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Traumzeit
But why it was there came a time when we could take the road no more
...
And how it goes now in that land, if there still house and garden stand
Still filled with children, all in white - we do not know it, you and I.
Mar Vanya Tyalieva, J.R.R. Tolkien
Der Samen des Traumes schlummert in jedem Kind. Der Traum von der Welt des verlorenen Spiels…
Das Gras ist grün, der Himmel blau, die Sonne scheint fast immer. Manchmal regnet es, aber das ist nur ein vorübergehender Wolkenbruch. Es regnet auch nur, damit die Luft danach so würzig riecht.
Es war im Sommer, als die kleine Lisa dieses Land entdeckte. Sie war ein stilles Kind, sehr in sich gekehrt, las viel und lachte wenig. In ihren Träumen fand ihr Geist den Weg in das Land, wo…
Es war Wald, und es war Garten. Es war Meer und es war Land. Manchmal war Lisa dort eine Nixe, manchmal ein Engel. Die Pforte wartete direkt rechts vom Blick aus dem Augenwinkel. Aus Holz war sie, glatt geschliffen von unzähligen Kinderhänden, die vorsichtig an dem Rahmen entlanggetastet hatten. Hände von Kindern, die sie aufgeschoben und den Blick in das Paradies gewagt hatten.
Lisa liebte es, wie sich der glatte Rahmen unter ihren Fingern anfühlte. Sie liebte auch das leise Knarren und den Geruch nach Holz, wenn sie die Tür vorsichtig öffnete. Nie war sie verschlossen, nie musste Lisa nach einer Klinke suchen. Und jede Nacht erwartete sie etwas anderes dahinter.
Was würde es diese Nacht sein? Eine Elfenstadt? Vielleicht eine Lichtung, umrahmt von Birken, beschienen vom goldenen Sonnenlicht? Einen Strand, wo der Regen leise vom Himmel herab gesprungen kam, um in den Wellen zu baden? Eine Burg, in deren großen, warmen Saal ein Barde sachte die Saiten einer Laute zupfte?
Lisa las. Ihr schmaler Zeigefinger wanderte mit der grimmigen Konzentration eines Kindes die Zeilen entlang, während Bilbo Beutlin und die dreizehn Zwerge ihren Weg durch Mittelerde ertasteten.
Sie hatte gebadet, ihr Haar war frisch gewaschen und duftete nach Zimt. Wie ein flauschiger Heiligenschein kitzelte es sie beim Lesen auf den Schultern.
Ihre Eltern brachten gerade den kleinen Bruder ins Bett. Lisa trug ihren Lieblingsschlafanzug aus Frottee. Er war grau, und ein heulender Wolf war darauf abgebildet. sie fühlte sich ganz warm, außer ihrer Linken, die eiskalt war, so fest umklammerte sie das Buch.
Aber Lisa machte sich nichts daraus. Sie wusste ja, dass ihre Hand bald wieder warm sein würde, wenn sie sie auf die Pforte der Traumwelt legen würde.
Sie ließ das Buch liegen, obwohl es gerade besonders spannend war. Der Drache Smaug griff die Stadt der Menschen an und spie Feuer und Verderben – aber die Traumwelt war dem Mädchen wichtiger als der Zwergenschatz.
Die Pforte klemmte ein wenig, und heute war die Traumwelt anders als sonst. Lisa war nicht allein, wie sonst so oft. Sie saß auf einem Baumstamm, in ein weißes Kleid gehüllt. Neben ihr trank das letzte Einhorn aus einem klaren Bach.
„Hallo, Lisa“, sagte das letzte Einhorn.
„Hallo, Lady Amalcia“, erwiderte Lisa ehrfürchtig.
Dann, nach einer Weile, fügte sie hinzu: „Darf ich dich streicheln?“
“Ich bin ein Einhorn, kein Pferd“, erwiderte dieses mit sanfter Stimme, senkte dann aber den Kopf und ließ zu, dass die Hände des Mädchens in seiner seidenglatten Mähne versanken.
„Warum bist du hier?“, wollte Lisa wissen. Sie drehte sich und streckte die Füße in den Bach. Das Wasser war kühl und fühlte sich ebenso seidig an wie die Mähne des Einhorns.
„Du wirst bald zu alt werden für die Traumwelt, Lisa.“ Die sanfte Stimme war einschmeichelnd und hüllte Lisa in ein Netz aus Trost. Sie hielt die heißen Tränen zurück, die bei dem Gedanken an traumlos schwarze Nächte in ihr brannten.
Das leuchtende, weiße Tier hob den Kopf, sodass die Hände des Mädchens aus seiner Mähne rutschten. „Es gibt keinen Grund für Tränen, Lisa. Es gibt so viel, was auf dich wartet.“
Das Mädchen legte die Stirn ans kühle Fell des Einhorns. Jetzt merkte sie, dass ihr heiß war, so, als würde sie fiebern.
„Ich muss gehen…“, sagte das Einhorn schließlich.
