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Trip Like I Do
Christoph hatte sich sein Leben gerne als Schallplatte vorgestellt.
Kein seltenes Exemplar, das auf Ebay Höchstpreise erzielt. Aber auch kein Ramsch. Das Label wäre schlicht, ein einfacher rot-schwarzer Schriftzug. Mit pulsierendem und melodischem Techno. Keine große Abwechslung, aber viel Leidenschaft. Die Art von Scheibe, die man gerne am Crossfader einblendete, damit man den Groove halten konnte.
Aber mittlerweile war er zum Ladenhüter geworden. Das Vinyl, das immer zwischen den anderen steht, bis man es einfach im Restmüll entsorgt. Und umdrehen konnte er die Platte auch nicht mehr. Nicht als fast 50-jähriger Versager.
Seine dunklen Haare wurden jetzt dünn und grau, die Deichmann Turnschuhe hatten Löcher und seine Jeansjacke würden sie selbst in der Altkleidersammlung aussortieren. Der abgewetzte Ledersessel knarzte, als er den Blick über die skelettartigen Metallregalen schweifen ließ. In manchen Fächern steckte noch ein kläglicher Rest unverkäuflicher Platten, aber größtenteils waren sie leer.
Die „5 für 25 Euro“-Aktion war ein Erfolg gewesen, auch wenn das Geld weiterhin nur für einen lauwarmen Döner reichte.
Es kratzte im Hals, als er den letzten Bissen hinunterwürgte und nicht darüber nachdenken wollte, warum diese beschissene Imbissbude ihren Fraß nie heiß servierte. Vielleicht war es nur Glück, dass er sich in den letzten 20 Jahren keine einzige Magenverstimmung eingefangen hatte. Oder Ali gab ihm das gute Zeug und sparte sich verdorbenes für die Laufkundschaft auf.
Der Türke. So hatte er sich damals vorgestellt, als Christoph drei Häuser weiter sein Geschäft eröffnet und sich das erste Mal ein Mittagessen geholt hatte. In Wirklichkeit hieß er Andreas und kam aus dem Saarland. Aber dafür hatte er Geschäftssinn und wusste, dass er „Türkische Spezialitäten“ besser mit einer Portion Authentizität verkaufte. Und Christophs Plattenladen war ein weiterer Glücksfall für ihn gewesen. Weil sich damit die Laufkundschaft in dieser kleinen Seitenstraße verdoppelte. Sie kamen ins Heartbeat zum Musik kaufen und zum Ali um Fastfood zu essen. Das lief ein paar Jahre ziemlich gut.
Aber irgendwann gingen viele zuerst zum Essen und danach einfach am Plattenladen vorbei.
Dann begann die Pandemie. Und danach kam niemand mehr. Der Türke entdeckte Lieferando und verdiente noch mehr Geld. Christoph entdeckte Streaming und dass es seinem Laden den Gnadenstoß verpasst hatte. Ende des Sets ohne großen Applaus.
Zwei Jahrzehnte hatte er flüchtigen Melodien, dem perfekten Beat und dem ins Herz treffenden Song nachgejagt. Tagsüber Platten verkauft und nachts im Hinterzimmer des Ladens an seinen Demos gearbeitet. Bis er statt Flyern und Plattenhüllen immer mehr Rechnungen, Mahnungen und schließlich Gerichtsbeschlüsse sortierte. Und sich selbst eingestand, dass seine selbstproduzierten Platten in den Regalen den meisten Staub ansetzten. Am Ende gab es nur noch einen abgerissenen Karton hinter der staubigen Fensterfront auf den er mit Filzstift „Ladenschließung – Alles muss raus“ gekritzelt hatte. Ein dunkelbrauner Grabstein aus Pappe.
Die letzten Sekunden der Chemical Brothers schepperten aus kleinen Computerboxen. Schon vor Monaten hatte er die großen Standlautsprecher verkaufen müssen. Danach hatte er auch gleich den Plattenspieler und Verstärker eingepackt. Die neonfarbenen Lampen an der Decke abgeschraubt und die Poster von den Wänden genommen. Zurück blieb ein leerer Raum und die Frage, ob es das gewesen war?
