächste Zug konnte kommen.