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Treffer! Versenkt!
Charly ließ seinen Blick schweifen. Die Landschaft vor ihm war hügelig und durch Rainhecken gegliedert, der lehmige Boden von Wasser durchtränkt. Auf den Kuppen und in den schmalen Tälern sah man kleine kahle Wälder, die sich schwarz vom schwärzlichen Grün der Wiesen und grau vom grauen Himmel abhoben. Dieses Grau war nicht dazu angetan, ihn von seinen trüben Gedanken zu lösen. Wie hatte das alles nur so furchtbar schief laufen können?
"Lasst es wie einen gewöhnlichen Autounfall aussehen", hatte Mr. Big ihnen in seiner ruhigen und sachlichen Art zu verstehen gegeben. Natürlich war Mr. Big nicht der Name, der in seinem Personalausweis stand, aber kein Mensch redete ihn mit "Herr Amelung" oder gar mit Hans-Rüdiger an. Der letzte, der dies in einem Anfall von Tollkühnheit getan hatte, lag schon lange auf dem Grund des Aasees.
"Ein Autounfall?", fragte Charly.
"Ein Autounfall", antwortete Mr. Big, "oder ist das ein Problem?"
"Kein Problem, kein Problem!" Charly hob beschwichtigend die Hände. Mario stand neben ihm und starrte Löcher in die Luft, eine Tätigkeit, die er aufgenommen hatte, seitdem sie Mr. Big's Büro betreten hatten. Stille breitete sich aus und bedeckte die Szenerie wie ein Leichentuch. Charly fröstelte, und das lag nicht an der Klimaanlage.
"Dann ist ja gut", schnaufte Mr. Big und wedelte sie mit seinen massigen Pranken aus dem Zimmer.
"Und nun?", fragte Mario. Sie hatten das Haus verlassen und waren auf dem Weg zum Parkplatz. Die Sonne brannte unerbittlich, doch in der Ferne kündeten die ersten dunklen Wolken von einem nahenden Gewitter.
"Jetzt fahren wir in die Stadt, und du besorgst uns einen Wagen", sagte Charly. Mit einer müden Handbewegung verscheuchte er eine Fliege, die ihn umschwirrte.
"Einen Wagen?" Mario sah ihn mit großen Augen an.
"Einen Wagen", sagte Charly, "du weißt doch, was das ist, oder?"
"Wir haben doch einen Wagen", sagte Mario.
"Bist du wirklich so bescheuert – oder tust du nur so?" Charly blieb stehen und schaute seinen Partner an.
"Langsam, langsam – beleidigen lasse ich mich nicht." Drohend kam Mario einen Schritt näher.
"Halt die Luft an, dich kann man gar nicht beleidigen."
Abrupt hielt Mario inne und versuchte, diese Information zu verarbeiten.
"Was glaubst du, wen die Bullen suchen werden, wenn wir den Typen mit meinem Wagen überfahren?", fragte Charly und ging weiter.
Mario dachte nach. Plötzlich erhellte sich seine Miene.
"Hey, jetzt hab' ich's." Er lachte ob dieser Erkenntnis.
Charly schüttelte in stiller Verzweiflung seinen Kopf. Leider war Mario nicht nur strohdumm, sondern auch der Neffe von Mr. Big.
"Genau", sagte er schließlich. "Deswegen müssen wir einen anderen Wagen benutzen. Den du, bitte schön, jetzt organisierst. Ich fahr dich in die Stadt und wir treffen uns später vor Freddies Imbissbude."
Inzwischen hatten sie den Parkplatz erreicht. Charly schloss den Wagen auf, ließ einen Schwall heiße Luft entweichen und schaute zu Mario rüber. "Hast du alles verstanden?"
"Ich bin doch nicht blöd", antwortete Mario und setzte sich.
Genau das bezweifelte Charly.
Eine Stunde später saßen sie in einem pinkfarbenen Cadillac und fuhren durch Münster. Charly schaute durch das Beifahrerfenster auf die pittoresken Häuschen, ohne sie wirklich zu sehen. Vor seinem geistigen Auge probierte er verschiedene Foltermethoden an Mario aus. Er war gerade dabei, eine Daumenschraube anzusetzen, als Mario die Stille unterbrach.
