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Trip Like I Do
Christoph hatte sich sein Leben immer als Schallplatte vorgestellt.
Kein seltenes Sammlerstück, das auf Börsen gehandelt wird, sondern eine ehrliche, solide Pressung. Ein rotes Label, schwarzer Schriftzug, irgendwo zwischen Melancholie und Techno. Kein Hit, aber auch keine Fehlpressung. Nur Musik, die den Groove hält.
Früher traf das noch zu. Als sie vier Kinder aus der Vorstadt waren und glaubten, dass das Leben aus Bassläufen und Sonnenaufgängen bestand.
Marco, Franzis Bruder, war der wildeste. Hochgewachsen, mit unruhigen Händen, die nie stillhielten – immer tippend, trommelnd, rauchend, irgendetwas erschaffend. Seine Augen hatten dieses unstete Funkeln, als würde er gleichzeitig lachen und an einem Abgrund stehen. Er trug seit Jahren die gleichen zerrissenen Jeans und konnte sich in Beats und Melodien verlieren. Ekstatisch, hypnotisch.
Franzi war anders – stiller, konzentrierter. Sie sah die Welt, als wäre sie ein Film, und suchte nach den Momenten dazwischen, den Blicken, die niemand bemerkte. Ihre Sommersprossen zogen sich bis über die Schultern, und wenn sie lachte, sah sie kurz wieder aus wie das Mädchen, das barfuß über die Straße rannte, um Marco aus der Garage zum Abendessen zu holen.
Dann gab es noch den Witzbold. Eymens lockiges Haar stand in alle Richtungen, und er behauptete, es sei sein Markenzeichen. In Wahrheit war er der sensibelste von allen – der, der am lautesten lachte, damit niemand merkte, wenn ihn etwas traf.
Und er selbst? Beobachtete am liebsten. Saß abends auf dem Balkon und ließ die anderen reden, während er versuchte, das Gefühl festzuhalten, dass sie unsterblich waren. Er schrieb Texte in Notizbücher, die er nie jemandem zeigte. Still, etwas zu ernst, mit einem suchenden Blick. Nur wonach?
Abends saßen sie oft bei Franzi im Wohnzimmer. Auf dem Teppich lagen Kartons mit halb aufgegessenen Pizzen, leere Bierdosen Cola-Flaschen. Dann sahen sie Schwarz-Weiß-Filme, die sonst niemand in ihrem Alter mochte. Casablanca, Rebel Without a Cause, Some Like It Hot.
Marco lachte über die steifen Dialoge, Eymen schlief nach zwanzig Minuten ein, aber Franzi und Christoph blieben immer bis zum Abspann wach.
Nach einem Marilyn-Monroe-Film sagte sie einmal:
„Ich wünschte, ich hätte ihr Selbstbewusstsein. Dieses ‚Ich weiß, dass ihr mich anseht, und ich genieße es‘.“
Christoph grinste. „Dann bist du ab jetzt Marilyn.“
„Und du?“ fragte sie.
„Marlon“, sagte er. „Der Typ, der immer so tut, als würde er nichts fühlen, obwohl er alles fühlt.“
Von da an nannten sie sich so, leise, nur füreinander: Marilyn und Marlon. Sie dachten, dass würde ewig halten.
Im Sommer nach dem Abi fuhren sie nach Italien. Ligurien, Sonne, Salz in den Haaren. Sie schliefen im Zelt, tranken Sangria aus Plastikbechern und glaubten, dass alles, was sie brauchten, Musik und Freundschaft war.
„Wenn das Leben ein Track ist“, sagte Marco eines Abends und drehte sich eine Zigarette, „dann will ich, dass meiner nie aufhört.“
„Irgendwann läuft jede Platte aus“, entgegnete Christoph.
„Nicht, wenn du sie umdrehst“, lachte er.
Das war einer dieser Sätze, die damals cool klangen – und später zu Prophezeiungen werden sollten.
