Was ist neu

Twiggy

Mitglied
Beitritt
10.09.2016
Beiträge
901
Zuletzt bearbeitet:

Twiggy

Ich zählte die Scheine und Münzen durch, notierte alles auf einem Abreißzettel und legte ihn mit dem Stift zusammen in Mos blaue Eisenkassette. Er hatte mir den Ersatzschlüssel anvertraut, trotzdem wollte er, dass ich bei allem haargenau arbeitete.

Ich schloss den Laden ab, schaute aufs Handy und sah, dass sie mir eine SMS geschickt hatte, ja, eine SMS. Sie schrieb, dass sie Twiggy sei – ich kannte sie von der Schule – und dass sie die Nummer von Björn hätte. Ob wir uns treffen könnten. Es ginge um einen Gefallen. 


Für mich war Twiggy bis dahin das Mädchen mit den verrückten Klamotten. Ich erinnerte mich, dass sie einmal komplett in Gelb in die Schule gekommen war. Viele mochten sie, vor allem Jungs. Nicht wie Daniela oder solche Mädchen, mehr wie einen Kumpel. Twiggy hing ständig mit irgendwem herum. Ein oder zwei Mal hatten wir auch miteinander gesprochen, aber irgendetwas in mir hatte sie übersehen wollen. Mit den Partyleuten hatte ich ohnehin nicht viel zu tun. Ich glaube auch nicht, dass sie mich mochten; ich sie jedenfalls nicht übermäßig. Trotzdem wusste ich, dass diese Leute total auf Twiggy abfuhren. Ein oder zwei Mal hatte ich Herzen gesehen, mit ihrem und anderen Namen darin, auf die Toilettentür oder einen Tisch geschmiert.
Ein zweites Mal las ich mir die Nachricht durch. Plötzlich war ich ziemlich aufgeregt.

Ich beschloss, die Antwort aufzuschieben und lief nach Hause. Der Bezirk war etwas, dass ich meine Heimat nannte. Diese brütende Stimmung, die über allem lag. Etwas entwickelte sich hier, aber das kam nie zum Vorschein, und wenn ich ehrlich war, wusste ich, dass das bis in alle Zeiten so bleiben würde. Es gab kleine Nähereien, einen China-Imbiss, ein Schuhgeschäft für Kunden mit etwas mehr, aber nicht zu viel Geld, einen Dönerladen, bei dem es nicht schmeckte und einen Laden, der Blumen verkaufte und alte Sachen; aber wie bezahlte der seine Miete?
Meine Heimat war ein Ort, der augenblicklich die Frage aufwarf, was sich außerhalb davon befand.

Ich hatte Twiggys Nachricht nicht ausgeblendet. Es war wie ein Geschenk, dass man später auspackt, um länger etwas von der Überraschung zu haben. Wahrscheinlich machten nur manche Leute das so, wie es auch einige gibt, die immer zuerst den Kartoffelbrei und hinterher das Würstchen essen. Warum das überhaupt eine Überraschung war? Weil ich mit jemandem wie Twiggy abgehangen hätte, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass diese Leute alle nichts für mich wären, und daran änderte sich auch gar nichts, aber allein, dass sie meine Nummer hatte, gab mir die Hoffnung, dass der Gefallen, von dem sie sprach, etwas mit mir zu tun hatte. Sie konnte mich ja schlecht nach Magic-Karten fragen; ich kannte kein Mädchen das Magic spielte. Und sonst gab es nichts. Wir hatten keine gemeinsamen Freunde. Wir hatten überhaupt nichts gemeinsam.


Im Abi-Buch schlug ich ihre Seite auf. Da hatte sie ein drittes Auge auf der Stirn und ihr Gesicht war grün angemalt. Hermann Hesses Steppenwolf und Haruki Murakamis Wilde Schafsjagd waren ihre Lieblingsbücher. Hesse kannte ich und konnte nichts damit anfangen. Twiggys Seite war eine einzige Auflistung von Insider-Jokes, die ich nicht begriff und die nicht klangen, als wollten sie von mir begriffen werden. Twiggy war jemand Besonderes, sonst hätte sie geschrieben, was alle schrieben, und sonst hätte sie nicht so verrückt und so schön und gleichzeitig wie ein Junge ausgesehen. 


