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Träume mit Sergej
Russenkälte in seinen eisblauen Augen. Er zögert einen Moment.
„Janine“, sagt er. „Sieht man dich mal wieder?“
„Tag Sergej.“ Es wäre toll, einen lockeren Spruch auf den Lippen zu haben, mit dem ich ihn beeindrucken kann. Einen, mit dem ich meine Unsicherheit verstecken kann.
Stattdessen bringe ich nur zwei dämliche Worte heraus. Ich habe das Gefühl, dass jeder Mensch in diesem Supermarkt mich anglotzt und sich über mich kaputt lacht.
Sergej lächelt, jetzt warm, entwaffnend, liebevoll, spöttisch – vielleicht auch gar nichts davon und es ist nur meine Fantasie, die mir wieder einen Streich spielt.
„Zeit für einen Kaffee?“, fragt er mich.
„Klar.“
Früher habe ich mir so oft gewünscht, Sergej irgendwo zu begegnen. Ich habe seine blauen Augen herbeigeträumt, vor dem Telefon gewartet und auf ein Lebenszeichen gehofft. Hass an vielen Tagen, viele Vorwürfe in mir, danach wieder Liebe. Warum laufe ich ihm jetzt über den Weg? Sein Bild in mir ist endlich verblasst.
Er geht neben mir her und lächelt. Ich kann sein Gesicht nicht mehr deuten.
„Erzähl“, sagt er.
Ich zucke mit den Schultern. „Nichts Besonderes.“
„Du siehst mich nach über zehn Jahren wieder und hast nichts zu sagen?“
Er lacht und ich halte kurz den Atem an, weil dieses Lachen noch immer so vertraut ist. Ich stimme mit ein, so wie früher.
"Was möchtest du wissen?"
"Natürlich zuerst: Wie viele Kinder hast du inzwischen?"
Er grinst und doch weicht er meinem Blick verlegen aus.
"Keine", antworte ich. "Und keinen Ehemann. Nichts. Nur eine Katze. Und du?" Die Frage war viel zu hastig, ich spanne meine Schultern an, nehme mir vor keinen Schmerz zu empfinden, egal wie seine Antwort lautet.
"Ich habe nicht mal eine Katze."
Er hakt sich bei mir unter und ich fühle mich glücklich.
Wir steigen in die Straßenbahn ein, sie ist voll und ich stehe nahe bei Sergej, kann seinen Atem in meinem Gesicht spüren. Er sieht mir in die Augen und ich schaue weg. Sein Blick ist noch immer so drängend, so forschend, als wollte er meine Gedanken aussaugen.
Sein Geruch, so bekannt, ich möchte die Hand ausstecken und ihn berühren, um mich zu überzeugen, dass er wirklich ist. Unsere Begegnung nicht nur einer dieser sinnlosen Träume, die ich manchmal habe.
Die keifende Frau neben mir, der aufdringliche Gestank billigen Parfums, mein schmerzender Arm von der schweren Einkaufstüte, sind real. So etwas kommt in Träumen nicht vor. Nur Sergej scheint nicht wirklich. Aber so war das immer.
Ich weiß noch, wir beide in Schweden. Ohne einen Plan zu haben, waren wir losgefahren. Er schlug alle meine Bedenken in den Wind.
„Mach dir nicht immer über alles Sorgen“, sagte er.
In seiner Gegenwart war ich der Mensch, der ich gerne so gerne sein wollte.
Sergej strahlte wie ein kleines Kind und selbst der Dauerregen und unser undichtes Zelt, konnten seine Laune nicht verderben. Er küsste mich immer stürmisch auf den Mund, wenn ich mich beschwerte: „Es reicht doch, dass wir uns haben.“ Und für eine Weile war das wirklich genug.