Folgte jetzt ein Pendeln zwischen Hilfsjobs und Bürgergeld? Zu alt für einen Neustart und zu jung zum Sterben? Er lauschte den passenden Lyrics - „How does it feel like to spend a littlelife time sitting in the gutter?“ - als er die E-Mail bemerkte. Und die Welt stand still. Die Musik drang nur noch dumpf zu ihm und sein Atem setzte aus. Er blinzelte, weil er sich nicht sicher war, ob er richtig gelesen hatte.
Absender Franziska Steiner. Betreff: Wiedersehen.
Seine Finger fühlten sich taub an, als er nach unten scrollte.
Christoph,
Ich habe versucht, dich anzurufen. Ist die Nummer nicht mehr aktuell? Wir müssen uns treffen. Nächsten Mittwoch 18:00 Uhr im La Trattoria. Bitte schreib mir schnell zurück. Du musst kommen. Eymen habe ich auch eingeladen. Es ist wichtig! Ich habe momentan viel zu tun. Wenn ich dich auf diese Art auch nicht erreiche, muss ich deinen Vater fragen, wo du steckst. Bitte melde dich.
Grüße
Franzi
Immer wieder knetete er sein stoppeliges Kinn, während er das vom Döner verursachte Sodbrennen unterdrückte. Das Telefon hatte er schon vor Wochen abgemeldet. Zu viele nervende Geier, die mit ihm um weitere Preissenkungen für seinen Bestand verhandeln wollten. Jetzt verfluchte er sich dafür. Sein Herz pochte, als er sich den Klang ihrer Stimme vorstellte. Wie hätte sie wohl geklungen nach all den Jahren? Und was hätte sie ihm erzählt?
Die Nachricht war knapp. Kühl und fast telegrafisch. Und warum Eymen? Nach fast 30 Jahren? Eine dunkle Ahnung kroch aus seinem Unterbewusstsein. Etwas, dass er sich nicht ausmalen wollte und konnte. Und doch war es da.
„Franzi…“, hauchte er in die staubige Stille.
Und er sah sie. Nicht grobkörnig, sondern gestochen scharf.
An diesem letzten Sommer in Italien. Als die späte Augustsonne den Strand vor dem ligurischen Meer in geschmolzenes Gold tauchte. Seine Hände, die ihre weiche Haut mit einer Mischung aus Sand und Sonnencreme massierten. Der Geschmack von Campari und Nudeln. Und ihr Bruder mit dem Surfbrett im Abendlicht. Mit blau und rot gefärbter Igelfrisur, das hagere Gesicht immer von einem Lächeln erhellt. Daneben Eymen mit den schwarzen Locken und der schäumenden Bierdose. Dünn und mit dunkler Haut, weil er im Gegensatz zum Imbiss-Ali tatsächlich türkische Wurzeln hatte. Seine beiden besten Freunde und ein Engel. Jung und unbesiegbar, weil sie es nicht besser wussten.
Seine Augen wurden feucht. Er schluckte mehrmals hintereinander, aber das Gefühl blieb.
Komme, tippte er als Antwort.
Ach das ist Caro! Wartet kurz! Eymen drückte das Smartphone ans Ohr und stand auf.
Christoph sah die Wölbung des Bauchs, die auch der Maßanzug nicht verstecken konnte. Die einsetzende Stille war gewaltig aber auch erholsam. Zuvor hatte er auf endlos viele Fotos von Eymens Kindern und seiner Frau starren müssen.
Hatte einseitige Gespräche über den Posten als Manager, sein halb abbezahltes Eigenheim und die Bundesliga erduldet.
Fußball, verdammt! Das Eingeständnis bürgerlicher Beliebigkeit.
Früher hätten sie über so jemanden gelacht. Als sie sich noch für cool hielten und die Sweatshirts wie Zelte an Eymens dürrem Körper hingen. Im Stadtpark hatten sie warmes Dosenbier getrunken und von einer Karriere als DJ geträumt. Und jetzt war einer Manager und der andere arbeitslos und pleite.
Trotzdem wollte Christoph nicht tauschen. Bevor er sich über Fußball unterhielt, bezog er lieber Bürgergeld.