"Ich weiß gar nicht, was du hast, die Kiste schnurrt wie ein Kätzchen", schwärmte er.
"Kätzchen?", schrie Charly. "Dieser Wagen ist so auffällig wie ein rosa Elefant. Lass mich in Ruhe mit deinem Kätzchen."
Mario schaute rüber, sagte aber nichts.
"Auffälliger ging's wohl nicht", schob Charly hinterher.
"Der Schlüssel steckte, das habe ich dir doch schon erklärt", maulte Mario. "Und außerdem wollte ich schon immer mal so einen amerikanischen Schlitten fahren." Er grinste schon wieder.
"Da vorne rechts rein", knurrte Charly.
Mario fuhr die von Charly angegebene Route und parkte dann vor einem Hochhaus. Die nächsten Stunden verbrachten sie mit Warten. Sie rauchten, sie tranken Bier aus Dosen, das sie von Freddie gekauft hatten und das warm und schal war und sie beobachteten den Himmel, der immer dunkler wurde, ohne dass dies Kühlung brachte. Noch immer lag die Hitze über der Stadt wie eine Käseglocke. In dem Cadillac fing es langsam auch an zu müffeln wie in einer Goudastube.
"Da", rief Charly und deutete auf einen hageren Mann, der soeben das Haus verließ.
Mario drehte den Zündschlüssel. Nichts. Ein weiterer Versuch. Wieder nichts. Hektisch drehte Charly sich zu Mario.
"Was ist?"
"Keine Ahnung", sagte Mario und probierte es noch einmal. Nichts. Nicht das kleinste Zündgeräusch. Charly schaute nach vorne, wo der Hagere gerade um eine Ecke bog. Wie leicht wäre es gewesen, aus dem Auto zu steigen, dem Typen hinterher zu laufen und ihn mit einem gezielten Schuss in den Hinterkopf zu eliminieren. Aber der Befehl von Mr. Big war eindeutig gewesen. Lasst es wie einen Autounfall aussehen. Immer diese Extrawünsche.
"Mach was", schrie Charly.
Wieder und wieder drehte Mario den Zündschlüssel. Und als beide schon nicht mehr daran glaubten, sprang der Wagen an, als sei nichts gewesen.
"Gib Gas!"
Der Wagen schoss aus der Parklücke, was den Fahrer eines Kleinwagens zu einer Vollbremsung nötigte. Ohne sich um das wild einsetzende Hupen zu kümmern, fuhr Mario weiter und schleuderte mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße, in welcher der Hagere vor wenigen Minuten eingebogen war. Mit einer ruckartigen Bewegung lenkte Mario den Cadillac auf den Bürgersteig, doch durch den Lärm aufgeschreckt, hatte der hagere Mann sich umgedreht und brachte sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Der Cadillac schoss an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren. Ein alter Mann hatte nicht so viel Glück. Wie eine Gummipuppe flog er durch die Luft, knallte auf das Dach des Cadillac und blieb mit verrenkten Gliedern auf dem Asphalt liegen.
"Voll auf die Acht", jubelte Mario.
Charly schaute ihn entgeistert an.
"Das war der Falsche". Er stöhnte. "Nix wie weg, bevor die Bullen kommen."
Sie rumpelten über die Bordsteinkante zurück auf die Straße und bogen, noch immer mit quietschenden Reifen, um die nächste Ecke. Kaum hatten sie die Grevener Straße erreicht, beschleunigte Mario. Kurz hinter Sprakel fing es an zu regnen. Innerhalb von Sekunden entlud sich der inzwischen pechschwarze Himmel und es goss in Strömen. Blitze zuckten und der Regen prasselte wie Maschinengewehrfeuer auf das Dach des Cadillac.
"Stopp mal", rief Charly plötzlich.
Mario trat auf die Bremse und der Wagen kam schleudernd zum Stehen.
"Was ist denn?"
"Wir sind geblitzt worden", sagte Charly.
"Quatsch – das war das Gewitter."
"Nix Gewitter. Lass uns zurückfahren und nachschauen."
