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Toter Hund

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12.12.2006
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Toter Hund

Etwas lag im Gleisbett. Kein Mensch, der alte Hübner sah es sofort: ein Mensch war es nicht. Eher ein Fuchs. Oder ein Wolf. Aber woher sollten hier Wölfe kommen? Noch nie gab es in dieser Gegend Wölfe, nicht, solange der alte Hübner sich erinnern konnte.

Es war ein Hund. Ein schönes Tier, ein Schäferhund. Das Blut an seinem Kopf und seinen Pfoten war schon geronnen. Der Kadaver musste weg, herunter von den Schienen. Am besten wäre es, er würde ihn vergraben. Aber womit? Er hatte keine Schaufel dabei.

Er machte sich auf den Weg zurück, nach Hause. Er kam mit einer Schaufel zurück, er hatte sie sich vom Nachbarn geliehen, aber nicht gesagt, wofür er sie brauchte. Der hätte sie ihm nicht geliehen, nicht für einen toten Hund. Alma, seine Frau, hatte er nicht am Fenster gesehen, und vor die Tür war sie auch nicht getreten. Vor Alma musste er sich vorsehen, sie hätte ihn gefragt, warum er von seinem Spaziergang schon zurück sei, so früh am Vormittag, und er hätte vielleicht nicht gewusst, was antworten, und sich verraten.

Ein paar Züge waren inzwischen durchgefahren, der Hund aber lag so, dass ihn die Räder nicht erfassen konnten, mitten auf dem Gleisbett, wie der alte Hübner ihn verlassen hatte.

Er grub ein Stück seitwärts von den Schienen, da, wo bald wieder Gras drüber wachsen würde. Die Grube war jetzt tief genug. Er griff mit beiden Händen zu, an den Vorder- und den Hinterpfoten. Das Tier war schwer, er musste alle Kraft einsetzen, es von den Schienen herunterzuziehen. Es musste schon lange tot sein, viele Stunden, die Erstarrung hatte schon eingesetzt.

Das Tier fiel in die Grube, es lag auf dem Rücken und streckte alle Viere himmelwärts.

Als er mit dem Zuschütten fertig war, musste er einen Moment verschnaufen. Er setzte sich ins Gras. Es war Sommer, Juli, und rings summten Insekten, ein Greifvogel, der alte Hübner konnte nicht erkennen, was für einer, er flog zu hoch, stieß einen piepsenden Schrei aus. Schon immer hatte er sich gewundert, dass Greifvögel eine so kleine Stimme hatten. Sie sollten aus tiefer Brust, angsteinflößend schreien, das waren sie ihren Opfern schuldig, dachte der alte Hübner.

Er erhob sich. Noch hatte er erst die halbe Strecke abgegangen, bis Mörickendorf, wo er immer umkehrte, war es weit. Mittags wollte er zu Hause sein, seine Frau, die Alma, würde sonst misstrauisch fragen, wo er gewesen sei die lange Zeit. Sie war noch immer eifersüchtig, das hatte sie sich in den langen Jahren der Ehe nicht abgewöhnen können.

Wenn er ihr die Wahrheit sagte, so und so, er sei die Strecke abgegangen, würde sie ihn auslachen. Du alter Dickschädel, würde sie sagen, du bist mit deinen Schienen verheiratet, du hast nicht begriffen, dass du ausgemustert bist, dass jetzt andere deine Arbeit übernommen haben. Die Bahn braucht dich nicht mehr, du Trottel. Ja, das würde sie sagen.

Er machte große Schritte, von Schwelle zu Schwelle. Manchmal aber trat er daneben. Der Schotter knirschte dann unter dem Fuß.

Er kannte die Strecke, jeden einzelnen Meter. Hier, an Kilometer 5,8, war er damals gestürzt. Er hatte sich von den Schienen herunterrobben müssen. Die Wahrheit war, sie hatten ihn nicht vermisst und ihn gar nicht gesucht. Und als er sich dann krankmeldete, hatte ihn niemand zu Hause besucht. Wer besucht schon einen Streckenwärter, der kaum Kontakt zu den anderen hatte, den man nur vom Sehen kannte oder bestenfalls seinen Namen.