Abends war die Zeit, in der ich mich allein fühlte. Egal ob jemand zu Hause war. Es gab keine Freunde, selbst meinen Bruder mochte ich nicht, dabei sagt man anderes von Zwillingen. Ich versuchte mich abzulenken, einfach in den nächsten Tag zu schlafen. Dabei half mir der Kassettenrekorder meiner Mutter. Ich hatte ein paar alte Aufnahmen mit Kinderliedern. Solche für Geburtstage und andere, um sich die Jahreszeiten zu merken, das Alphabet oder die Zahlen. Die Kassetten trösteten mich, inwiefern auch immer.
Das Handy lag neben meinem Kopf und jetzt schlug das Herz. Was für ein Gefallen?
„Klar, können wir uns treffen“, schrieb ich.

Ich wollte mir vorher noch einen Hotdog im Einkaufszentrum kaufen. Dort hatten wir uns verabredet, in einer Stunde. Frische Hotdogs waren mein Lieblingsgericht. Es war immer clever, einen Euro auf diese Weise zu investieren. Einen Hotdog für einen Euro. Vielleicht unterstützte die Einkaufspassage den Laden. Die Teile schmeckten jedenfalls. Aber es wurde nichts daraus. Twiggy stand bereits vor der Passage. Sie trug einen braunen Trenchcoat, wie ein Detektiv, und roten Lippenstift.
Sie umarmte mich und ich erschrak, weil es nicht oft vorkam, dass mich ein Mädchen umarmte.
»Wollen wir zur Kirche laufen?«, fragte sie.
Ich nickte. Das alles machte mich nervös. Vielleicht, weil ich sie nett fand oder weil ich das Gefühl hatte, dass wir uns bereits lange kannten, und ich mich fragte, warum ich die letzten Jahre meines Lebens mit Magic-Karten und Hotdogs verschwendet hatte und nicht mit jemandem wie ihr. Das klingt merkwürdig. Ich hatte sie ja gerade erst getroffen. Genau das aber verstärkte mein Gefühl. Wie konnte mich jemand, ohne etwas Besonderes gesagt oder gemacht zu haben, derart in Frage stellen, mich so klein und gleichzeitig groß fühlen lassen? Vielleicht lag es an mir und ich war in diesem Moment eben bereit für Veränderungen. Nur wieso war mir nicht klar.

Twiggy schlug vor, zur Kirche zu gehen, lief aber in die andere Richtung; Ich fragte nicht nach, es viel mir gar nicht ein, danach zu fragen.
»Wir gehen doch erst mal zur Schule«, erklärte Twiggy.
»Okay«, sagte ich. »Ich hab Zeit. Was ist das für ein Gefallen, von dem du geschrieben hast?«
»Das erzähle ich dir dann. Ich hab so Lust, mir die Schule anzusehen.«
»Okay.«
Ich bekam das Gefühl mit einem Kind oder einer Irren zu sprechen; mit dem Unterschied, dass es mir nicht auf die Nerven ging, sondern mich selbst dazu brachte, etwas Kindliches oder Irres in mir hervorzuholen, nur um zu sehen, wie Twiggy darauf reagierte.
»Ich mag, dass du nicht auf die Ritzen trittst«, sagte sie.
»Danke.«
Wir kamen zur alten Schule. Das Tor war verschlossen und Twiggy presste ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe.
»Ganz schön toter Ort, oder?«
Ich nickte. »Habe ich nie gemocht.«
»Mit wem hast du eigentlich immer die Pausen verbracht?«
»Mit niemandem«, sagte ich. »Ich glaube, ich war nicht so der beliebte Typ.«
»Das wundert mich schon«, sagte sie.