Mario zog die rechte Augenbraue nach oben, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Nach wenigen Metern ließ Charly ihn anhalten.
"Da, schau!", sagte er und zeigte auf einen im Regen kaum zu erkennenden grauen Kasten.
"Na und?", sagte Mario und grinste, "ist doch nicht unsere Karre. Deswegen habe ich den Wagen doch ausgeliehen."
"Du Depp", polterte Charly los. "Auf dem Foto ist doch nicht nur der Wagen zu sehen."
"Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?", fragte Mario.
"Uns das Foto besorgen, was denn sonst?".
Mit einem Blick nach draußen meinte Mario: "Das kannst dann aber du erledigen. Es schifft wie Sau."
Genervt schaute Charly zu seinem Partner, dann öffnete er die Beifahrertür und stieg aus. Der Regen prasselte mit voller Wucht auf ihn nieder und innerhalb von Sekunden war er komplett durchnässt. Lautstark Mario und dessen Blödheit verfluchend öffnete er den Kofferraum. Abrupt verstummte er. In dem Kofferraum lag ein Sack. Der Mann, dessen Kopf aus dem Sack herausragte und ihn aus toten Augen anstarrte, hatte sich nicht zum Schlafen in den Kofferraum gelegt.
"Scheiße, Scheiße, Scheiße", war alles, was Charly dazu einfiel.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Langsam und auf das Schlimmste gefasst, drehte Charly sich um. Und das Schlimmste stand vor ihm. Ein uniformierter Freund und Helfer, die Hände locker auf den Hüften liegend. Hektisch blickte Charly von rechts nach links. Wo kam der Kerl nur so plötzlich her?
"Danke. Nein. Alles in bester Ordnung", beeilte sich Charly zu sagen, während er mit der rechten Hand nach irgendetwas suchte, um das Gesicht des Toten zu bedecken.
Der Bulle kam näher und schaute interessiert an Charly vorbei in den Kofferraum.
"Was ist denn das?", fragte er, während Charlys krabbelnde Finger fündig wurden und sich um glattes, kaltes Metall schlossen. Mit einer gleichmäßig fließenden Bewegung, die jeden Baseballspieler vor Neid hätte erblassen lassen, zog Charly dem Uniformierten ein Radkreuz über den Schädel.
"Musste das sein?", fragte Mario.
"Halt die Klappe, ich muss nachdenken."
Sie fuhren durch den inzwischen nachlassenden Regen Richtung Rheine. Bis Emsdetten sprach keiner ein Wort, dann fing Mario wieder an zu nörgeln. "Wie soll ich das nur meinem Onkel erklären?" Genau das war die Frage, die Charly sich auch stellte. Nicht nur, dass sie den Auftrag vermasselt hatten, nein, sie fuhren auch noch mit zwei Leichen im Kofferraum durch die Gegend. Eine davon ein Bulle. Ein inzwischen gewesener Bulle. Der Schlag mit dem Radkreuz war nicht nur gekonnt ausgeführt, sondern absolut tödlich gewesen.
"Er wird bestimmt nicht glücklich sein, wenn wir mit zwei Leichen im Kofferraum bei ihm aufkreuzen."
Das war Charly auch klar, aber sie mussten die beiden Leichen so schnell wie möglich loswerden, und das ging am besten auf dem weitläufigen Gelände, auf dem Mr. Big's Landhaus stand. Notfalls könnte man die Beiden auch im Aasee versenken – aber nicht heute. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man den Bullen vermissen und sein verlassenes Fahrzeug finden würde. Dann würden sie das Blut auf der Straße entdecken und eine Großfahndung lostreten. Falls das noch nicht passiert war. Ein ermordeter Kollege, da verstand die Ordnungsmacht keinen Spaß. Charly fröstelte. Wurde Zeit, dass sie ihr Ziel erreichten. "Drück doch mal auf die Tube", sagte er.
"Aber vorhin..."