Er steckt seine Hand aus, wickelt eine meiner schwarzen Locken um seinen Finger. Es dauert nur einen Moment lang und danach bin ich nicht sicher, ob es wirklich passiert ist. Ich starre auf den Mantel der Frau neben mir, versuche das Muster auswendig zu lernen. Sergej darf mein Leben nicht mehr durcheinander bringen, doch ich kann nicht anders, als ihn immer wieder anzusehen. Seine Lippen, die mich so oft geküsst haben. Seine Hände, die jede Stelle meines Körpers kennen.
Ich bin froh, als wir aussteigen können, ich wieder Abstand zu ihm gewinne. Das macht es leichter, die Vergangenheit zu verdrängen.
Wir gehen in ein kleines Café, das beinahe leer ist. Sergej sucht eine abgelegene Ecke aus.
Ich vertiefe mich in die Karte, obwohl ich schon weiß, was ich bestellen möchte.
„Es war schön damals, nicht wahr?“, fragt er mich, als wir vor unseren Milchshakes sitzen.
„Ja“, sage ich. Meine Stimme soll stark klingen, ist aber nur ein Flüstern.
„Und weißt du was? Ich habe mich oft gefragt, warum es geendet hat. Anfangs wusste ich den Grund, später nicht mehr.“
„Sergej“, seufze ich. Wie ein kleines Kind möchte ich mir die Ohren zuhalten. Warum redet er so?
„Du hast gesagt, dass du mich nicht mehr liebst. Dass wir nicht die gleichen Träume haben“, erinnere ich ihn.
Er nickt. „Damals war mir das so wichtig. Träume, Ideale, Ziele.“
„Und jetzt?“
„Ich habe noch immer meine Träume, aber von denen kann man nicht leben.“
Ich denke an Sergejs alte Wohnung, an die vielen Partys, die darin statt fanden. Kein Möbelstück passte zum anderen, jeden Morgen stolperte man über fremde Leute. Wir wollten nie so werden, wie alle Anderen. Sergej sagte, dass es sich nur für die Träume zu leben lohnt und dass ich alles schaffen kann, wenn ich nur fest genug daran glaube. Irgendwann habe ich nicht mehr geglaubt.
Er lacht. "Stell dir vor, ich arbeite jetzt bei einer Versicherung. Ganz geregelt.“
„Du?“, frage ich. „Das kann ich dir wirklich kaum abnehmen.“
„Das wolltest du doch - ein normales Leben.“
Ich nicke: „Ja, das wollte ich.“
Wir schweigen.
„Ich habe oft an dich gedacht!“
Ich lache bei Sergejs Worten kurz auf. Er kann sich nicht einmal vorstellen, wie oft ich an ihn gedacht habe.
„Du kennst mich ja. Ich konnte meinen Stolz nicht überwinden.“ Er zuckt mit den Achseln.
„Du hast mir weh getan“, sage ich. Die Worte schmecken bitter in meinem Mund. Er streicht mir mit seiner Hand über meine Wange. „Das tut mir Leid“, flüstert er.
Es war ein ganz normaler Morgen, Sergej saß mit zerzaustem Haar in der Küche: „Wir passen nicht mehr zusammen“, sagte er. So beiläufig, als ginge es um das Mittagessen. Ich suchte Gefühle in seinen Augen, doch ich fand keine. „Du kannst gehen.“
In meiner Brust begann es zu brennen, Fragen schwirrten in meinem Kopf, doch ich lächelte und packte meine Sachen.
Das Lächeln war immer noch da, als ich meine Eltern bat, wieder einziehen zu dürfen. Danach verschwand es.
„Meinst du“, fragt er „es gibt noch eine Chance für uns?“ Seine Stimme klingt heiser, er spielt mit seinen Fingern.
„Vielleicht.“
Zwischen uns noch so viel Unausgesprochenes, Ungeklärtes. Doch wir haben Zeit.
Mein Mund fühlt sich trocken an, ich weiß nicht, ob es der Anfang oder das Ende eines Traumes ist.