Wir machten einen Schlenker, kamen am Schülercafé vorbei, einer kleinen italienischen Bäckerei, die Kaffee, süße Teilchen und Pizzastücke verkaufte.
»Heute ist Sonntag«, murmelte Twiggy.
»Ja.«
»Hast du Lust was zu essen?«, fragte sie.
»Nicht unbedingt. Aber wenn du Lust hast.«
»Du bist komisch.«
»Ja, so bin ich«, sagte ich. »Komische Leute sind die besten.«
»Ich hab eine Idee.« Sie stellte sich vor mich hin, schlug die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats und verschloss ihn, sodass sie aussah wie ein breiter Baumstamm, aus dem ein Kopf mit blondem Vogelnest und einem weißen Gesicht mit rosa Wangen und roten Lippen ragte. Ich gab mir Mühe, sie nicht anzustarren.
»Wir könnten so tun, als wäre das ein Date«, sagte sie.
Meine Augen weiteten sich und gleichsam bewegte ich den Rest meines Gesichts in einer Weise, dass es aussehen musste, als wäre ich über den Vorschlag 'positiv überrascht'. Ich war froh, so professionell reagieren zu können, während in mir drin feste Organe wie Eiswürfel zerschmolzen. Meine Lippen formten eine Frage, die sich schon beim Aussprechen peinlich anfühlte und im Grunde nicht einmal echt war, nur ein So-tun-als-ob, um mich interessant zu machen, weil ich gerade in diesem Moment glaubte, Twiggys Tick verstanden zu haben.
»Aber was macht man bei einem Date so?«

»Zu einem Date gehört, dass man Eis essen geht.«
»Aber es ist Herbst.«
»Das macht nichts. Denn es ist ein Date.«
»Okay«, sagte ich. »Wo kriegen wir Eis her?«
»Vom Kino«, sagte sie.
»Aber müssen wir dann nicht auch noch einen Film schauen?«
Twiggy schüttelte den Kopf. »Das passiert nur bei jedem dritten Date.«
»Stimmt«, sagte ich und grinste kein bisschen, auch wenn die zerschmolzenen Organe in mir allesamt grinsten.
Twiggy balancierte auf den kniehohen Mauern der Grundstückgärten. Sie trug braune, spitz zulaufende Schuhe mit goldenen, abgewetzten Schnallen. Aus diesem Jahrhundert stammten die sicher nicht. Ich lief lässig neben ihr. Was konnte ich Ausgefallenes tun?

Das Kinoeis war teuer und wir beschlossen, Nachos zu nehmen. Die waren genauso teuer, aber mit flüssigem Käse und Jalapeños. Wir setzten uns hinter einen Iron-Man-Pappaufsteller, sodass der Typ beim Popcorn uns nicht sah. Twiggy nahm einen Nacho, tunkte ihn in den dampfenden, flüssigen Käse. Sie sah, dass ich es sah, also nahm sie den Nacho und fing an ein Flugzeuggeräusch zu imitieren. Der Nacho wurde zu einem gelben Segler mit geschwungenen Flügeln und hellgelbem Maschinenöl. Er flog ein Manöver, steuerte auf Twiggys geschlossene Lippen zu, entschied sich anders und flog in mehreren Pirouetten darüber hinweg, landete fast in ihren Haaren, kehrte auf der Stelle in den Sturzflug, raste von dort auf mich zu. Ich öffnete den Mund und der Flieger landete mit seiner Käsespitze darin.

»Hast du den neuen Alice im Wunderland gesehen«, fragte ich.
»Er ist von Tim Burton, aber trotzdem Schrott, glaube ich«, sagte sie. »Warum fragst du?«
»Vielleicht ist es eins von diesen dritten Dates ...«
»Sesam. Es gibt nichts Unromantischeres als eine schlechte Verfilmung von Alice im Wunderland. Vielleicht können wir Shutter Island schauen. Der ist von Scorcese, das Buch von Dennis Lehane. Scorcese nimmt sich Zeit fürs Erzählen. Mein Vater sagt, er wäre besser als Autor.«
»Du kennst dich mit Filmen aus, oder?«
»Bücher mag ich lieber«, sagte Twiggy. »Filme sind was für Leute, die nicht lesen können.«
»Ho, ho«, sagte ich. »Ganz schön arrogant.«
»Nein, so mein ich das nicht. Aber wenn wir ihn anschauen wollen, sollten wir jetzt gehen.«
Twiggy nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Alle Filme liefen bereits und Kartenabreißer waren nicht zu sehen. Wir öffneten eine Tür und landeten bei Alice im Wunderland.