Ein ganzes Leben lang bei der Bahn. Der alte Hübner konnte sich nicht erinnern, dass er in den letzten Jahren noch ein paar Kollegen wiedergesehen hätte, vom Anfang, damals, als er Lehrling gewesen war, in den dreißiger Jahren. Damals fuhren noch mehr Züge als heute. Aber damals war er noch nicht Streckenwärter gewesen, er hatte selbst Züge gefahren. Kleine Züge, Regionalzüge, aber immerhin. Aufpassen musste er genauso, als ob er D-Züge gefahren wäre. Und als dann die ersten Züge mit den vergitterten Fenstern fuhren, aus denen sich nackte Hände streckten und Geschrei zu hören war, hatte er sich nichts dabei gedacht. Später, nach dem Krieg, schrieben die Zeitungen, das seien Züge aus dem nahen KZ gewesen. Und die Bahn habe sich mitschuldig gemacht. Und alle Bahnmitarbeiter, fügte der damals noch nicht alte Hübner hinzu. Alma hatte sich an den Kopf gefasst: Du doch nicht. Aber er hatte gewusst: Auch er.

In den Krieg hatte er nicht gemusst, er war unabkömmlich gewesen. Das war sein Glück. Erkauft mit den KZ-Zügen, und er wusste es damals nicht. Manche Kollegen hatten etwas gemunkelt, sehr leise, aber er hatte sich nie dafür interessiert. Er war stolz darauf, ein guter Arbeiter zu sein, mehr wollte er nicht, Politik verdarb bloß den Charakter.

Der Bahnhof von Mörickendorf kam in Sicht. Der Zug nach Berlin müsste in zwei Minuten einfahren, er musste herunter von der Schiene. Wenn der Zug durch war, würde er zurücklaufen, die ganze Strecke, bis nach Hause.

Vielleicht, überlegte der alte Hübner, sollte er dem Hund ein Kreuz spendieren. Einfach Zweige zusammenbinden und in die Erde stecken. Dass einer, der zufällig vorbeikäme, sofort wüsste, hier liegt was begraben, kein Kaninchen, nein, ein Hund. Vielleicht würde er einen Moment stillstehen, das Kreuz sehen und an seinen eigenen Hund denken. Wo lassen die Leute heute eigentlich ihre toten Hunde? Er hatte etwas von der Tierkadaverbeseitigungsanlage in der Stadt gehört. Was war das? Sicher ein Riesenofen, und dort wurden die toten Tiere zusammen mit dem Hausmüll verbrannt.

Der Zug nach Berlin war durch. Der alte Hübner machte sich wieder auf den Weg, Schritt für Schritt, Schwelle für Schwelle.

Der kleine Hügel hatte sich nicht verändert, der Sand war aber schon ein bisschen ausgetrocknet.

Er bückte sich, hob ein paar Zweige auf, nicht so dünne, sie mussten schon etwas dicker sein, damit der Wind das kleine Kreuz nicht umwehen würde. Es musste tief in den Boden hineingesteckt werden. Er suchte in der Hosentasche nach Bindfaden, er hatte immer welchen bei. Nicht nur Bindfaden, auch eine Nagelschere, zwei Sicherheitsnadeln, ein Taschenmesser, drei lange und drei kurze Nägel. Für den Fall aller Fälle. Er band die beiden Zweige zusammen, über Kreuz, rammte das Kreuz in den Sand und trat es mit den Füßen fest.

Er besah sich sein Werk. Kein Wind der Welt würde das Kreuz umpusten können. Er stand noch ein Weilchen, dann kletterte er wieder hoch auf das Gleisbett, setzte sich in Bewegung, Schritt für Schritt und Schwelle für Schwelle.

Wenn nur Alma nicht fragte, warum sein Spaziergang heute länger gedauert hatte als sonst. Er habe einen Umweg gemacht, würde er sagen. Einen kleinen Umweg, noch nach dem Garten geschaut. Dort sei alles pikobello gewesen, das würde er sagen.

Ein paarmal blickte er sich um, so lange, bis er den Hügel mit dem Kreuz nicht mehr sah. Die Schienen lagen blitzblank vor ihm, mit dem Schotter war auch alles in Ordnung. Der nächste Zug konnte kommen.

