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Traum der Vergangenheit

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09.07.2006
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Traum der Vergangenheit

Traum der Vergangenheit

Ich irre durch die Altstadt. Ein Ausgestoßener und Fremder. In meiner eigenen Stadt. Zu lange war ich weg. Gezwungenermaßen. Und jetzt kenn ich mich nicht mehr aus. Alles sieht anders aus. Alles sieht verändert aus. Alles sieht zerstört aus. Alles.....sieht tot aus.
Ziellos wandere ich durch die Umgebung. Und versuche irgendwo Anhaltspunkte zu finden, die mir bestätigen könnten, dass ich hier schon mal war und hier schon mal gelebt hab.
Selbst der große, alte Dom ist zerfallen und zerbombt worden. Es steigt sogar noch Rauch von ihm auf. Hinter ein paar Häusern sehe ich seine Trümmer. Eine Turmspitze, die letzte, steht noch.
Ich versuche mit einer dieser neumodischen U-Bahnen zu fahren. Ich kenn mich nicht aus. Es ist einfach so verwirrend und umständlich. Verzweifelt, angeschlagen und bloßgestellt, als einziger Mensch auf der Welt nicht in der Lage zu sein, mit der U-Bahn zu fahren, geb ich es wieder auf.
Ganz unvorbereitet werde ich angesprochen. Von einem jungen Mann und seiner Freundin. Er will wissen, ob ich schon weiß, wann ich eingezogen werde. Er ist ganz enthusiastisch bei der Sache. Ich weiß es noch nicht, ist meine Antwort. Sie fragt mich, ob ich vorher noch meine Freundin heiraten werden. Ich weiß es noch nicht.
Als ich einen Buchladen sehe, gehe ich sofort hinein. Es wirkt vertraut und bekannt. Ich stelle meinen Rucksack ab. Vielleicht find ich gute Bücher. Welche, die ich kenne. Die mir vertraut sind. Ein Typ hinter der Ladentheke starrt mich unentwegt an. Ich entgehe seinem Blick und verziehe mich in einen hinteren Winkel des Geschäfts. Ich betrachte die Bücher und schau mir ein paar davon an. Wenn ich mir nur eins leisten könnte. Doch ich hab kein Geld. Durch ein Zeichen des Mannes aufmerksam gemacht, beobachtet mich nun ein anderer Mitarbeiter. Er verfolgt mich. Nur um mich zu beobachten. Welch eine Ehre.
Es macht mich nervös. Dadurch kann ich mir die Bücher nicht in Ruhe anschaun. Geschweige denn mich hinsetzen und anfangen eins zu lesen. Alles, was ich will, ist doch nur, hier in einer Ecke ein gutes Buch lesen. In Ruhe.
Offensichtlich wollen sie nicht, dass ich hier bleibe. Ich schnapp mir meinen Rucksack und verlasse diesen unfreundlichen Ort.
Gut, ich bin verdreckt und stinken tu ich vermutlich auch schon ziemlich, aber ist das etwa ein Grund für dieses Verhalten? Wahrscheinlich hätte ich an ihrer Stelle genau so gehandelt.
Eine Straßenbahn fährt vorbei. Sie hätte mich beinahe überfahren. Der Straßenbahn wäre es egal gewesen. Doch ich bin sicher, mir hätte es weh getan.
Ich stürme durch einen Torbogen eine alte Straße hinauf. Kopfsteinpflaster säumen den Weg. Zu beiden Seiten befinden sich Häuser. Häuser aus einer Zeit, die längst nicht mehr existiert. Der Beton weicht saftigem grünen Gras. Ich lasse Stadt und Beton hinter mir und befinde mich auf einer schier endlos langen Wiese, die bis zum Horizont zu reichen scheint. Langsam mischt sich Matsch unter das Gras. Ich schau runter auf meine Schuhe und sehe, dass meine Stiefel total verdreckt und matschig sind, teils bereits verkrusteter Matsch. Blut fließt über das Gras und die Wiese und strömt in den Dreck. Das Blut und der Dreck vermischen sich. Schließlich wird das Gras und die grüne Wiese vom Blut und Matsch übermannt, überrannt. Ich stürme weiter den Hügel hinauf. Ohne Pause. Ohne Unterlass. Ohne Luft zu holen. Dafür mit Seitenstechen. Und mit einer brennenden Lunge. Es schmerzt. Doch ich kann nicht aufhören zu rennen. Ich höre Schüsse und Schreie.
Im Bus treffe ich Leute, mit denen ich mich anfreunde. Rumtreiber. Gammler. Vagabunden. Manche nennen sie Penner. Ich nenn sie meine Freunde.
Worum ging es in dem Krieg? War es mein Krieg? War es unser Krieg? Gut gegen Böse? Wurde das Böse bekämpft? Auf welcher Seite stand ich? Wir schlachteten uns gegenseitig ab! Das war der einzige Sinn, den ich darin sah.

 

Hi...
Wow! Ich finde, das ist eine sehr bewegende Geschichte. Ich finde, sie ist gut aufgebaut und überraschend.
Ich hab auch keine Fehler gefunden, mehr gibt's dazu von meiner Seite nicht zu sagen.
lg CJ

 
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Hallo Marco!

Ich finde, dass dieser Text, obwohl relativ kurz, ein sehr gelungener Text ist, der vor allem dadurch spannend wird, dass er vieles nicht sagt.