Schnell trank er einen Schluck Wein, der ihm nicht schmeckte und schob die Speisekarte weg. Er hatte keinen Hunger und wusste auch, dass sie nicht zum Essen hier waren.
Seine Fingernägel kratzen über die Tischdecke. Steif und kalt wie Franzis Schweigen. Sie hatten ein einsames Hallo ausgetauscht. Keine Umarmung, keine weiteren Worte. Deswegen hatte er so schnell etwas zu trinken geordert. Immer mit dem Gedanken Beim nächsten Schluck frage ich! Aber der Mut verließ ihn jedes Mal und am Ende hatte er nur noch sauren Traubengeschmack im Mund.
Sie blickte kein einziges Mal in die Karte, und er wusste, dass sie auch nichts bestellen würde. Die Muskeln in seinen Beinen fühlten sich taub an. Wie damals, als die Ergebnisse der Abiturprüfungen aushingen, und er schon ahnte, dass er durchgefallen war. Nur viel schlimmer. Es gab noch einen Rest des unsichtbaren Bandes. Mehr als die Erinnerungen an ihre umschlungenen Körper und die nach Unendlichkeit schmeckenden Küsse. Die Vertrautheit war noch da und deswegen wusste er genau, worum es hier ging. Der Schatten ihres Bruders hing über diesem Tisch.
Vorwürfe und Schuldzuweisungen lauerten hinter dem hellen Klimpern des Bestecks. Schmerzhafte Worte, vor denen er sich zwei Jahrzehnte versteckt hatte.
Und dass sie immer noch so schön war, machte es noch schlimmer. Natürlich waren da graue Strähnen in ihrem blonden Haar. Falten in den Mundwinkeln und hagere Wangen. Aber ihre graublauen Augen leuchteten immer noch wie ein Gletscher im Sonnenlicht.
Früher hatte sie die gerne unter herzförmigen Sonnenbrillen versteckt. Damals, als sie sich die Haare grün färbte und diese herrlichen Bleistiftzeichnungen anfertigte. Sie hatte Kunst studieren wollen. Und verdammt, sie wäre wirklich gut gewesen!
Der Stiel des Weinglases zerbrach fast unter dem Druck seiner Finger. Er holte tief Luft und wollte es endlich aussprechen, als Eymen zurückkehrte.
Ich soll euch von Caro grüßen, sagte er, als würden sie seine Frau gut kennen. Und? Schon was gefunden? Er setzte sich und wedelte wie ein Zeitungsverkäufer mit der Speisekarte. Die Vongole hier sind superb! Oder Nudeln. Die walzen sie selbst aus!
Inhaltsleeres Geplapper, als hätte er einen Werbevertrag mit dem Restaurant abgeschlossen.
Es war genug. Christoph wollte aufstehen. Zur Toilette oder besser einfach nach Hause gehen. Doch jetzt hob Franzi die Hand. Ihre Züge wirkten müde und traurig.
Ich muss euch was sagen. Beiden entging das Zittern ihrer Stimme nicht.
Man hörte das gleichmäßige Murmeln der anderen Gäste. Die klackenden Absätze der Kellner und den gedämpften Straßenlärm von draußen. Aber der Bereich um ihren Tisch wurde immer stiller. Als hätte man eine große Käseglocke darüber gestülpt. Das stumme Leiden in Franzis tonloser Kälte und Eymens unangenehme Verwandlung in einen fremden Anzugträger war nur das Vorspiel gewesen. Er konnte die Katastrophe fühlen. Die Lawine rollte nicht nur, sie war kurz vorm Einschlagen. Und schließlich fiel der Satz.
Marco ist tot!
Die Worte hingen kalt und schwer in der Luft. In kitschigen Filmen wäre Franzi jetzt schluchzend zusammengebrochen, Christoph hätte sie umarmt und Eymen Wieso? Wieso? gerufen. Aber sie redete einfach weiter. Nüchtern, tonlos wie ein Nachrichtensprecher, während sie von den beiden Männern angestarrt wurde, die sich nicht bewegen konnten.
Das Herz war es. Es war schon zu angegriffen. Sie blickte zu Christoph, der sein Gesicht in den Händen vergrub.