Marco drehte seine Platte schon nach diesem Sommer um und ging nach Berlin. „Das ist die einzig` echte Stadt“, hatte er gesagt. Clubs, Auflegen, Leben. An den Wochenenden kam er zurück mit Geschichten von Dachpartys und Sonnenaufgängen über der Spree. Von Menschen, die nie schliefen und Beats, die tagelang stampften.
Er sprach ohne Pausen und kicherte wie ein Verrückter.Christoph sah, wie ihm beim Lachen manchmal die Hände zitterten. Franzi nannte ihn den Duracell-Hasen. Aber hinter diesen Witz hörte man ihre wachsende Beunruhigung.
Einmal, im alten Garten hinter dem Haus, saßen sie zu viert und hörten Musik.
Marco stand plötzlich auf, zog Franzi am Arm. „Komm, tanzen! Das Leben wartet nicht!“
„Es ist Dienstag“, sagte sie und tanzte dann trotzdem.
Als er sie drehte, fiel ihm eine kleine Dose aus seiner Tasche.
Franzi hob sie auf, sah die bunten Pillen darin. Rot, Gelb, Grün. Bemalt mit Smileys, Herzchen und Sternen. Wie süße Bonbons für Kinder.
„Was ist das?“
„Nur Vitamine“, grinste er.
„Marco.“
Er zuckte mit den Schultern, nahm sie ihr ab. „Alles gut, Schwesterherz.“
Doch in seinem Blick war etwas, das sie niemals vergaßen.
Zwei Wochen später legte er im „Neon“ auf, der sich als coolster Club ihrer kleinen Stadt bezeichnete. Keine große Kunst, da es auch der einzige war. Die Tanzfläche war voll, der Bass vibrierte im Brustkorb, die Lichter flackerten. Marco stand am Pult, verschwitztes Shirt, euphorisch, manisch.
„Heute ist er wieder normal“, schrie Franzi gegen den Lärm, und für einen Moment glaubten sie es.
Kurz darauf sahen sie, wie Marco schwankte. Er hielt sich am Tresen fest, das Gesicht fahl und verschwitzt. Der Musik lief weiter, während er nach hinten fiel.
Das Chaos brach los. Sie begannen zu rennen. Unterm Blitzlicht der Diskothek, während der Song lief. Dieser eine Song, den sie danach nie wieder hören konnten und wollten. Trip Like I Do. Mit den prophetischen Zeilen.
This Land was green and good - Until the crystal cracked.
Christoph war als Erster bei ihm. Marcos Augen waren weit offen, aber leer.
„Atme!“, rief Franzi, kniete sich neben ihn, schlug ihm auf die Brust.
Eymen rannte zur Bar, suchte ein Telefon. Der Barkeeper wählte den Notruf.
Das Licht wechselte auf Blau, dann auf Rot. Der Bass lief weiter, dumpf, wie ein Herzschlag, der sich weigert aufzuhören.
Später, im Krankenhaus, saßen sie im Flur, in diesem typischen Geruch aus Plastik und kaltem Kaffee.
Ein Arzt kam, fragte, ob sie Familie seien.
Franzi nickte nur.
„Er lebt“, sagte der Arzt, „aber es gab Komplikationen.“
Christoph sah sie an. Niemand sprach.
Irgendwas in ihnen wusste, dass der Mensch, der aus diesem Zimmer kommen würde, nicht mehr derselbe sein würde, der im Club aufgelegt hatte.
Franzi holte ihn zurück nach Hause. Zwei Jahre lang lebten sie zu dritt im Obergeschoss des alten Bauernhauses, während der Zorn ihrer Eltern unter ihnen loderte wie das Höllenfeuer. Franzi brach das Studium ab und jobbte halbtags in einem Steuerbüro. Sie fuhr ihn zur Therapie, kontrollierte seine Medikamente und sprach mit ihm. Immer, auch wenn er nicht antwortete.