Als wir aus dem Kino kamen, war es dunkler geworden, aber nicht eben kalt.
»Was machen wir jetzt«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln.
»Komm schon, Sesam. Du bist dran mit Aussuchen.«
»Na gut«, sagte ich. »Wir ... lass uns zum Italiener gehen.«
»Sesam.«
»Was denn?«, fragte ich schnell.
»Du bist ja ein Experte in Dates.« Sie lachte. »Also zum Italiener können wir nicht gehen. Ich hab nicht so viel Geld und falls du jetzt denkst, dass du mich einladen könntest, vergiss es! So ein Date ist das nicht, was wir gerade haben.«
»Klar«, sagte ich. »Ich kenn' einen Spätkauf, wo wir Nudeln und passierte Tomaten bekommen.«
»Klingt schon besser«, sagte sie.

Twiggy war kein bisschen mager. Sie war auch nicht dick oder mopsig oder wie auch immer. Ich kannte keinen Begriff dafür, aber sie gefiel mir. Ich war mir nicht sicher, aber vermutete, dass sie mich im Armdrücken besiegen würde.
Ali, den Stammkunden Al nannten, machte große Augen, als er mich mit Twiggy in den Laden kommen sah. Ich glaube, wir mochten uns. Bei ihm kaufte ich Zigaretten oder Pepsi für Mo, wir hatten ein paar Mal miteinander gequatscht, aber ich denke, er wusste, dass ich nicht gerne viel redete. Er zwinkerte mir zu, während Twiggy verschiedene Sorten von Fischkonserven begutachtete, ich schaute ernst und schüttelte den Kopf.
Mit einer Packung Spaghetti und einer Dose gewürzter Tomatensoße verließen wir den Laden. Ich zahlte die Spaghetti und Twiggy die Tomatensoße. »Lass uns jetzt zur Kirche gehen«, sagte sie, und dann machten wir es beinahe wirklich.

»Nur noch einen Schlenker«, sagte Twiggy.
»Kommen wir heute noch zur Kirche?«, fragte ich. »Warum wollen wir eigentlich zur Kirche?«
»Unser Date ist jetzt übrigens wieder vorbei«, sagte Twiggy. »Hast du gut gemacht. Hundert Punkte.«
»Dankeschön«, sagte ich. Etwas kroch mir vom Hals in die Brust und kletterte zwischen den Rippen, bis es noch einmal Anlauf nahm und den Magen herunterrutschte. Es tat mir körperlich weh, dass unser Date zu Ende sein sollte.
»Willst du keinen Hauptgewinn?«, fragte Twiggy ungeduldig.
»Doch«, sagte ich. »Ich will den Hauptgewinn.«
Twiggy krempelte den Ärmel ihres Trenchcoats hoch. Da sah ich die Spuren der Rasierklingen das erste Mal.
»Das ist aus meiner Emo-Phase«, sagte sie. »Ich hab damals nur schwarzen Nagellack getragen, schwarzen Lippenstift und natürlich schwarze Klamotten.«
»Wegen einer Emo-Phase?«, fragte ich. Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber ich ahnte, dass das nicht ihr Ding war.
»Ja. Das ist das erste Geheimnis. Hauptgewinn Nummer Eins.«
»Und Nummer zwei gibt es jetzt«, sagte ich.
»Sesam?«
»Ja?«
»Sehr gut.«

Ein einziges Mal habe ich jemandem die Geschichte von Twiggy erzählt, und zwar meinem Bruder. Als ich dazu kam, wie Twiggy auf ihren Dielen saß und Animal Collective hörte, fragte er nach, er wollte alles darüber wissen. Ich meinte: »Das geht dich nichts an.« Ich glaube, dass ich da bereits spürte, wie jedes Geheimnis, dadurch dass man es verrät, an Kraft und Magie einbüßt.
Auf unserem Umweg zur Kirche erzählte Twiggy mir das Geheimnis in aller Ausführlichkeit. Ich habe es am selben Abend aufgeschrieben und danach immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, es aus ihren Augen sehen und fühlen zu können. Hier ist es:

Josh hatte braune, wuschelige Haare. Ich glaube, dass ich das erste Mädchen war, mit dem er jemals was hatte. Josh war so schüchtern. Wir saßen uns gegenüber, in der Wohnung seiner Eltern in Peterborough, auf dem Boden in seinem Zimmer, in dem eine Rakete hing, auf der ein Plastiksoldat stand oder geklebt war. Hätte ich Cedric und Josh nicht gehabt. In Peterborough gibt es ein Schiffshebewerk. Von Grill hatten sie Gras und Pilze. Cedric und seine Schwester haben nur kanadischen Goa gehört und Joshs Lieblingsband war Animal Collective. Seinen Eltern war sowieso alles egal. Das war mein Glück, sonst hätte ich sicher nicht jeden Tag bei ihm sein können. Heute hausen sie wie Junkies in der Wohnung von Cedrics Oma. Manchmal sehe ich ein Bild auf Facebook, auf dem Josh einen Hund in die Kamera hält. Er sitzt auf einem schimmligen Sofa in einer ausgeräumten Wohnung. Ich glaube, sie haben das falsche Zeug genommen.

Josh hat mir gezeigt, wie man in seinen Gefühlen schwimmt. Es ist einfach. Jeder kann es hinkriegen. Bei sich zu Hause. Alles, was man tun muss, ist, sich ein Handy zu besorgen und Kopfhörer. Dann macht man einen Song von Animal Collective an, das ganze Feels-Album ist einfach gut. Man schließt die Augen. Wenn man da sitzt, ist es wichtig, leichte Bewegungen mit dem Kopf zu machen. Am besten die Haare fallen ins Gesicht. Man nickt so lange zum Takt, bis man es automatisch tut. Dann kann man nicht mehr aufhören. Manche malen sich vorher roten Lippenstift auf und denken an eine Person, in die sie unglücklich verliebt sind. Drogen beschleunigen den Prozess. Es ist ratsam, sie einzunehmen; aber wenn man nichts hat, kann man nichts machen. Sich Zeit zu nehmen ist wichtig. Eine Stunde oder zwei. Wenn man einmal gelernt hat, in seinen Gefühlen zu schwimmen, dann kann man es nie wieder vergessen. Es gibt nichts Besseres. Von Zeit zu Zeit sollte man dankbar sein, dass Gott die Musik geschaffen hat.


Den restlichen Umweg zur Kirche schwiegen wir. Erst als wir ankamen, schien es wieder an der Zeit, zu reden.
»Björn hat erzählt, dass du tickst«, sagte Twiggy.
»Was bitte?«, fragte ich und spürte, wie mir Blut in die Wangen stieg.
»Er meinte, du hättest ihm auf dem Skateplatz Koks oder sowas verkauft. Ich wollte fragen, ob du mir auch was verkaufen kannst. Ich möchte das mal ausprobieren. Es kann auch nur eine kleine Menge sein. Und ich wollte dich fragen, was das so kosten würde. Also im Dreh. Ich hab jetzt nicht super viel, aber vielleicht so zwanzig Euro? Meinst du, das würde passen? Falls nicht, ist das auch nicht schlimm. Ich dachte nur, ich frag dich lieber mal persönlich.«
»Stopp«, sagte ich. »Ja, es stimmt. Ich habe das gemacht. Aber …«
»Okay. Wie viel kostet es?«
»Jetzt halt mal die Luft an. Ich hab es gefunden. Ich wollte ihn eigentlich nur fragen, was ich jetzt damit machen soll. Er wollte es mir abkaufen, er hat mir zehn Euro und dann fünfzig angeboten. Vielleicht hätte ich es besser liegen gelassen.«
Twiggy schaute enttäuscht. Dann zuckte sie die Schultern und ließ die Beine baumeln. Das war auf der niedrigen Mauer vor der Kirche.
»Ich könnte aber irgendwo etwas besorgen«, sagte ich.
Twiggy schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das war eine bescheuerte Idee. Egal.«
Eine Zeit lang saßen wir nur so da. Twiggy roch nach Parfüm. Etwas mit Blumen. Ich suchte Worte, wollte verhindern, dass sie geht.
»Ich hatte im Übrigen Lust, dich kennenzulernen«, sagte sie, ohne mich anzusehen.
»Mich? Warum?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst nett. Außerdem habe ich das merkwürdige Gefühl, etwas verpasst zu haben, weil wir uns in der Schule nie wirklich über den Weg gelaufen sind.«