 

Hallo Estrel,

tja der tote Hund ... Ich bin innerlich etwas gespalten. Sprachlich hast du dich in dieser Geschichte dem geschilderten Protagonisten auf intessante Weise angenähert, seine Gedanken und Gefühle auch irgendwie raffiniert so dargestellt, als würde er selbst erzählen. Das ist eigentlich gut gemacht, durchgängig über den gesamten Text hinweg. AUch die ins 3. Reich zurück zielende Anspielung ist interessant umgesetzt.

Und dennoch hat mich beim Lesen etwas gestört, das immer wieder kehrende Plusquamperfekt zum Beispiel. Auch der etwas monotone Satzaufbau mit seinen kurzen Sätzen, die alle mit "Er" beginnen.

So halte ich diese Geschichte für ein Beispiel von etwas, das mit vom Kopf her gefällt und ich aus dem Bauch heraus ablehne. Interessant.

LG,

N

 

Hallo Estrel

Etwas lag im Gleisbett. Kein Mensch, der alte Hübner sah es sofort: ein Mensch war es nicht.

Und ein Mensch war es natürlich auch nicht. :D Im Ernst, die Erkenntnis reicht auch in einfacher Ausführung.

Eher ein Fuchs. Oder ein Wolf. Aber woher sollten hier Wölfe kommen?

Weil die sich ja dermaßen ähnlich sehen. Mach lieber Hund oder Wolf draus, ist sonst unrealistisch. :schiel:

Er machte sich auf den Weg zurück, nach Hause. Er kam mit einer Schaufel zurück, er hatte sie sich vom Nachbarn geliehen, aber nicht gesagt, wofür er sie brauchte.

„Er macht... Er kam... er hatte" klingt einfach nicht schön. Und Wortwiederholung von „zurück".

er hatte sie sich vom Nachbarn geliehen, aber nicht gesagt, wofür er sie brauchte. Der hätte sie ihm nicht geliehen, nicht für einen toten Hund.

Wortwiederholung von „geliehen" (und hatte bzw. hätte)
Und ich frage mich was der Nachbar gegen tote Hunde hat?

Alma, seine Frau, hatte er nicht am Fenster gesehen, und vor die Tür war sie auch nicht getreten. Vor Alma musste er sich vorsehen, sie hätte ihn gefragt, warum er von seinem Spaziergang schon zurück sei, so früh am Vormittag, und er hätte vielleicht nicht gewusst, was antworten, und sich verraten.

Was ist den nun los? Er benimmt sich als hätte er jemanden abgemurkst - unverhältnismäßig.

Ein paar Züge waren inzwischen durchgefahren, der Hund aber lag so, dass ihn die Räder nicht erfassen konnten, mitten auf dem Gleisbett, wie der alte Hübner ihn verlassen hatte.

Also hat er ihn nicht mal von den Gleisen geschafft, bevor er die Schaufel holen ging? Sehr merkwürdig, der Kerl.

Sie sollten aus tiefer Brust, angsteinflößend schreien, das waren sie ihren Opfern schuldig, dachte der alte Hübner.

Und ausserdem sollten sie ihrer Beute vorher eine schriftliche Warnung zukommen lassen... Hä? :confused: Ich versteh den Gedanken einfach nicht.

Er machte große Schritte, von Schwelle zu Schwelle. Manchmal aber trat er daneben. Der Schotter knirschte dann unter dem Fuß.

Langsam wird mir echt langweilig, was soll diese Information? So was machst du häufiger und ich versteh nicht was es mir sagen soll. (da ich auch nicht glauben kann, dass du damit lediglich Atmosphäre aufbauen willst, sollte das aber der Fall sein: Bei mir klappts nicht)

Wer besucht schon einen Streckenwärter, der kaum Kontakt zu den anderen hatte, den man nur vom Sehen kannte oder bestenfalls seinen Namen.

Was hat er erwartet? Das sämtliche Bahngäste an sein Krankenbett kommen? Ich find deinen Prot immer unverständlicher.

Und als dann die ersten Züge mit den vergitterten Fenstern fuhren, aus denen sich nackte Hände streckten und Geschrei zu hören war, hatte er sich nichts dabei gedacht. Später, nach dem Krieg, schrieben die Zeitungen, das seien Züge aus dem nahen KZ gewesen.