„Warum? Wohin?“
„Ich sage einigen Kindern, dass ihre Zeit hier zu Ende ist.“
„Warum du?“
„Weil du mich kennst – und weil andere Kinder mich kennen. Fuchur und Bastian helfen mir dabei. Jedes Kind, das hier ist, kennt Fuchur und Bastian.“
Lisa nickte traurig. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
„Sie geht zu Ende.“ Mit diesen Worten schritt das letzte Einhorn von dannen und ließ Lisa allein zurück.
Am nächsten Tag las Lisa den kleinen Hobbit zu Ende. Wie im Fieber verfolgte ihr Zeigefinger Bilbo und die Zwerge durch die Höhlen der Orks, die Paläste der Elben, in die Schlacht der fünf Heere hinein und zurück ins Auenland. Sie fieberte mit Bard, als er den Schwarzen Pfeil, seinen letzten Schwarzen Pfeil, an die Sehne legte und zielte. Sie atmete mit den Bewohnern der Stadt erleichtert auf, als der Drache mit einem letzten Feuerstoß in den See stürzte.
Sie weinte, als Thorin, Fili und Kili starben. Aber sie hörte nicht auf zu lesen.
Als der kleine Hobbit zu Ende war, weinte Lisa immer noch. Aber sie weinte, weil das Buch zu Ende war, nicht, weil Lobelia Sackheim-Beutlin Bilbo seine Löffel geklaut hatte.
Abends ging Lisa in die Bibliothek ihrer Eltern. Ein ganzer Raum voller Regale, die sich hoch über ihren Kopf erstreckten.
Lisa ging zum Fantasy-Regal, vorbei an Marion Zimmer Bradley und Wolfgang Hohlbein, zielstrebig ließ sie Terry Pratchett und Ralph Isau links liegen. Ein großes Buch, gebunden in schwarzes Leder war es, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.
Der Herr der Ringe.
Lisa griff danach, dann ließ sie die Hand wieder sinken.
Sie wollte wissen, was nun auf Mittelerde geschah.
Der Herr der Ringe lächelte sie an. Geheimnisse lagen zwischen den beiden ledernen Rücken dieses Buches verborgen. Geheimnisse, die eine Erwachsene sicher kennen sollte.
Lisa wusste aber, dass es nicht gut wäre, das Buch jetzt zu lesen.
Das Mädchen drehte sich um und verließ das Zimmer wieder.
An diesem Abend konnte Lisa lange nicht einschlafen. Aber als sie es dann tat, öffnete sich die Pforte nur zögernd.
Lisa fühlte, dass das Ende ihrer nächtlichen Reisen nahte.
Eine Lichtung offenbarte sich ihren Blicken. Und wieder war sie nicht allein.
Ein Mann saß an einem Lagerfeuer und briet ein Stück Fleisch über den Flammen.
Seine Schultern waren schmal, sein schwarzes Haar und fiel in langen Wellen über den Kragen seines Hemdes. Er trug eine Kettenrüstung, das konnte Lisa sehen.
In den Händen hielt er einen wunderbaren Langbogen, den er mit einem weichen Tuch polierte.
„Setz dich doch, Lisa“, sagte der Sohn von Brain.
„Du bist Bard, oder? Der, der Smaug erschossen hat?“ Lisa setzte sich nicht, blieb stehen. Heute war sie sie selbst, trug ihren Lieblingsschlafanzug aus Frottee.
„Ja, der bin ich.“
„Ich will nicht, dass die Pforte sich vor mir verschließt, Bard. Warum ist das so?“
“Das ist ganz einfach. Du siehst mich hier, oder nicht?“
„Ja, aber…“
„Und was wäre passiert, wenn du den Herrn der Ringe gelesen hättest?“
„Das weiß ich nicht, das habe ich doch gar nicht!“ Lisa war verwirrt.
„Weißt du – Bilbo und die Zwerge, sie sind hier irgendwo. Sogar Karl Löwenherz und Jonathan. Du hast sie hierher gebracht, mit deiner Fantasie. Aber die Figuren aus dem Herrn der Ringe sind erwachsen...“
„Und wenn Kinder erwachsen werden, können sie niemanden mehr zu sich holen?“
Bard wischte mit gleichmäßigen, liebevollen Bewegungen über den Bogen. “Das kommt erst später. Zuerst dürfen sie nicht mehr hierher. Und dann verlernen sie…“
„Das will ich nicht!“
Bard drehte sich halb zu ihr um, sodass Lisa sein hageres Gesicht sehen konnte. Seine Augen waren tief liegend und stechend. Die Farbe mochte grau sein, vielleicht blau.
Sein Blick fing den Lisas so spielerisch ein wie ein Drache, der im Flug eine Kuh von der Wiese schnappte. Lisa kannte sich da nicht aus, sie kannte nur Fuchur, und der fraß keine Kühe.
„Die Tür wird sich einmal schließen, Lisa. Nur einmal.“
Lisas Augen wurden groß. Sie nickte.
Und als sie am nächsten Abend einschlief, warf sie mit aller Kraft die Pforte hinter sich ins Schloss.