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Traumreise
Traumreise
Es spiegelte sich mir eine Resignation in ihren märchenhaften, blauen Augen. Morgens huschte diese grazile, junge Frau mit den wallenden blonden Haaren immer an meinem Schlafzimmerfenster vorbei, einen Aktenkoffer unter den Arm geklemmt, auf dem Weg zur Universität. Eines Tages aber wählte Babette Schneider den Freitod und ich fand keine Ruhe, musste immerzu an sie denken; mich drängte es zu ihrem Grab, als könnte ich dort ihrem Wesen noch einmal begegnen.
Gerade ließ ich das knarrende, eiserne Friedhofstor hinter mir ins Schloss fallen, da türmten sich mächtige schwarze Wolken am Himmel auf, aus denen Blitze zuckten. Die wenigen Menschen, die hier noch verweilten, flüchteten schnell nach Hause. Einige blickten im Vorbeieilen verwundert zu Babette Schneiders Grabstein, auf dem ein stattlicher Rabe hockte. Der Wind fächelte mir ihre Äußerungen ans Ohr: „Welch erbärmliches Tier“, oder „Man müsste den Jäger holen, den Vogel erschießen lassen, damit er von seinem Leid erlöst wird.“
Ein Hund hetzte an mir vorüber, wie vom aufkommenden Sturm dahingefegt; der Mond sauste wie ein Kugelblitz durch das finstere, wild am Zenit dahinziehende Wolkenband; kurz hüllte sich alles in Stille und Dunkelheit, dann reflektierte sich das fahle Licht des Mondes wieder an der bleichen, zerfallenen Friedhofsmauer.
Ich stellte mich dicht vor den Raben. Er kauerte noch immer wie eine Eule auf Babette Schneiders Grabstein. Sein rechtes Auge erschien wie die magische Kugel einer Wahrsagerin; es war ein Leuchten darin und mir war, als wenn es in mich hineinsah. Das linke Auge hing wie eine zerquetschte Kirsche aus seiner Höhle, fortwährend floss ein leichter Strom aus Blut und Tränen aus ihm hervor. Der zerzauste Rabe bot ein jämmerliches Bild.
Dann sprach der Vogel zu mir. Es war die Stimme von Babette Schneider: „Ja, die Mächte des Universums haben meinen Selbstmord nicht akzeptiert, nun muss ich mein Dasein als Rabe fristen. Aber nun zu dir. Alle Menschen, die mir bisher begegneten, zeigten Mitleidsgebaren oder verachtende Ekelgefühle. Du aber betrachtest mich sachlich und ruhig.“ Ich erwiderte: „Jede menschliche Regung trübt den Verstand, ist hinderlich bei der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, nach den Geheimnissen dieser Welt und nach dem Sinn des Lebens.“
Der Rabe empörte sich: „Nun, ich selbst war ein Narr wie du. Ich suchte auch den Sinn des Lebens und das Leben ging an mir vorbei. Mit meiner Forschung ging’s nicht weiter, aus Verdruss brachte ich mich um. Ich glaubte, nur mit der kosmischen Wahrheitsfindung wäre mein Glück zu besiegeln. Ich habe alle Intuition und Gefühle als profan verachtet; mein Herz wurde kalt. Doch nun sehe ich ein, Lachen und Lieben ist im All geboren und genauso wahr wie die Wahrheit an sich. Aber was rede ich. Schau tief in mein magisches Auge und du wirst an einer Geist- und Seelenreise teilhaben, die mir widerfahren ist.“
Ich wurde in einen Bann gezogen, mein Körper löste sich auf, durchschwebte den Raum, durchgeisterte die Welt der Atome, ich sah, wie sie wirklich beschaffen sind, Zeit und Raum verschmolzen, die vierte Dimension, dann auf in andere Universen, ich wurde in Wesen versetzt, deren Welt den Endpunkt erreicht hatte, für jene gab es keine entgegengeworfene Außenwelt wie für uns, Subjekt und Objekt waren eins, es war ein Dasein ohne Geheimnisse, wo kein Verstand sich regte, wo kein Streben ist, nur ein Meer eisiger Stille, ihre Außenwelt war für die Wesen gleichsam so, als wenn sie sich selbst in einem Spiegel schauten, es war die absolute Erkenntnis, doch ich verspürte nur eine frostige Atmosphäre, aber das Universum schien zufrieden, genügte sich selbst, sich vollkommen entdeckt zu haben, seine Materie implodierte, schrumpfte in einem Sog zusammen, zerfiel in ein Nichts, aus dem sich ein neues Universum begann zu kreieren, ein neuer Zyklus.