Oh man, also derartige Parallelen hätte ich jetzt echt nicht erwartet. Falls deine Geschichte auf Schuldzusammenhänge bezüglich des Holocaust hinausläuft, bring (zumindest Andeutungen) in dieser Richtung früher in die Geschichte ein. Und jetzt mal echt: Bei den Gefangenen-Transporten hat er sich nichts gedacht, das kauf ich ihm nicht ab.

Aber er hatte gewusst: Auch er.

Na wenigstens ein bisschen Selbsterkenntnis.

Gegen Ende wird die Geschichte dann erheblich besser, weil einigermaßen verständlich und auf eine weitere Ebene projeziert. Wie schon gesagt, würde ich den Kz-Transporte-Aspekt viel früher (in Andeutungen) bringen, da es dem Leser erheblich hilft bestimmte Analogien und Verhaltensweisen bzw. Gedanken des Prots nachzuvollziehen.
Im großen und ganzen konnte mich die Sache aber nicht begeistern. Im wesentlichen fand ich es doch ziemlich langweilig und vom Tempo her zu träge.
Es gibt höchstens zwei drei interessante Aspekte, aber auch die nur in Andeutungen ausgebaut, hier hätte man deutlich mehr draus machen können.

Na ja, sorry das ich nicht viel positives dazu sagen konnte.

Gruß, Skalde.

 
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Lieber Skalde, es handelt sich um einen sehr alten Mann. Und da wundert es dich, dass er manches wiederholt, wie um sich selbst zu überzeugen, dass er die Sache richtig sieht? Kennst du alte Menschen? Die KZ-Sache vorher zu bringen, das würde sie zu sehr in den Mittelpunkt stellen, das ist von mir nicht beabsichtigt, es soll beiläufig geschehen. Was erzählt wird, ist die Geschichte von dem toten Hund: er wird aufgefunden und begraben. Alles andere ist Hintergrundinformation, innerer Monolog. Und noch ein toter Hund, ein Gleichnis: der alte Hübner. Er ist pensioniert, aber er kann das Streckengehen nicht lassen. Wenn dir das aufgefallen wäre, bliebe dir auch die Anfangsstelle nicht unerklärlich, nämlich dass er sich vor seiner Frau vorsehen muss, die ist damit nämlich gar nicht einverstanden, dass er immer noch Strecke geht. Du hast dir Mühe gemacht, den Text auseinanderzunehmen, dafür meinen Dank. Ich danke dir auch für den Hinweis auf zweimal zurück und geliehen. Ich gehe, ehrlich gesagt, etwas vorsichtiger an fremde Texte heran, es könnte sein, dass mir etwas entgangen ist und ich die Trommel schlage, wo ein leises Fagott zu hören sein sollte. Oder bist du dir da immer sicher?

Viele liebe Grüße
Estrel


Liebe Nicole, es freut mich, dass dir der Text zur Hälfte gefällt. Du bemängelst die vielen kurzen Sätze, die mit "er" beginnen - es sind genau zwei davon in diesem Text. Und das ist schon zuviel? Tja, das Plusquamperfekt. Ich muss es immer wieder anwenden, weil hier nicht eine Rückblende im ganzen gebracht wird, sondern es sind Gedankenfetzen, und zeitlich muss das natürlich vom Präteritum abgesetzt werden. Aber ich überprüfe den Text daraufhin noch einmal. Was dein Bauchgefühl angeht, da kann ich dir leider nicht helfen. Ich glaube, dass ich emotional genug geschrieben habe, bei diesem Text besteht ja die Hürde, dass man ins Sentimentale abgleitet. Darum auch immer wieder eingestreut rationale Überlegungen, innerer Monolog, damit eben genau dies nicht geschieht. Leider habe ich bisher zum Plot keine Äußerung erhalten, was ich schade finde. Es sind ja zwei Geschichten vom "toten Hund": die des Hundes und die des alten Hübner. Ist dir das aufgefallen? Hab meinen allerbesten Dank für die Beschäftigung mit meinem Text.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Hallo Estrel,

noch schnell ein paar Erklärungen nachgeschoben:

Du bemängelst die vielen kurzen Sätze, die mit "er" beginnen - es sind genau zwei davon in diesem Text

Er hatte keine Schaufel dabei

Er machte sich auf den Weg zurück

Er kam mit einer Schaufel zurück

er würde ihn vergraben

Er machte große Schritte

Er erhob sich

Er kannte die Strecke

und so weiter ...