Du weißt ja, fuhr sie fort, welche Nebenwirkungen die Medikamente hatten.
Er ließ die Arme sinken. Griff zum Glas und trank es leer. Nicht daran denken. Diese letzte Begegnung im April. Ein Abgrund von 20 Jahren.
Marco, der geisterhaft durch die Wohnung schlich. Torkelnd zwischen Panikattacken, Depressionen und epileptischen Anfällen. Ihr Bruder, der das Leben so fest umarmt hatte.
Und dann nichts mehr aß, nicht mehr redete und keine Musik mehr hörte. Minutenlang über sein altes Surfbrett streichelte, ohne die toten Augen abzuwenden. Und wie Christoph sich selbst verprügeln wollte, weil er dem Bruder seiner Freundin den Tod gewünscht hatte. Aber alles wäre besser gewesen als jeden Tag mit diesem Zombie frühstücken zu müssen, während Kaffee und Brötchen nach Schuld schmeckten.
Franzis stumme Vorwürfe zu ertragen und sich Sorgen wegen ihrer Erschöpfung zu machen. Keine Worte mehr zu finden für Liebe, Pläne oder die Zukunft. Im Trümmerfeld von Marcos Hirnschaden hatte es keinen gemeinsamen Platz mehr gegeben.
Also war er gegangen.
An einem Tag im April, als der Himmel die Farbe von nassem Beton hatte, hatte er die Platte des Lebens einfach umgedreht.
Franzi trank jetzt auch.
Mineralwasser.
Warum waren ihre Lippen feuchter als ihre Augen?
Ich wollte es euch persönlich sagen. Wegen..., Sie hielt kurz inne und atmete lang und schwer aus. Einfach unseretwegen. Ihr habt ihm viel bedeutet. Dann ließ sie den Kopf hängen und knetete die Nase mit Daumen und Zeigefinger. Jedes weitere Wort wäre zu viel gewesen.
Christoph studierte die Seitennaht seiner Jeans, als wäre darin eine Antwort verborgen. Seit Jahren hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Alle Möglichkeiten durchgespielt, während er betrunken auf der Couch lag und seine eigene Unfähigkeit verfluchte.
Er hatte immer gewusst, dass sie ihren Bruder überleben würden. Zu viel war kaputt. Aber musste er es auf diese Art erfahren? In einem beschissenen italienischen Restaurant direkt neben Eymen, dem er nichts mehr zu sagen hatte? Kurz nachdem er den Laden und seine Träume begraben hatte?
Er wollte nachhause. Besaufen, die Stereoanlage aufdrehen und eine Playlist für einen dunklen Club erstellen. Songs for someone who recently died. Es war makaber und falsch, aber er konnte nicht anders.
Musik hatte ihm immer Halt gegeben. In jeder beschissenen Situation hatte die Platte seines Lebens ihre Umdrehungen gemacht. Und wenn es zu schlimm wurde, hatte er sie umgedreht. Es hatte immer den passenden Track, den richtigen Rhythmus gegeben. Beats und Synthies klangen nicht kalt. Sie wärmten ihn, wenn er vor Verzweiflung schreien wollte. Doch jetzt gab es nur noch monotones Gemurmel und die eigene Sprachlosigkeit.
Eymen zerrupfte seine schwarzen, gegelten Haare. Ein akkurater, modischer Schnitt anstelle der früheren wilden Lockenmähne.
Es tut mir leid, stammelte er, Wenn ich gewusst hätte dass... Ich wollte euch eigentlich zum Essen einladen. Hilflos sah er zu Christoph während es vom Nachbartisch nach Knoblauch und gebratenem Fisch duftete.
Italien, verdammt noch mal! Hatte Franzi das Restaurant wirklich nur zufällig gewählt? Oder wollte sie ihnen den Zaunpfahl um die Ohren hauen? So in der Art von: Erinnert ihr euch an unsere letzte schöne Zeit? Bevor ihr mich allein gelassen habt? Aber in ihrem Gesicht stand keine Schadenfreude.
