Trichteranus
Ich habe mir bereits als kleiner Junge viele Gedanken über alle möglichen schlimmen Krankheiten gemacht. Filme, in denen es um die Pest oder geheimnisvolle Tropenviren ging faszinierten mich und ich konnte mich so lange heimlich gruselnd in Sicherheit wiegen, bis mir sprichwörtlich ein Furz quer steckte. Dann vermutete ich sofort das schlimmste und sah mich vor meinem geistigen Auge bereits mit all den anderen unglücklichen Seelen, die der schwarze Tod bereits ereilt hatte, auf dem flackernden Scheiterhaufen. Damit möchte ich keinesfalls den Eiferern beifüttern, die Spielekonsolen und Fernsehern die Schuld dafür geben, wenn sie von ihren eigenen Kindern Motherfucker genannt werden oder wenn irgendwo eine kopflose Leiche gefunden wird. Ich war noch im Kindergarten, als ich unter Tränen meine Mutter anflehte mit mir zum Arzt zu gehen, weil ich neben am Hals einen erbsengroßen Knubbel unter der Haut ertastet hatte. „Es tut nicht weh, aber ich habe Angst, dass es Krebs ist“, deutete ich der staunenden Kinderärztin die Stelle. Diese diagnostizierte in Sekunden eine harmlose, verstopfte Talgdrüse und wollte gerade anfangen meiner Mutter pädagogische Ratschläge zu erteilen, als sich herausstellte, dass mein Vater DER „Stationskrankenpfleger Kirsch“ war, den sie als AiP´lerin auf der MI03 kennen gelernt hatte. Der Never-come-back-Krebsstation der Uniklinik Homburg. Natürlich hätte mir mein Vater niemals mit reißerischen Geschichten Angst machen wollen, aber ab und an schnappte ich ein paar Brocken auf, wenn er sich nach einer 12-Stunden-Schicht von meiner Mutter die Seele massieren lies. Als ich älter war änderte sich das schlagartig: Bei entsprechender Gelegenheit bot er mir mit großen Augen und hochgezogenen Brauen an, morgen mit ihm zur Arbeit zu gehen und mir Herrn Schmidt, Meyer oder Müller anzusehen, die in den letzten Zügen einen vergeblichen Kampf gegen den Krebs führten, der durch Rauchen, Trinken oder andere Drogen entstanden war. Dann schilderte er in farbenfrohen Bildern wie es ist, wenn sich ein Alkoholiker mit Leberzirrhose im Endstadium die Gedärme aus dem Leib kotzt und ich schmunzelte dabei, denn ich war ein kerngesunder 15 Jähriger, der vor nichts Angst hatte – zumindest offiziell.
Im Sommer ´98 bemerkte ich Blut auf dem Toilettenpapier. Ich dachte mir zunächst nichts dabei; man putzt sich halt irgendwann mal wund, wenn man fast täglich große Mengen gegrilltes Schweinefleisch mit noch größeren Mengen Flaschenbier runterspült. Zwei Tage später war da noch immer Blut und es war ein Gefühl hinzugekommen, das von unbestimmtem Unwohlsein, über unerträglichem Jucken bis hin zu starkem Brennen variierte. „Hämorrhoiden“, war Martins Diagnose. „Die sind erblich und kommen außerdem von ungesunder Lebensweise“, wusste Matze, der gerade eine leere Currywurst-Pommes rot-weiß-Schale von sich weg schob und zur Bekräftigung herzhaft rülpste. „Na ja, wenigstens etwas, was wir mal von unseren Alten erben“, fügte er hinzu bevor er sich seine Verdauungszigarette anzündete. Otze runzelte mahnend die Stirn. „Ur-Pils macht Hämorrhoiden“, so seine Theorie, für die er vom gesamten Tisch ausgelacht wurde. „Was meint ihr wohl, warum die ganzen alten Hasen hier nur Export saufen?