Christoph eröffnete einen kleinen Plattenladen in der Stadt, gleich neben dem alten Kino. Vor Franzis Eltern klang es wie ein Opfer: dass er bleiben wolle, um auf Marco aufzupassen und Franzi zu entlasten. In Wahrheit floh er. Vor gewöhnlicher Arbeit, vor Bewerbungen, vor dem, was andere Leben nannten. Der Laden war sein Vorwand und sein Versteck zugleich – vier Wände voller Vinyl, in denen er das Gefühl hatte, dass die Welt stehenblieb, wenigstens einen Song lang.
Nachts saß er im Keller zwischen alten Verstärkern, nahm Beats auf, die kaum jemand hörte. Musik gegen das Schweigen, gegen die Angst.
Manchmal stand Marco im Türrahmen und lauschte. Er tanzte nicht mehr, aber manchmal wippte sein Kopf, fast unmerklich. Dann gab es Tage, da schrie er plötzlich auf, als würde ihn die Welt überfluten. Oder er streichelte stundenlang sein Surfbrett.
Franzi weinte oft, heimlich in der Küche. Christoph hörte es durch die Wand, jedes Mal.
Er wusste, dass er sie beide verlor – den Freund und die Frau, die er liebte.
Eines Morgens, als die Sonne grau war und das Radio ein Lied spielte, das Marco einmal gemocht hatte, packte Christoph eine Tasche, legte den Schlüssel auf den Küchentisch und ging. Ohne sich umzusehen.
Sein Plattenladen, das Heartbeat, hatte einige Jahre gerade so überlebt. Aber die Streamingdienste hatten die Kunden weggeholt, Lieferdienste die Laufkundschaft, und irgendwann zogen selbst die kleinen Konzerte im Hinterzimmer nicht mehr. Nun stand er vor leeren Regalen, vergilbten Postern und einem kaputten Schild, das im Wind klapperte.
Er aß lauwarmen Döner, trank billigen Wein und wartete darauf, ob noch was passieren würde.
Dann las er die Email.
Absender: Franziska Steiner
Betreff: Treffen nächste Woche
Hallo Christoph,
es fällt mir unglaublich schwer, das hier zu schreiben, aber ich muss es dir persönlich sagen: Marco ist gestorben. Die Beerdigung findet nächsten Donnerstag um 10:30 Uhr in der Sankt-Georg-Kirche statt. Eymen wird auch kommen, wir sollten uns vorher noch einmal zusammensetzen. Bitte komm ins La Trattoria nächsten Montag um 18 Uhr, dann reden wir in Ruhe darüber.
Es ist mir wirklich wichtig, dass du kommst.
Franzi
Er lehnte sich zurück, die Hand noch immer auf der Maus. Die ganze Wohnung, der leere Laden, selbst der Döner in seiner Hand schien in diesem Moment absurd zu sein. Die Regale im Heartbeat, die längst staubig und leer standen, das kaputte Schild, das im Wind klapperte, der ekelhafte Wein – alles war plötzlich Symbol seines eigenen Versagens. Zwei Jahrzehnte Musik, Freundschaft, flüchtige Träume, und jetzt nur noch Leere.
Er las die Nachricht immer wieder, als könnten sich die Worte noch ändern. Marco war tot. Er konnte es nicht fassen. Panik stieg in ihm hoch, eine seltsame Mischung aus Schuld, Wut, Trauer, Verzweiflung. Der Laden, seine Musik, all die Stunden im Keller – nichts davon schützte ihn jetzt. Nichts hatte ihn vorbereitet auf das Gefühl, dass jemand, den er geliebt und bewundert hatte, für immer verschwunden war.
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann tippte er seine Antwort: „Komme!“
Das La Trattoria lag in einer Seitenstraße, zwischen einer Spielhalle und einem leerstehenden Blumenladen. Christoph hatte seit Jahren kein italienisches Restaurant mehr betreten. Das Kerzenlicht, das sanft über die rot-weiß karierten Tischdecken flackerte, kam ihm vor wie ein Zynismus. Musik lief leise aus den Lautsprechern – ein Cover von No Surprises. Sehr passend.