Ich kann sowieso nicht lange bleiben, sagte sie und legte ihre Handtasche auf den Schoß. Bis nächsten Donnerstag muss ich noch einiges organisieren. Die Beerdigung ist vormittags um halb 11. Sankt Georg Kirche.
Christoph verzog sein Gesicht, als hätte ihm jemand in die Eier getreten. Eine christliche Beisetzung. Das hätte sich Marco bestimmt gewünscht! Leere Worte von einem gelangweilten Pfarrer und grauenvolle Orgelmusik! Nachdem sie immer gegen diese Spießergesellschaft rebelliert hatten, verloren sie am Ende doch gegen die konservativen Ansichten ihrer Eltern.
Sie hatten Christoph nie leiden können. Und nach Marcos Überdosis schlug die Antipathie in blanken Hass um. Sie hatten ihm immer die Schuld gegeben, auch wenn sie es nie ausgesprochen hatten. Was würde Franzis Vater sagen, wenn er ihn auf der Beerdigung sah? Würde er ihn über den Friedhof prügeln? Und der tödliche Blick ihrer Mutter. Verdammt, sie würde ihn erwürgen!
Sein Magen brannte und er spürte Säure im Hals. Die Beerdigung seiner Mutter hatte er schon kaum ertragen. Und jetzt sollte er zusehen, wie sie seinen besten Freund in der Erde verscharren? Den Worten eines steifen Predigers lauschen, der Marco nicht gekannt hatte und auch nichts vom Leben verstand?
Vielleicht sollte er eine Krankheit vorschieben. Oder ins Koma saufen und erst wieder aufwachen wenn alles vorbei war. Nein, das ging nicht. Er war es diesem kleinen Harlekin schuldig. Mann, was hatten sie ihn geliebt!
Du schuldest mir ein Prodigy Album!
Warum?
Weil du meine Schwester vögeln darfst.
Er hörte die Worte so klar, als würde Marco neben ihm sitzen. Keine Zeit für Ernsthaftigkeit. Den Spaß des Lebens mit jeder Pore aufsaugend. Franzis Bruder war definitiv eine seltene und begehrte Platte gewesen!
Plötzlich krampfte sein Bauch, als würde er von einer eisernen Faust zusammengedrückt. Er sah noch, wie sich Eymen zu den Kellnern drehte. Dann schmeckte sein Mund nach fauligen Trauben und er sprang auf. Sein Stuhl fiel und er rannte. Jeder starrte ihn an, aber es war egal.
Als er die Tür aufstieß, zitterte das Glas im Rahmen. Die Abendluft blies kühl auf seine verschwitzte Stirn und er beugte sich nach vorne, überzeugt, den Wein auf das dunkle Kopfsteinpflaster kotzen zu müssen.
Doch es kam nur trockenes Würgen und merkwürdige Geräusche.
Dann bemerkte er, dass er tief und stockend schluchzte. Er weinte wie ein Kleinkind bis der Schmerz langsam nachließ.
Der Geruch von nassem Asphalt umfing ihn, als das Pfeifen in seinen Ohren leiser wurde. Blätter raschelten im Wind und die Schmerzen in seinem Magen waren verschwunden.
Einzelne Sterne blitzten durch die Wolken. Immer noch dieselben Lichter die er mit Eymen beobachtet hatte. Als sie sich am Balkon blöd kifften und über die Ausdehnung des Universums diskutierten. „Wir sehen das Strahlen von Himmelskörpern die unzählige Lichtjahre entfernt sind, und wissen dabei gar nicht, ob sie längst erloschen sind.“ Klar! Und warum kann unser Lebenslicht nicht über den Tod hinaus leuchten? Warum stoppt es plötzlich, als hätte jemand den Power Button gedrückt?
Aber dieser Geschäftsmann, der jetzt im Restaurant hinter ihm wartete, würde sich bestimmt nicht mehr erinnern. Er war schon viel zu lange aus ihrem gemeinsamen Leben verschwunden.
Christoph wollte seinen Kopf auf das Pflaster schlagen. Immer fester und schneller damit es auch mit ihm vorbei war und er diesen ganzen Mist nicht mehr fühlen musste.
Sterben wie Marco zum Takt von Trip Like I Do.