“, sagte er mit provokanter Weisheit in der Stimme und nickte dezent zum Nebentisch, an dem sich Massängs Rentner-Stammtisch offensichtlich bester Gesundheit, gerade im Bereich des Sitzfleisches erfreute. Irgendjemand wollte die Sache ausdiskutieren, aber ich merkte, dass ich so nicht weiterkam und suchte Rat in einem Männergespräch unter vier Augen. „Hämorrhoiden“, sagte mein Vater, der bereits vor Jahren von Ur-Pils auf Weißwein umgestiegen war, allerdings nicht wegen Otzes dubioser Theorie, sondern aufgrund frisch diagnostizierter Diabestes, deren Aussicht auf Beerbung mir zuweilen etwas im Hals steckt. Ich ertastete meine verstopfte Talgdrüse am Hals, die ich noch heute kontrolliere, um sicher zu gehen, dass sie nicht wächst und sich nach Jahren als besonders heimtückische Form eines Geschwulstes entpuppt. Natürlich eines bösartigen. „Und wenn es Darmkrebs wäre, hätte man doch sicher Bauchschmerzen wie verrückt, oder?“, fragte ich den erfahrenen Krankenpfleger, dessen Rat nach eigenen Angaben von Assistenzärzten ebenso gerne eingeholt wurde wie von allen möglichen Freunden und Bekannten. „Krebs tut am Anfang gar nicht weh“, sagte er fast gelangweilt, während er seine Bild-Zeitung umblätterte. „Denn dann würde man es ja merken und könnte rechtzeitig zum Arzt gehen…er tut meistens erst dann weh, wenn es zu spät ist“. „Welche Untersuchung führt denn so ein…äh, Arschdoktor durch?“, wollte ich wissen, wobei mir die Antwort natürlich schon klar war und ich lediglich etwas väterliche Ermutigung erhaschen wollte. „Kommt drauf an“, schmunzelte Sepp, „auf jeden Fall wird er mal reinschauen. Das kennst Du doch noch von der Musterung“: Nein, ich kannte es nicht von der Musterung, denn die Tauglichkeitsuntersuchung war in Klasse 12 Top-Thema aller Dosenbier-Frühstücke auf dem Schlossberg, von dem aus wir mit einem entspannten Blick auf die Stadt gerne die eine oder andere Schulstunde verbrachten. Diejenigen, die den Termin bereits hinter sich gebracht hatten, geizten nicht mit wilden Geschichten und guten Tipps, um das Ergebnis in die gewünschte Richtung zu manipulieren. Höhepunkt einer jeden Erzählung war der EKG, der „Eier-Kontroll-Griff“, wenn die Geschlechtsorgane untersucht wurden und immer die Frage eingestreut wurde, ob der Arzt männlich oder weiblich war. „Und direkt nach dem Husten fragt er dann, ob du Hämorrhoiden hast“, konnte ich mich erinnern, „dann muss man sofort <nein> sagen, denn wenn man sagt <weiß nicht>, heißt es <umdrehen, bücken!>“. Ich hatte diesen Rat befolgt und so gesehen seit ich stubenrein war niemanden mehr an meinen Hintern ran gelassen.
Ohne den Umweg über den Hausarzt lies ich mir einen Termin beim Facharzt geben. Alleine das Wartezimmer war den Besuch wert: Als ich herein kam, senkte ich den Altersschnitt um etwa 30 Jahre. Die sonst gut gelaunten alten Leutchen, die sich morgens um halb acht die Zeit beim Hausarzt zu vertreiben pflegen, bis endlich der Supermarkt aufmacht, saßen stumm und in gleichmäßigen Abständen verteilt auf den aus gegebenem Anlass gut gepolsterten Wartezimmerstühlen und hielten sich eine Zeitschrift vors Gesicht. Ich hatte mir vorgenommen cool zu sein und so schmetterte ich ein frisches „Morgäään!“ in die greise Runde, das mit einem vereinzelten Brummen beantwortet wurde. „Es ist überhaupt nichts dabei“, redete ich mir ein, „die Mädels haben auch Schiss vorm ersten Besuch beim Frauenarzt und nach ein paar Jahren ist es ihnen egal, ob sie zur Routineuntersuchung dorthin oder zum Zahnarzt müssen“. Die Vorstellung von Frauen beim Gynäkologen lies plötzlich eine Alarmglocke in meinem Kopf läuten. Würde es da drinnen auch so einen Untersuchungsstuhl geben? Und wenn ja, würde der Arzt dann mit einer Hand mein Gemächt aus dem Blickfeld räumen müssen, oder gar die Sprechstundenhilfe damit beauftragen? Die Spannung stieg und ich schnappte mir eine Senioren-BRAVO mit dem Titel Apotheken-Rundschau, um sie mir vor die rote Birne zu halten.