Als Franzi kam, trug sie einen dunklen Mantel. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, ein paar graue Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Für einen Moment erkannte er sie kaum wieder. Und dann, als sie ihn ansah, mit diesem Blick, war alles wieder da – Der Sommer, das Lachen, die Nächte auf dem Balkon, Marcos Stimme im Hintergrund.
„Hallo“, sagte sie leise.
Ihm fiel nichts ein, also nickte er.
Sie setzten sich. Zwischen ihnen stand eine Flasche Wasser, die ungeöffnet blieb. Eine Ewigkeit verging, bis jemand sprach.
„Es war... plötzlich“, begann Franzi. Ihre Stimme zitterte. „Er hatte wieder diese Panikattacken, aber wir dachten nicht, dass...“ Sie hielt inne, atmete schwer. „Das Herz. Zu viel Schaden. Die Ärzte sagen, er hatte Glück, dass er überhaupt so lange überleben konnte.“
Christoph knetete die Seitennaht seiner Jeans. Er wollte gleichzeitig schreien und weinen. Aber er brachte keinen Laut heraus. Wieder sah er den Jungen mit der stachligen Frisur vor sich, barfuß am Strand, der das Surfbrett ins Wasser zog. Und er wusste was er geschrien hatte. Ja, gottverdammt er wusste es! Trip Like I Do hatte er auf seinem Brett im ligurischen Meer heraus gebrüllt.
„Ich wollte, du hättest ihn nochmal gesehen“, flüsterte Franzi. „Er hat oft nach dir gefragt, weißt du? Am Anfang jedenfalls. Später…“ Sie brach ab.
„Später war nicht mehr viel übrig“, murmelte Christoph.
„Hör auf!“ Ihre Stimme war plötzlich scharf. „Er hat gekämpft. Jeden Tag. Du hast keine Ahnung, wie das war, mit ihm zu leben, zu sehen, wie er langsam…“, Sie schluchzte heftig, „verreckt!“
„Ich weiß das ganz genau!“, sagte Christoph, und klang dabei härter, als er wollte. Die Erinnerungen kamen zurück – diese zwei Jahre unter dem Dach ihrer Eltern. Marcos Schreiattacken in der Nacht. Das Zittern seiner Hände, wenn die Medikamente nicht anschlugen. Franzis Augenringe, der Geruch nach aufgebackenen Brötchen und kaltem Kaffee. Und seine eigene Angst, dass sie alle mit ihm untergehen würden.
Dann kam Eymen. Zu spät, wie immer. Maßanzug, glänzende Schuhe, der Bauch leicht gewölbt. Er umarmte Franzi unbeholfen und klopfte Christoph auf die Schulter. Dann bestellte er Wein und redete los, als könnte er die Schwere der Luft mit Worten verdrängen.
„Ihr glaubt nicht, wie die Autobahn aussah! Komplett dicht. Ich hab an der S-Bahn geparkt. Und dann kam die nächste natürlich erst in 20 Minuten.“ Er drehte den Kopf in alle Richtungen „Nett hier. Ich glaube, die machen die Nudeln sogar selbst!“
Franzi hob kaum den Blick. Christoph starrte auf die Kerze. Plötzlich fühlte es sich an, als wäre eine Käseglocke über ihren Tisch gestülpt worden.
Schließlich stellte Franzi das Glas ab. „Marco ist am Dienstag gestorben“, sagte sie, diesmal ohne Umschweife. „Die Beerdigung ist nächste Woche. Ich wollte, dass ihr es direkt von mir hört.“
Eymen erstarrte, die Hand in der Luft, als hätte jemand die Zeit angehalten. Christoph spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Niemand sagte etwas. Nur das leise Klirren von Besteck im Hintergrund.
Dann beugte sich Franzi vor. „Du weißt, welche Nebenwirkungen die Medikamente hatten.“
Christoph nickte. Langsam und schuldbewusst.