This Land was Green and good - Until the crystal cracked.
Aber statt der Todeshymne hörte er plötzlich Franzis Stimme.
Christoph? Alles in Ordnung?
Seine Hände zitterten, aber er wollte sich nicht umdrehen. Was sollte er sagen? Sie hatte die Kunsthochschule nie besucht und ertragen, dass er sich feige aus ihrem Leben geflüchtet hatte. Hatte jahrzehntelang ihren Bruder gepflegt, den die Drogen geistig zerrüttet hatten und die stummen Vorwürfe ihrer Eltern geschluckt. Sein bankrotter Laden und das verstummte Tonstudio fühlten sich dagegen fast trivial an. Eigentlich sollte sie ihn minutenlang fest und schmerzhaft ohrfeigen.
Aber Stattdessen legte sie den Kopf auf seine Schulter.
Durch den Stoff der Jacke spürte er die Wärme ihrer Stirn. Und dann umarmte er sie, als würde die Vergangenheit plötzlich zu nichts.
Ihre Schultern fühlten sich zart aber nicht zerbrechlich an. Anmutig, genau wie damals, als er sie auf der Treppe des Gymnasiums zum ersten Mal gesehen hatte. Er roch das Kokosöl in ihrem Haar und vergrub seinen Kopf darin. Jetzt wollte er alles sagen.
Dass er bei seinen sporadischen Besuchen immer ihretwegen und nicht für Marco gekommen war. Warum er bei jedem One-Night-Stand, jeder versoffenen Nacht im Club und jedem alten Song immer nur an sie gedacht hatte.
Dass er einfach keine Kraft mehr gehabt hatte um sich gegen ihre Eltern zu stellen. Oder den täglichen Verfall ihres Bruders zu beobachten. Aber noch immer fand er keine Worte.
Deine Eltern bringen mich um, murmelte er. Seine Bartstoppeln kratzten über ihre Wange.
Die haben andere Sorgen, antwortete sie und streichelte seinen Kopf. Lass dich jetzt nicht hängen, bitte. Du musst stark bleiben. Und glaub mir, es war eine Erlösung für ihn.
Er biss sich fest auf die Unterlippe Erlösung? Das klang schon wieder nach christlichem Quatsch. Als wäre der Tod eines Freundes etwas Schönes. Während er über eine sinnvolle Antwort nachdachte, hörte er das Quietschen der Eingangstür, gefolgt vom Klacken teurer Schuhsohlen.
Ähm, ich hab eure Getränke gezahlt, sagte Eymen und nestelte an seiner Armbanduhr.
Er wirkte wie ein Kind, dass seine Eltern im Bett erwischt hat. Eine peinliche, betretene Stimmung lag zwischen ihnen. Und dann erschien der Abgrund wieder. Franzi löste sich aus der Umarmung. Das Licht der Straßenlaternen schimmerte in ihren feuchten Augen.
Also, seufzte sie, Wir sehen uns dann wohl am Donnerstag. Am Himmel hatten die Wolken die Sterne verschluckt. Man sah nur noch Regenschlieren auf den Windschutzscheiben der parkenden Autos, umgeben von den dunklen Bäumen des Stadtparks.
Ciao Marilyn!, sagte Christoph und erschrak. Das kam unbewusst, ohne Nachdenken. Er hatte ihren Kosenamen fast vergessen.
Auch Franzi zuckte zusammen, das sah er selbst im Halbdunkel. Einige Sekunden vergingen, bis sie antwortete.
Ciao Marlon! Beinahe flüsternd mit einem Beben in der Stimme. Die alten, zärtlichen Neckerein, weil sie beide Schwarz-Weiß-Filme geliebt hatten.
Wieder schien die Zeit still zu stehen. Die Fenster der umliegenden Häuser leuchteten wie glimmende Feuer. Dünne Regentropfen trieben durch die Luft und die Geräusche der Stadt klangen melodisch. Seine Lippen erinnerten sich an etwas süßes und klebriges.
Geteilte Chupa Chups am Strand. Warmer Sangria unterm Zeltvordach. Salzige Küsse, während das türkise Meer ihre Füße umspülte.