Der Arzt war auf den ersten Blick Vertrauen erweckend. Ein gepflegter, eher klein und fast schmächtiger Mann Anfang 60 mit einer Art Mönchsfrisur, bei der nur noch außen herum ein kleiner Kranz steht, der mit seiner Hornbrille in den späten Sechzigern hängen geblieben war. Sein Händedruck war eher zaghaft und bereits die Frage nach meinem Anliegen klang sehr diskret. Als ich die verschiedenen Nuancen meines rektalen Befindens gestenreich schilderte, fiel er mir ins Wort und meinte, er wolle sich „das“ mal ansehen. Er bat mich nach nebenan ins Untersuchungszimmer wo ich gleich doppelte Erleichterung verspürte: Es gab keinen Frauenarztstuhl, sondern eine ganz normale Pritsche und, was noch viel besser war, weit und breit keine Arzthelferin. Als ich dermaßen ermutigt mit dem Ausziehen begann kippte die Situation ins Gegenteil. Genau in dem Augenblick als ich meine Hose öffnete erblickte ich das kleine Kniebänkchen vor der Pritsche und Sandra Bullock betrat als Sprechstundenhilfe verkleidet das Zimmer. Es gab kein Zurück und so kniete ich mich, was zweifelsfrei neben der Zweckmäßigkeit des Untersuchungsgerätes auch die erste Stufe der nun folgenden Erniedrigung unterstrich. Mit dem Oberkörper legte ich mich vornüber auf die Schlachtbank, an der ich mich mit schweißnassen Händen auf beiden Seiten fest klammerte. „Entspannen Sie sich“, sagte der Arzt „ich sage Ihnen immer bescheid, bevor ich etwas mache“ – in jeder anderen Situation hätte ich eine dumme Antwort parat gehabt. Als er den Standard-Spruch „Dann schauen wir uns das mal an“ brachte, dachte ich nicht weiter darüber nach. Ich spürte wie er mir die Arschbacken auseinander zog und da er wohl kaum mich gemeint haben konnte sagte er zu seiner bildhübschen Assistentin „Oh, schauen sie mal: Ein Trichteranus!“. Ich hatte keine Ahnung was er meinte, als er mir zu dieser anatomischen Besonderheit gratulierte. Meine Augen waren zusammen gekniffen und ich war durch und durch verkrampft. Stufe zwei: „Ich führe jetzt einen Finger ein“, und ich musste beinahe vor Verzweiflung lachen, denn ich hatte bei der Begrüßung nicht bemerkt, dass der Mann große Hände hatte. Mit langen, dicken Wurstfingern. Als er mich erneut aufforderte mich zu entspannen und nicht so verkrampft zu sein, bekam er lediglich ein gepresstes Ächzen zur Antwort. Jetzt legte er den dritten Gang ein. „Das Rektoskop ist ein dünnes Metallröhrchen“, erklärte er „das ist nicht so schlimm“. Es war auch nicht die Dicke, die mir nun zu schaffen machte, allerdings kam ich mir vor wie ein Spanferkel, das für den Grill vorbereitet wird während ich mich fragte, ob er nicht gleich oben in der Speiseröhre angelangt sei. Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Das Gerät und die damit verbundenen Schmerzen waren verschwunden und die sich entfernenden Schritte meines Peinigers waren begleitet von der Anweisung mich anzuziehen und ins Sprechzimmer zu kommen. Völlig entkräftet stand ich auf und mittlerweile war mir auch Sandra Bullock völlig egal, die mich anlächelte und mir ein Papiertuch hinhielt. Dankbar wischte ich mir mit dem Tuch den Schweiß von der Stirn, als sich ihr Lächeln in ein freundliches Lachen verwandelte und sie mir ein zweites Tuch reichte. Als ich auch dieses zum Schweiß abtupfen nutze, verschwand sie noch immer lachend mit einem leichten Kopfschütteln durch eine andere Tür. „So ein Scheiß“, dachte ich „von wegen, die sehen so was jeden Tag zwanzig mal. Entweder die Tante hat so richtig Spaß an der Arbeit, oder mein Arsch war besonders komisch“.
„Hämorrhoiden“, sagte der Arzt wie erwartet „haben Sie keine“, es handelte sich lediglich um eine harmlose Entzündung, die viele Ursachen haben konnte. Er verschrieb mir eine Salbe, die mit einem Plastikröhrchen-Aufsatz direkt in den Po verabreicht werden sollte und versprach mir innerhalb kürzester Zeit Linderung. Ich bedankte mich artig, bewunderte beim Handschlag kurz ihre enorme Größe und verließ die Praxis durch das Wartezimmer, wo ich mich mit einem Brummen von der Rentnerbank verabschiedete. Als die Tür hinter mir zufiel und ich mich ungesehen wieder ins Kleinstadttreiben der normalen Leute einreihen konnte, verspürte ich enorme Erleichterung und auch das Gefühl in meinem Hintern, das ja zuweilen ein sehr schmerzhaftes war, hatte sich in ein, sagen wir mal „geschmeidiges“ gewandelt, obwohl ich die Salbe noch gar nicht ausprobiert hatte. Zu Hause angekommen sperrte ich mich im Bad ein um dies zu tun und sog dabei beinahe die ganze Tube in mich auf – und das war das Stichwort: Creme. Gleitcreme. Sie erklärte alles. Das Flutschen des Plastikröhrchens gerade eben, das im wahrsten Sinne des Wortes cremige Gefühl auf der Heimfahrt und vor allem das dämliche Lachen von Sandra Bullock, von der ich mir so schnell bestimmt keinen Film mehr ansehen würde.