Zum Plot. Da gehe ich irgendwie konform mit Skalde. Es passiert nicht wirklich viel. Die Geschichte ist sehr deskriptiv. Der Rückgriff auf die NS Zeit ist ein Nebenkriegsschauplatz.

Damit bleibt eigentlich nur: Alter Mann findet toten Hund, beerdigt ihn, stellt ein Kreuz auf, als handle es sich um einen Menschen. Erinnert damit etwas an "seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere."

Ich denke, das ist immer das Problem bei den eher ruhigen, beschreibenden Geschichten. Mir ist klar, dass du auch mit deinen Rückgriffen und inneren Monologen in erster Linie auf eine Personencharakterisierung zielst. Dann kommt aber sofort das "ja und?". Der Prot steht alleine, abgesehen von weit entfernten Randfiguren wie Alma oder den Kollegen. Man erkennt ihn als alt, mit der zugehörigen Gefühlswelt und dem drohenden Gespenst des Wertlosen. Alles das ist stimmig, aber relativ handlungsarm. (Ich weiß schon, wer im Glashaus sitzt ...)

Eine Identifikation des Prot selbst mit dem beerdigten Hund konnte ich beim ersten lesen nicht feststellen. Falls das deine Motivation war, bist du recht subtil vorgegangen.

Ich denke, das ist alles, was ich hierzu sagen kann. Vielleicht verstehst du ja nun, warum ich "bauchmäßig" nicht ganz warm geworden bin mit der Geschichte.

LG,

N

 

Liebe Nicole, diese Geschichte ist sehr gerafft, ich mag die ausschweifend wortreichen Erzählungen nicht so sehr, und deshalb werden meine Geschichten immer kurz sein, und es kommt auf jedes Wort an. Es gibt verschiedene Arten von Geschichten: die lauten, die auf Handlung basieren, das nennt man äußere Geschichten, und die leisen, die meist mit dem inneren Monolog arbeiten und innere Geschichten genannt werden. Dies ist eine Geschichte der zweiten Kategorie. Beide aber sind Kurzgeschichten. So jedenfalls habe ich es im Studium gelernt, und im wesentlichen halte ich mich auch daran. Gerade die leisen Geschichten arbeiten mit dem Hintergrund, und es ist keinesfalls so, dass die KZ-Sache nur ein Nebenschauplatz wäre, sondern sie dient einmal der Charakterisierung des Protagonisten, zum anderen auch des gesellschaftlichen Umfeldes - denn erst beides zusammen ergibt die Persönlichkeit. (Wie du vielleicht weißt, weigert sich die Mehdorn-Bahn, genau diesen Fakt anzuerkennen). Und dass Hübner ein sogenannter unpolitischer Mensch ist - das ist doch heute sehr weitverbreitet, insofern bin ich da beim Durchschnitt der Bevölkerung. Ich habe also das Typische angesprochen. In dieser Geschichte arbeite ich, wenn man so will, mit einem "Trick": Es wird nichts weiter gezeigt, als dass einer, der schon lange nicht mehr arbeiten muss, immer noch seine Arbeit macht, er hat sie geliebt und kann nicht von ihr lassen. Und bei dieser Arbeit findet er einen verunfallten Hund. Er begräbt ihn, nicht weil er, wie du schreibst, jetzt die Tiere mehr liebt als die Menschen, sondern weil sich das einfach so gehört: dass die Schienen frei sind und dass so etwas wie ein toter Hund in ein Grab gehört und nicht auf den Schindanger.
Zu deiner Überlegung gebe ich nirgends einen Hinweis. Du bemängelst, dass der Protagonist allein dasteht. Ja, Himmel, er ist tatsächlich allein, er tut etwas Heimliches, aber er hat einen Kopf und ein Erinnerungsvermögen, und da kreist so einiges, und wenn einer ganz allein ist, beschäftigt er sich mit sich selbst. Was du dir unter einer Kurzgeschichte vorstellst, ist folgendes (hältst es aber in deinem eigenen Text nicht ein): Handlung, Handlung, Handlung. Aber innerer Monolog ist auch Handlung, Dialog ist auch Handlung - denn sie führen die Handlung der Geschichte weiter. Hier ist also etwas entweder noch gar nicht bekannt oder falsch verstanden worden. Das wollte ich dir nur noch mal dazu sagen, und ich bin auch gern bereit, mit dir in einen Dialog darüber einzutreten: Wie muss eine Kurzgeschichte aussehen? Was braucht man, was muss man vermeiden?