Dann zerplatzte das Bild und er stand wieder vor einem italienischen Restaurant während Regen auf ihn tropfte. Franzi strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und schüttelte den Kopf. Kehrte sie gerade vom selben Ort zurück?
Hört mal“ sagte sie und ihre Stimme klang immer noch brüchig, Ich weiß, wie scheiße das ist. Ich hätte es euch sagen sollen. Aber ich konnte nicht. Nicht am Telefon. Das es...
...vorbei ist?, ergänzte Eymen, während er einen kleinen Zettel aus seiner Hosentasche zog.
Christoph hegte kurz den Verdacht, dass er ihnen die Rechnung aufdröseln wollte, aber dann sah er, dass es ein altes Foto war. Vergilbt und abgewetzt, aber das war egal. Denn er kannte diese Aufnahme gut. Es war dieselbe, die über dem Keyboard in seinem Studio gepinnt war.
Ein Strand in Sanremo. In der linken Ecke lehnte eine jüngere Version seiner selbst. Die Haare waren feucht und sein Körper glänzte in der Sonne. In der rechten Hand eine Bierdose, während er die linke zum Gruß hob. Neben ihm standen Eymen und Franzi. Er küsste ihren Hals und sie lachte, weil es kitzelte. Und schließlich, ganz rechts, der Tote.
Marco wirkte fast, als würde er nicht zu ihnen gehören. Mit diesem entrückten Blick, der stachligen Frisur und dem Lippenpiercing. Christoph hatte sich immer gefragt, ob er da schon Pillen eingeworfen hatte oder ob dass erst in Berlin begonnen hatte. Das hatten sie sich alle gefragt, aber es änderte nichts.
Wisst ihr, warum ich euch nie besucht habe?, fragte Eymen leise. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Er sah zu Boden. Ihn so kaputt zu sehen. Dass hatte er nicht verdient. Und dann bin ich einfach abgehauen und hab euch alleine gelassen. Ich wollte nur weg. Selbst die Musik konnte ich nicht mehr ertragen.
Er schniefte und blickte nach oben, zu den aufragenden Reihenhäusern.
Leuchtende Fenster und unbekannte Leben. Würde Marco hinter einer dieser Scheiben wohnen? Schallplatten und Kassetten sortieren und danach immer noch durch die Clubs ziehen? Oder wäre er auch so angepasst? Mit Familie, Immobilienkredit und einem langweiligen Job?
Er erschrack, als Christoph etwas ähnliches aussprach. Wenn er nicht nach Berlin gegangen wäre... Was denkst du, wäre passiert?
Ich weiß es nicht, seufzte er. Surfen, wahrscheinlich. Und vielleicht wärt ihr beide noch…
Er beendete den Satz nicht, weil alle dasselbe denken.
Die Willkommensparty, die zum Abschied wurde. Die bunten Pillen, die Marco aus Berghain mitgebracht hatte. Die Erste Liga mit ihrem blinkenden Tanzboden, der dann Gesellschaft vom Blaulicht des Rettungswagens bekam. Zuckungen und Schaum vor dem Mund. Als sie ihn für tot hielten und Christoph wie gelähmt seine weinende Franzi hielt. Trip Like I Do. Immer wieder in ohrenbetäubender Lautstärke. „Oh my God, this is the best!“ Diese sarkastischen Lyrics des Songs, den sie seitdem nie wieder hören wollten.
Er würde nicht surfen, murmelte Christoph und sah seine Atemwolke in der feuchten, kalten Nacht aufsteigen. Er würde Musik machen!
Weit entfernt konnte man melodisches Wummern vernehmen. Das Echo einer Party, vielleicht in einem Club. Die nächste Generation, die noch alles vor sich hatte. Kommt mit, sagte er schließlich, Ich will euch was zeigen.
Eymen lächelte und strich über die abgegriffene Hülle des Tapes. Keine Kassette, sondern ein DAT, dessen verblichenen Schriftzug -From the Balcony- er gut kannte. Du hast das wirklich aufgehoben?, fragte er, während Christoph ein weiteres Band aus der riesigen Regalwand hinter sich zog.
Konzentriert drehte er die Knöpfe auf seinem Mischpult und antwortete nur knapp.