Dann tauchte ich wieder in unsere Welt ein, wieder auf atomarer Ebene, ich geriet kurz durch einen heftig pulsierenden Atomverbund und dachte, vielleicht schlägt hier ein vor inniger Liebe erregtes menschliches Herz und sehnte mich nach der Wärme der menschlichen Sphäre, nach ihren bunten Farben, ich sah ein, ich würde auch im Innern ein Wesen der dritten Dimension bleiben, doch ich hatte ihr Fühlen verloren, und die Schau der vollendeten Wirklichkeit hatte mich nicht zufriedener gemacht; wie töricht auch, wenn eine Raupe sich gleich zum Schmetterling erheben will, hat doch die Natur es bestimmt, dass sie sich erst einmal verpuppen muss, eine Raupe kann nicht den Genuss des Schmetterlings beim Fliegen spüren, allein vom Zuschauen.
Doch meine Einsicht befreite mich nicht von meinem kalten Herzen. Allein die Einsicht hat noch keine schwere Depression geheilt. So fand ich mich auf dem Friedhof wieder. Immer noch hockte der Rabe unbeweglich da und sprach: „Nun, wie ich sehe, scheinst du ja nicht vor Glück zu zerspringen.“
Der Rabe hatte recht. Er konnte sich gut in mich rein versetzen, verstand mich, wie noch keiner. Ich spürte, wir waren wesensgleich. Viele Menschen hatte ich kennen gelernt, je mehr es wurden, umso einsamer fühlte ich mich. Mit dem Raben aber teilte ich das Schicksal; wir litten an unseren kalten Herzen und für jeden von uns war die Einsamkeit durchbrochen. So fragte ich denn den Raben: „Willst du bei mir bleiben? Ich glaube, wir gehören zusammen.“ Der Rabe zeigte sich zufrieden und war einverstanden.
Plötzlich segelte ein goldener Ring vor meine Füße; mir war, als töne eine Stimme aus einer hinteren Ecke meines Bewusstseins, unwirklich wie aus den Tiefen der Weltenräume: „Mich rührt eure Zuneigung zueinander. So will ich euch eine letzte Chance zum Glücklichsein geben. Nimm den Ring und stecke ihn dem Raben auf die rechte mittlere Kralle!“ Ich befolgte die Anweisung und die blutigen Tränen aus dem linken Auge des Raben kristallisierten sich plötzlich zu Salz.
Abermals dröhnte die Stimme: „Hier ist das Salz des Lebens. Kostet beide davon und ihr werdet wieder Freude empfinden, lachen, lieben und weinen können und erfüllt sein mit wohliger Ehrfurcht über eure Welt. Und nun lebt wohl.“
Ich kostete als erster vom Salz des Lebens, dann folgte der Rabe; sofort verwandelte sich seine hässliche Gestalt in den anmutenden, liebreizenden Körper von Babette Schneider. Aus ihrem Gesicht war jede Resignation gewichen. Ihre märchenhaften, blauen Augen blickten mich froh und sinnend an; wie durch ein Schlüsselloch lockte die Liebe aus ihren Pupillen. Wärme strömte von Körper zu Körper und konnte nicht aufhören zu fließen. Meine Seele schlüpfte in die ihre und ihre in die meine. Das Eis, was uns einmal umschloss, war für ewig ins Koma verbannt.
Ich ergriff Babettes zarte Hände, wollte sie gerade küssen, als ich durch das schrille Klingeln meines Weckers aufwachte. Neben mir der Platz war leer, ich war allein. Hatte ich geträumt? Aber was ist schon Traum, was Wirklichkeit? Vielleicht hatte ich eben noch von einer gewissen Babette Schneider geträumt und träumte jetzt von einem unerbittlich rasselnden Wecker.
Ich stand auf und begab mich zum Bad, als ich auf etwas kleines Metallisches trat. Verwundert starrte ich vor mir auf den Boden. Da lag doch wahrhaftig ein funkelnder Ring.
- Ende - (oder nicht?)
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