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Hallo Estrel

Sorry, falls ein paar meiner Formulierungen etwas schroff ausgefallen sind. Ist bestimmt nicht persönlich gemeint und selbstverständlich bin ich NICHT davon überzeugt das ich die Wahrheit über eine Geschichte gepachtet (oder sie ganz durchschaut habe).
Es ist nur so, wenn man eine Weile hier regelmäßig Kg liest und viel kommentiert bzw. kritisiert, dann hört man irgendwann auf, ständig zu betonen, das dass was man gerade schreibt nur eine völlig subjektive Meinung ist. So geht es mir zumindest. Ich geh einfach davon aus, dass dieser Umstand selbstverständlich und dem Autor ebenso klar ist wie mir. Vielleicht ein Fehler meinerseits.
Natürlich muss man gewisse Umgangsformen wahren und Beleidigungen persöhnlicher Natur und vulgäre Formulierungen sind tabu. Aber ich erwarte irgendwie auch von meinen Kritikern, dass sie es klar sagen, wenn sie meine Geschichte schlecht finden (begründen sollten sie es natürlich). Dass man sowas nie gern hört und man schon mal schlucken muss, lässt sich dabei natürlich nicht vermeiden.

Um noch was zur Diskussion beizusteuern:

Die Zweiteilung, Laute-Handlungsgeschichte versus leise-Geschichte ist mir zu oberflächlich, zumindest in diesem Zusammenhang. Auch eine innere-Geschichte kann unterhaltsam sein und Tempo besitzen, ich denke also, es ist nicht dem Medium an sich zuzuschreiben, dass ich die Geschichte nicht besonders gelungen fand. Nicht die Tatsache, dass sich die Ereignisse nicht überschlagen, hat mich gestört, sondern die Umsetzung (z.B.: kann jede Geschichte, so leise sie auch sein mag, einen Spannungsbogen besitzen).
Du sagst jedes Wort sei wichtig und trage zur Charakterisierung bei - Das mag sicher so sein und auch hervorragend für den Autor selbst funktionieren, da der ja von vornherein ein klares Bild des Protagonisten vor sich hat. Die entscheidende Frage aber ist doch, wie das Ganze beim Leser ankommt, der erstmal gar keine Ahnung hat, was ihm die Geschichte sagen soll. Das Problem ist, wenn die Geschichte dann zu "leise" ist und Informationen nur über wage Vergleiche und Andeutungen durchsickern, dass der Leser so ziemlich alles in alles hineininterpretieren kann.
Wenn du dann im Nachhinein erklärst wie alles genau gemeint war, ist es natürlich irgendwie schlüssig, aber für mich bleibt fakt, dass es beim Lesen so nicht rübergekommen ist. Natürlich muss man das nicht akzeptieren und vielleicht bin ich auch einfach zu blind, keine Ahnung, aber wenn es mehreren Lesern so geht wäre mein Tipp, es ernst zu nehmen (da ich im Wunsch sich selbst zu verbessern irgendwie den hauptsächlichen Grund sehe, warum man seine Geschichten in dieses Forum stellt.)

auf jeden Fall schöne Grüße, und wie Anfangs schon gesagt: alles nur meine bescheidene Meinung.
Skalde.

 

Hallo Estrel,

ich leihe mir einfach mal etwas von Skalde aus, wass ich zu 100 % unterschreibe:

Sorry, falls ein paar meiner Formulierungen etwas schroff ausgefallen sind. Ist bestimmt nicht persönlich gemeint und selbstverständlich bin ich NICHT davon überzeugt das ich die Wahrheit über eine Geschichte gepachtet (oder sie ganz durchschaut habe).

Was das Thema KG leise/laut, Handlung etc. betrifft, würde ich gerne in einen Dialog mit dir treten, weil ich glaube wir können da beide etwas dazulernen und sind andererseits auch gar nicht so weit mit unseren Vorstellungen auseinander.

Bin nur gerade in einer elenden Ecke Deutschlands und ein unerbittlicher Gebührenzähler hindert mich an einer ausführlichen Ausarbeitung. Ausserdem bin ich dir noch eine Antwort auf deinen Kommentar schuldig. Melde mich per PM, sobald zurück.