Nicht nur das. Ich habe jeden Tag aufgenommen. Und am Ende des Monats habe ich mir die beste Aufnahme gesucht und archiviert.
Eymen schnaltze bewundernd mit den Lippen. Mein Gott Christoph, wieviele Songs sind das?
Wohl 200. Ein bisschen mehr vielleicht. Das ist meine Biographie.
Franzi strich ihm über die Schulter. Auf dem Hinweg war sie dicht neben ihm gegangen. Zu Fuß durch dich Nacht, beinahe wie früher. Zum Heartbeat, dem Plattenladen, dessen Herzschlag lebensgefährlich langsam geworden war. Aber das Heimstudio war noch nicht tot.
Ein u-förmiger Tisch nahm die gesamte Fläche ein. Synthesizer, eine Drum Machine und ein großes Mischpult teilten sich den Platz darauf. Die Wände waren tapeziert mit bunten Batiktüchern und Postern vergangener Rave Partys.
Dazwischen klebten unzählige Fotos. Eymen mit wilder Lockenmähne hinter einem Plattenteller. Ein 18-jähriger Christoph, der lässig den Arm aus dem Seitenfenster seines ersten Autos hingen lies. Marco mit Irokesenschnitt und verspiegelter Sonnenbrille. Und immer wieder: Franzi. Jung und schön. Aufnahmen auf denen sie malte. Lächelnd auf einer Party. Schlafend im Bikini.
Christoph wusste, dass sie jetzt alle Fotos betrachteten und dabei in seine Seele blickten. Aber darum ging es nicht. Als er den Rekorder startete, breitete sich eine langsame, melancholische Keyboardmelodie zwischen ihnen aus. Es war der Klang einer anderen Welt. Als Marco noch lebendig war, und sie nicht täglich durch das Scherbenmeer ihrer Träume spazieren mussten. Eine Trance Symphonie, erdacht 1997 auf dem Balkon vor seinem Kinderzimmer. Aber hier klang nichts mehr stümperhaft. Der langsame Rhythmus der Drum Machine passte perfekt zu den melodischen Kaskaden und machte die Traurigkeit plötzlich tanzbar. Eymens Finger klopften im Takt auf den Tisch.
Du Verrückter! Du hast es fertig gestellt!“
Nicht ganz, antwortete er und fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Nicht einfach müde, sondern zutiefst leer und ausgebrannt. Sein Hals schien enger zu werden.
Ich habe jeden Tag daran gearbeitet, sagte er mehr zu sich selbst. Das andere Zeug dass ich aufgenommen habe, war mir niemals so wichtig. Ich wollte diesen einen Song perfekt machen! Er atmete lange und traurig aus. Ich hab ihn für Marco produziert. Es sollte ihn aufwecken. Ich dachte, wenn er einen Song hört, der ihn richtig trifft, dann wird alles wieder gut. Aber jetzt glaube ich, dass ich mich nur selber beschissen habe.
Er sah den Lichtern zu, die wie auf der Konsole eines Raumschiffs tanzten. Ein letztes Mal. Aber immerhin hatten sie den Track gehört.
Der Bass vibrierte in den Studiolautsprechern und Franzis Hand drückte fester in seine Schulter.
Mach es schneller, sagte sie.
Einige Sekunden sah er sie fragend an. Das blaue in ihren Augen leuchtete stärker als je zuvor. Dann verstand er. Um 50 BpM erhöhen. Ihr Bruder hätte es spritziger gewollt, nicht traurig dahin schreitend.
Er beschleunigte und nun fühlte es sich zum ersten Mal richtig an. Requiem for Marco.
Neben ihm begann Eymen zu tanzen. Nicht so elegant wie früher, aber auch nicht peinlich.
Der lässige Groove vermischte sich mit ihrem Herzschlag. Sie ritten auf der Welle unter einer orangeroten Sonne. Surften und lachten mit Marco. und er rief es ihnen entgegen: I want you to trip like i do! Die Zeit löste sich auf und sie schwammen mit ihr. Und als ihn Franzi küsste, verschwand die Leere. Alle hatten sie ihre Platten noch einmal umgedreht.