Eymen legte das Gesicht in die Hände. Seine Stimme war jetzt leiser. Die Augen waren groß und schockiert. „Scheiße… Scheiße, ich hätte kommen sollen. Ich hätte—“
„Niemand hätte etwas tun können“, sagte Franzi tonlos.
Aber Christoph wusste, dass das nicht stimmte. Jeder von ihnen hätte etwas tun können. Früher. Als Marco noch lebte, noch lachte, noch Musik hörte. Bevor sie ihn allein gelassen hatten – sie alle, jeder auf seine Weise.
Er trank einen Schluck Wein, der wie Essig schmeckte. Dann stand er auf. „Ich muss kurz raus.“ Beinahe hätte er gesagt, dass er kotzen musste.
Die Luft draußen war kalt. Er stützte sich an die Hauswand, spürte den Regen auf der Stirn, und plötzlich brach es aus ihm heraus – ein Würgen, das zu Schluchzen wurde. Kein lautes Weinen, sondern ein dumpfer, unkontrollierbarer Schmerz, der irgendwo zwischen Kehle und Herz stecken blieb. Er dachte an Marco, an den Abend 1997, an die Lichter im Club, die flackerten wie Morsezeichen, an Franzis Schrei, als Marco hinter dem DJ Pult zusammensackte.
Dann hörte er das Quietschen der Tür.
„Christoph?“ Franzi stand hinter ihm. Ihr Atem ging schnell.
Er sagte nichts.
Sie trat näher, legte den Kopf an seine Schulter. Ihr Haar roch nach Regen und Kokosöl. Für einen Moment war alles still. Keine Musik, keine Autos, nur ihre Nähe.
„Du musst stark bleiben“, flüsterte sie. „Für ihn. Für dich.“
Er drehte den Kopf, suchte ihren Blick. „Ich war niemals stark.
Franzi schloss die Augen. „Dann sei es jetzt.“
Wieder das scheußliche Quietschen der Tür. Eymen kam heraus, unsicher und verlegen. „Ich hab die Rechnung gezahlt“, murmelte er. „Dann sehen wir uns am Donnerstag?“
Franzi nickte. Christoph nicht. Er wollte nicht zu dieser Beerdigung. Er wollte diese ganzen miesen Gefühle nicht mehr spüren.
Einen Moment blieben sie stehen, unter der Laterne, die gelbes Licht auf das nasse Kopfsteinpflaster warf. Franzi blickte in Christophs Gesicht.
„Ciao, Marlon“, sagte sie leise.
Er lächelte schwach. „Ciao, Marilyn.“
Einen Moment standen sie einfach nur da, unter der Laterne, der Regen tropfte in ihre Haare. Dann hob Christoph den Blick.
„Kommt mit“, sagte er plötzlich.
Franzi verstand ihn nicht. „Wohin?“
„Zum Heartbeat. Nur kurz.“
Sie zögerte, aber irgendetwas in seiner Stimme ließ sie nicken.
Eymen folgte wortlos.
Der Laden war dunkel, die Auslage leer und das Schild - Dieses verfluchte Schild - klapperte immer noch im Wind. Christoph schloss auf, und ein Schwall abgestandener Luft kam ihnen entgegen – eine Mischung aus Staub, Vinyl und vergangenen Träumen.
Er knipste das Licht an.
„Ich muss morgen räumen“, sagte er. „Aber morgen ist nicht heute.“
Sie gingen durch den ehemaligen Verkaufsraum. Die Regale waren leer, das Neonlicht flackerte, und jeder Schritt hallte hohl wie in einer Grabkammer. Christoph führte sie durch die halb geöffnete Tür in das Hinterzimmer.
Dort war die Zeit stehen geblieben.