LG,

N

 

Hallo, Estrel.

Um mal in eine andere Richtung zu gehen: Ich fand's gut. :D

Ich finde, Deine Geschichte hat einen zwar gemächlichen, aber gleichmäßigen Rhythmus, der sehr gut zu seinem Protagonisten paßt. Satz um Satz um Satz, so wie die Schwellen einer Gleisstrecke, er tut dies, um danach das zu tun, und danach wieder etwas anderes.

Darin - in seiner Liebe zu dieser Bahnstrecke - ist dieser aöte Hübner so etwas wie ein Autist, unverstanden von seinen Mitmenschen, sogar von seiner Frau, und dafür schämt er sich ein wenig. Und er hat - so ist es bei mir angekommen, auch wenn Du das eigentlich wohl nicht so gemeint hast - das Gefühl, daß ihn etwas mit diesem toten Hund verbindet, daß er dem Hund etwas schuldig ist, weil er im Gleisbett "seiner" Strecke verendet ist. Irgendwie greifen die ganzen Betrachtungen ineinander - auch die über die NS-Zeit, die für mein Empfinden ruhig noch ein wenig stärker mit dem "wie auf Gleisen" laufenden/gelaufenen leben Hübners verbunden werden könnte, oder dadurch allzusehr in den Vordergrund zu treten.

Für mich war dieser Versuch, dem Hund ein ordentliches Begräbnis, einen Ort, eine Identität zu geben, ein bißchen wie eine symbolische Wiedergutmachung an dem, was er sich damals zuschulden hat kommen lassen. Und natürlich - wie Du es meintest - Ausdruck seines Charakters, der die "Unordnung" eines toten Hundes im Gleis nicht hinnehmen kann.

Die Verbindung des toten Hundes mit dem wenngleich nicht toten, aber alten Hund Hübner, der durch sein Leben im und auf dem Gleis konditioniert ist und keine neuen Tricks mehr lernt, weil er in der Vergangenheit lebt, ist mir beim ersten lesen durchaus aufgegangen. Ich habe gegen Ende geargwoöhnt, daß Hübner sich dem Hund anschließt und sich von einer Bahn überrollen läßt, um so zu sein, wie der Hund. Aber das wäre zugegeben ein bißchen zu erwartbar gewesen - so am Ende sterben und so, ist ja inzwischen fast Standard ... ;)

Also nochmal - auch mit wenig "äußerer" Handlung für mich ein kurzweiliges Lesestück, das mich zu berühren wußte.

Ich hab aber doch noch was zum Text. Und zwar:

Eher ein Fuchs. Oder ein Wolf. Aber woher sollten hier Wölfe kommen? Noch nie gab es in dieser Gegend Wölfe, nicht, solange der alte Hübner sich erinnern konnte.

Fuchs und Wolf ist nicht tragisch, aber wenn es hier nie Wölfe gegeben hat, dann käme mir die Assoziation nicht. Vielleicht könntest Du es ja früher mal Wölfe in der Gegend geben haben lassen, dann hast Du auch gleich im ersten Absatz schon dieses gedankliche Abschweifen in die Vergangenheit.

Er hatte sich von den Schienen herunterrobben müssen.

Ich glaube, ohne "sich" ist richtiger.

... sofort wüsste, hier liegt was begraben, kein Kaninchen, nein, ein Hund.

Naja, nicht zwangsläufig ein Hund, aber eben "Jemand". Darum geht's, oder? Daß da nicht "etwas" liegt, sondern "Jemand". Könnte irgendwie deutlicher werden, aber ich weiß nicht wie. Vielleicht ist es auch deutlich genug.

Deine Sprache in dieser Geschichte ist sehr schlicht, aber effektiv. Melancholisch schönes Ding.

gruß
bvw

 

Hallo Estrel

Vortschritte machst du, wenn ich diese und deine letzte Geschichte einmal vergleiche.

Der Charakter dieses alten Mannes ist gut getroffen und in Form der angemessenen, zu diesem Menschen passenden Sprache gut wiedergegeben.