Das Beängstigende und gleichzeitig Unwirkliche der Szenerie entsteht durch Kontrastierung, Aufhebung der Zeit und Auslassungen. Dein Grundthema ist die Gegenüberstellung von Zivilisation und Natur. Die Stadt, in die der Ich-Erzähler gelangt, scheint eine zerstörte und gleichzeitig funktionierende Stadt zu sein. Es gibt öffentlichen Verkehr und Buchhandlungen.
Der Ich-Erzähler scheint wie ein Zeitreisender direkt aus der Vergangenheit zu kommen. Er findet sich nicht zurecht. In der Gegenwart ein Fremder bieten sich ihm zwei Fluchtmöglichkeiten: Bücher oder die Flucht aus der Stadt. Ersteres bleibt ihm verwehrt, zweiteres wird auch zu einer Flucht in die Vergangenheit. Die Straße, über die er die Stadt verlässt, ist alt, die Häuser sind aus einer nicht mehr existierenden Zeit. Es ist wieder ein Weg an den Ursprung, zurück in die Natur, repräsentiert durch das grüne Gras.

Schließlich wird das Gras und die grüne Wiese vom Blut und Matsch übermannt, überrannt

Unschwer zu erkennen, dass damit die Zähmung der Natur gemeint ist. Und diese Zähmung, die ganze Zivilisation und Kultur des Menschen geht mit Krieg einher. Ein Krieg, der letztlich sinnlos ist und nur zu Zerstörung führt. Und dieser Kampf tobt ständig. Es ist nicht zu entscheiden, ob der Held nicht bereits am Beginn von ebendem Kampf, der auf dem Hügel statt findet, in die Stadt kommt. Offensichtlich kehrt er ja nach diesem Erlebnis wieder in die Stadt zurück. Um wieder als Fremder darin herumzuirren?
Raum und Zeit scheinen aufgehoben zu sein, man erfährt auch nicht, was sich auf dem Hügel wirklich abspielt. „Schüsse und Schreie“ ist das einzige, was auf ein Kampfgeschehen hindeutet. Man kann nicht erkennen, wie lange sich der Ich-Erzähler auf dem Hügel aufhält. Das Zeitkontinuum ist aufgehoben - der Anfang, der Kampf, ist gleichzeitig auch das Ende der Geschichte - der Kampf gegen die Natur ist der Beginn der Zivilisation, aber gleichzeitig ist das auch ihr (der Zivilisation nämlich) Untergang - das ist für mich die Botschaft der Geschichte.

Jedenfalls ist die Geschichte symbolhaft, es geht weniger um das eigentliche Geschehen, als vielmehr um die Darstellung einer grundsätzlichen anthropologischen Frage, einer ungelösten selbstverständlich, die Frage, warum Zivilisation Krieg bedeutet, Krieg gegen die Natur und zwischen den Menschen.

Herzlich willkommen hier! ;)

Grüße
Andrea

 
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Hallo CJ_06, danke für deine positiven Bemerkungen, sowas freut einem natürlich immer zu hören!

Danke.

Hallo Andrea,

das ist ja eine bemerkenswerte Analyse, genau wie auch die anderen, die ich von dir gelesen habe.
Viel dazu erklären kann ich nicht, weil ich es nicht mag, meine Geschichten zu erklären oder jemanden bei seiner Analyse zu zu stimmen, da hab ich immer das Gefühl ich muss mich rechtfertigen und das tu ich ganz sicher nicht.

Zu deiner Antwort auf meine Geschichte kann ich nur sagen: WOW, beeindruckend!
Großartig analysiert, um nicht zu sagen, zerstückelt (im positiven Sinn, wohl gemerkt!). Es überrascht und erstaunt mich auf jeden Fall immer wieder, eine so treffende Beobachtung einer Geschichte zu lesen, vor allem wenn es eine von mir ist ;)

Danke für diesen tollen Willkommensgruß! :)

 

Eine Straßenbahn fährt vorbei. Sie hätte mich beinahe überfahren. Der Straßenbahn wäre es egal gewesen. Doch ich bin sicher, mir hätte es weh getan.
schön

Hi Marco R.,

okay, deine Geschichte empfinde ich als ein verwirrendes Etwas.

Ich nehme an, dass der Penner früher mal ne gescheite Existenz war, aber durch den Krieg alles verloren hat? Kein Plan ...

Zu Interpretationen bin ich nicht fähig und dass man in der Blut-auf-der-Wies-Situation jetzt das Zähmen der Natur sehen soll ... naaa ja ... Genausogut könnt ich sagn, das hier:

Ich stürme weiter den Hügel hinauf.

Aha, hier sieht man deutlich, dass er was aus seinem Leben machen will, der Hügel steht sinnbildlich für die Anstrengungen, die damit verbunden sind, glücklich zu sein, aber da er den Hügel hianuf stürmt, zeigt das einerseits seinen Willen, das zu erreichen, andererseits zeigt es aber auch, dass der Weg nach oben steinig ist. Steinig sein bedeutet ja, mit Problemen verbundne; und das Wort stürmen wurde verwendet, weil hier keine Steine im Weg liegen, sondern ein starker Gegenwind ihn versucht zu hindern. Wie gesagt, ich hasse Interpretationen.

Yeahboyyy!

Keine Fehler entdeckt, aber auch nicht gesucht.

 

Hy Tserk

Wenn sie dich verwirrt hat, dann bin ich zufrieden, dann hab ich mein ziel erreicht :D
Gegen ein bisschern verwirrung ist ja auch nichts einzuwenden.

 

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