"Interessiert mich nicht. Gib Gummi"
Zehn Minuten später bogen sie auf den Waldweg ein, der zu Mr. Big's Anwesen führte. Der Cadillac wühlte sich durch den vom Regen aufgeweichten Boden. Dornenranken kratzten mit einem hässlichen Geräusch über den Lack des Fahrzeugs. Schließlich erreichten sie die Absperrung. Charly stieg aus und versank bis zu den Knöcheln in einer Pfütze. "Verdammte Scheiße!" Fluchend ging er weiter. Er rollte die Absperrung zusammen, lehnte sie gegen einen der Pfosten und gab Mario ein Zeichen. Der wollte losfahren, doch die Räder des Cadillac drehten durch. Mario gab noch mehr Gas und der Wagen wühlte sich in die feuchte Erde.
"Hör auf", brüllte Charly und hieb mit der flachen Hand auf die Motorhaube.
Mario würgte den Motor ab und stieg aus.
"Schau dir den Mist an", tobte Charly und zeigte auf seine Hose und dann auf den Wagen, dessen Räder kaum noch zu sehen waren.
"Kann doch jedem mal passieren", sagte Mario kleinlaut.
"Als ob wir nicht genug Scherereien hätten." Charly drehte sich um und ging Richtung Waldrand.
"Was machst du?", rief Mario ihm hinterher.
"Äste suchen, was sonst? Und du hilfst mir gefälligst."
Sie platzierten mehrere dicke Äste vor jedem Reifen. Dann wollte Mario einsteigen. Charly hielt ihn zurück. "Das mache ich selbst, sonst wühlst du uns noch bis Wuppertal."
Mario maulte, trat aber dennoch zurück. Charly stieg ein, kurbelte das Fenster nach unten und beugte sich hinaus. "Nach hinten. Anschieben", kommandierte er.
Mario schob, Charly gab vorsichtig Gas, doch der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Charly trat das Gaspedal weiter durch, der Cadillac ruckelte, Matschbrocken flogen, Mario schrie getroffen auf, woraufhin Charly sich nach hinten drehte, um zu sehen, was sein Partner nun schon wieder für ein Problem hatte. Genau diesen Moment hatte sich Mr. Big ausgesucht, um wie aus dem Nichts aufzutauchen und nachzuschauen, was die beiden Volltrottel mit der rosa Karre auf seinem Grundstück machten. Er ging schweren Schrittes auf den Cadillac zu, dessen Räder inzwischen griffen. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, es gab einen kurzen, aber heftigen Schlag, dann befand sich Mr. Big nicht mehr vor, sondern hinter dem Cadillac. Zu Marios Füßen sozusagen, wobei dieser bildhafte Vergleich nicht ganz stimmte, da Mario, durch die plötzliche Beschleunigung des Wagens überrascht, mit rudernden Armen in den Matsch gefallen war, während Mr. Big über den Cadillac geschleudert wurde, etwas, das man bei dem Gewicht dieses Mannes nicht für möglich gehalten hätte. Gemildert wurde sein Fall durch Mario, der nun unter Mr. Big lag, das Gesicht in den Matsch gedrückt und langsam erstickte. Leider nutzte Mr. Big der weiche Landeplatz nichts mehr, denn durch die Aufregung hatte sein verfettetes Herz aufgehört zu schlagen. Bis Charly sich von seinem Schrecken erholt, den Cadillac angehalten und ausgestiegen war, lagen Onkel und Neffe friedlich im Tod vereint übereinander. Charly stand minutenlang vor den beiden Toten, ohne wirklich glauben zu wollen, was er sah, dann ging er zum Cadillac zurück, setzte sich auf die Motorhaube, steckte sich eine Zigarette an und überlegte, wie er aus diesem Schlamassel herauskommen könnte. Er ließ seinen Blick schweifen. Die Landschaft vor ihm war hügelig und durch Rainhecken gegliedert, der lehmige Boden von Wasser durchtränkt. Auf den Kuppen und in den schmalen Tälern sah man kleine kahle Wälder, die sich schwarz vom schwärzlichen Grün der Wiesen und grau vom grauen Himmel abhoben. Charly schüttelte sich, vertrieb die grauen Gedanken, die ihn überfluten wollten, und beschloss, dass es an der Zeit war, mal wieder zum Aasee zu fahren.