Was mir fehlt ist die Metamophorik zwischen dem toten Hund und dem Mann. Der Mann könnte sich ebensogut neben den Gleisen, die er so liebt, begraben lassen, vielleicht wünscht er es sich, denn sonst hat er nichts, außer seiner Gleisenpatroille. Diese Metapher ist greifbar, aber doch nicht intensiv genug in Szene geworfen.
Architektonisch hast du den Blocksatz gefunden, was das Lesen sehr erleichtert.
Es fehlen die Bilder die die Geschichte erzählen.

lieben gruß

 

Hallo Estrel,

über deiner Geschichte liegt eine ruhige Atmosphäre, Sachlichkeit (durch die Analysen des Mannes) und Wehmut. Gut gelungen ist die Gegenüberstellung die der erste Teil (Hund) und der zweite (KZ) darstellt.


„Sie sollten aus tiefer Brust, angsteinflößend schreien, das waren sie ihren Opfern schuldig, dachte der alte Hübner.“

Ein interessanter Gedanke, vor allem wenn man ihn mit den Tätern des zweiten Teils in Beziehung setzt.


„In den Krieg hatte er nicht gemusst, er war unabkömmlich gewesen. Das war sein Glück. Erkauft mit den KZ-Zügen, und er wusste es damals nicht“

Ein bedeutender Konflikt: Sein Glück, ungewusst erkauft durch der anderen Tod. Kein Wunder, dass Bedürfnis, ein kreuz aufzustellen - der nächste Zug kann kommen …

„Nicht nur Bindfaden, auch eine Nagelschere, zwei Sicherheitsnadeln“

Schöner `Trick´ den Bindfaden glaubhaft zu machen, paßt gut zum Alten-Mann-Bild.

Änderungsvorschläge:

„Er hatte keine Schaufel dabei.

Er machte sich auf den Weg zurück, nach Hause. Er kam mit einer Schaufel zurück, er hatte“

- Etwas viel „er“.


„Gleisbett, wie der alte Hübner ihn verlassen hatte.“

- so, wie der alte

„Es war Sommer, Juli, und rings summten Insekten, ein Greifvogel, der alte Hübner konnte nicht erkennen“

- Insekten; ein Greifvogel - der (dann ist es weniger verführerisch, das `Summen´ auch auf die Greifvögel zu beziehen.


„Er hatte sich von den Schienen herunterrobben müssen.“

- Ich denke ohne „sich“. Bei herunterziehen mit „sich“.

Gern gelesen,

tschüß Woltochinon

 

Lieber Aris, lieber Woltochin, habt meinen allerbesten Dank für die vielen Hinweise. Ich sehe mir die Geschichte daraufhin noch einmal an. Zu den vielen "er": Ich habe bewusst die Anapher benutzt, weil sie in gewisser Weise die "Eintönigkeit" und "Einsamkeit" unterstreicht. Es gibt Texte von einem österreichischen Autor, der alle Sätze mit "sie" beginnen lässt, ohne dass man dabei dies als ein Zuviel ansehen würde. Ich bin auch Lyrikerin, und da fließt oft etwas Technisches in die Prosa ein. Nur zur Erklärung.
Aber noch mal meinen besten Dank mit der profunden Beschäftigung mit meinem Text an alle.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

Lieber Brudervomweber, (übrigens, ein hübsches Pseudonym) hab Dank für die eingehende Beschäftigung mit meinem Text. Ich gehe mal ein auf die Dinge, die dir aufgefallen sind. Dass ich den Bezug zum Wolf genommen habe, hängt damit zusammen, dass Wölfe jetzt wieder nach Deutschland einwandern. Ein Mensch, der so mit der Natur verbunden ist wie der alte Hübner, weiß das - nehme ich mal an, setze ich einfach voraus. "Sich herunterrobben" - dazu fällt mir nur ein, dass robben zwar kein deutsches Wort ist, aber als solches benutzt wird. Und in deshalb kann man es durchaus reflexiv einsetzen - also nicht nur "herunterrobben", sondern eben "sich herunterrobben". Der Hinweis auf den "Jemand" ist gut, ich habe das gleich umformuliert. Es freut mich, dass dir der Text gefallen. Ich hatte schon die Befürchtung, hier werden nur Mainstream-Kurzgeschichten gewünscht. Noch mal meinen allerherzlichsten Dank für deine Antwort.

Viele liebe Grüße
Estrel

 

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