An den Wänden hingen Batik-Tücher in verblassten Farben, dazwischen unzählige Fotos – aus Italien, vom alten Bolzplatz, aus Nächten, in denen sie glaubten, dass alles möglich war. Auf einem Bild lachten sie alle vier in die Kamera, jung, erschöpft, glücklich. Christoph hatte einen Arm um Franzi gelegt, Eymen hielt eine Bierflasche wie ein Mikrofon, und Marco war im Hintergrund – halb verdeckt, aber mit diesem stillen, echten Lächeln, das er jetzt nie mehr zeigen konnte.
Unter den Bildern stand ein einfaches Regal, reihenweise voll mit kleinen, sorgfältig beschrifteten DAT-Kassetten. Demo 2003, Heartbeat Live, Marco’s Mix, Balcony Tape, Franzi Vocals 01, Random Night #17.
Daneben auf dem Tisch ein alter DAT-Recorder, vergilbt, mit abgegriffenen Knöpfen.
Franzi strich über die staubigen Cover. „Du hast das alles aufgenommen?“
Christoph drehte konzentriert an den Knöpfen und nickte. „Jeden Tag. Und am Ende des Monats habe ich mir die beste Aufnahme gesucht und archiviert.“
Eymen blies leise durch die Lippen. Mein Gott Christoph, wieviele Songs sind das?
„Wohl 200. Ein bisschen mehr vielleicht. Das ist meine Biographie.“
Und dann hatte er die Kassette in der Hand. Das Etikett war vergilbt, in Marcos krakeliger Schrift stand: From the Balcony.
Er legte sie in den Recorder. Ein leises Klicken, dann das Surren des Bandes. Kurz rauschte es, dann setzte der Beat ein – dumpf, vertraut, warm. Marcos Stimme kam dazu, verzerrt, lebendig, als stünde er mitten im Raum:
„The Crystal Never Cracked…The Crystal Never Cracked“
Sie standen still. Alle drei, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen.
Die Musik kroch in jede Ecke, zwischen die Fotos, die Bänder, die Tücher.
Eymen schloss die Auge und begann sich langsam im Rhythmus zu bewegen. Franzi drehte den Kopf weg, aber Christoph sah ihre feuchten Augen.
Dann begann auch sie zu tanzen. Zuerst zaghaft, dann mit jedem Schlag wilder und freier. Ihre Bewegungen erinnerten ihn an Sommernächte, an den Geruch von Salz und warmem Asphalt. Eymen lachte plötzlich, warf seine Jacke auf den Boden und sprang wild im Takt. Und schließlich hob Christoph die Arme, ließ sich fallen in diesen Takt, der nach Jugend klang, nach allem, was sie einmal waren.
Der Bass dröhnte, die Lichter des Rekorders blitzten, und für einen Moment hatte sich die Welt wieder zusammen gesetzt. Marcos Stimme hallte aus den Lautsprechern – roh, jung, voller Leben.
Sie schrien mit, tanzten, lachten, bis der Schmerz sich auflöste in etwas Größeres, Weicheres.
Franzi griff nach Christophs Hand.
Nur ein kurzer Moment – Haut auf Haut, warm, vertraut.
Er sah sie an, und sie lächelte.
Vielleicht war da eine Chance. Vielleicht auch nicht.
Aber in diesem Augenblick war alles gut.
Die Musik lief aus. Ein leises Klicken, dann Stille.
Keiner sprach. Nur das leise Surren des Rekorders und ihr gemeinsames Atmen, ruhig, gleichmäßig.
Draußen zog der Regen weiter, die Straße glänzte wie ein dunkler See.
Franzi sah auf die Wand voller Fotos. „Er hätte das geliebt“, sagte sie.
„Er ist hier“, antwortete Christoph. „Immer wenn die Musik läuft.“
Sie nickte, lehnte den Kopf kurz an seine Schulter.
Eymen setzte sich auf den Boden, sah die Kassette an, als wäre sie ein Stück ihrer selbst.
Dann lächelte er schwach. „Wisst ihr was? Das war das Beste, dass wir je gemacht haben.“
Ist kein Fehler, die Stelle hat bei mir nur Kopfkino ausgelöst. Jaja, hast du nicht beabsichtigt...