Schluss. An dieser Stelle wurde mir übel. Es war die Aufregung und natürlich jene Art spontaner Verliebtheit, wie sie manchmal auftritt. Diese Drogennummer klingt, wie an den Haaren herbeigezogen. Das weiß ich. Es war aber genau so, wie ich es beschrieben habe. Ich habe den Beutel im Gebüsch gefunden, als ich pinkeln war, und dachte, wow, das ist bestimmt was wert. Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, was es bedeutet, Björn diesen Scheiß zu verkaufen.
»Warum heißt du eigentlich Twiggy«, fragte ich.
»Ich heiß eigentlich Martha, aber nenn mich bitte nicht so.«
»Wieso?«
»Weil ich Twiggy bin.«
»Aber gab ’s die nicht schon mal irgendwann?«
»Hm«, sagte Twiggy und schaute geradeaus, als hätte ich etwas Falsches gesagt.
»Kennst du eigentlich Magic?«, fragte ich.
»Nein.«
»Es ist das beste Spiel, das es gibt. Wizards of the Coast, falls dir das was sagt.«
»Nee. Sagt mir gar nichts«, sagte sie.
»Es läuft ungefähr so. Du sammelst Karten und dann triffst du dich mit anderen und trittst gegen sie an. Aber es sind die Karten. Sie sehen einfach schön aus.«
»Echt?«, fragte Twiggy.
»Ja, wirklich. Meine Lieblingskarte ist der Scion of Darkness. Eine ziemlich coole Karte.«
»Was ist denn so besonders daran?«
»Er kann tote Kreaturen wiederbeleben.«
»Oh, das klingt wirklich cool.«
»Außerdem mag ich, dass er so böse ist. Er ist im Grunde schlimmer als Satan. Also ungefähr …«, sagte ich.
Twiggy lachte und ich bekam ein gutes Gefühl, weil ich vielleicht etwas richtig gemacht hatte.

Es war merkwürdig. Während ich Twiggy vom Scion of Darkness erzählte, merkte ich selbst, wie bescheuert das klingen musste. Ich war kein kleiner Junge mehr und trotzdem erzählte ich ihr diesen ganzen Kram. Sie meinte daraufhin, dass sie sich ein paar Mal zu Hause mit Vodka besoffen hatte, nur weil ihr langweilig war. »Das ist doch irgendwie etwas ähnliches«, sagte sie. Ich stimmte ihr zu, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wovon sie eigentlich redete, und etwas gab mir zu verstehen, dass ich ihr nicht gewachsen war.
»Tut mir leid, dass ich mir deine Nummer besorgt hab«, meinte sie irgendwann.
Ich wollte ihr sagen, dass ich mich darüber freute, aber stattdessen nickte ich nur, wie zu allem.
»Ich kann sie ja einfach löschen.«
»Ja«, sagte ich.
»Also, dann geh ich jetzt auch.«
»Okay«, sagte ich. »Wollen mir mal auf ein Konzert gehen, oder sowas?«
»Ja, können wir machen.«

Twiggy wäre nicht Twiggy gewesen, wenn sie mich einfach so hätte gehen lassen. Schnell wurde klar, dass wir noch in die Kirche mussten und damit unser zweites Date begonnen hatte.
»Wenn alles gut läuft«, sagte sie, »dann heiraten wir einfach, okay?«
»Wenn du magst«, sagte ich und wünschte, ich hätte nur ein Mal die passenden Worte gehabt. Twiggy hüpfte von der Mauer und landete in der Hocke. Ich tat es ihr nach, versuchte im Stehen und ganz mühelos aufzukommen. Ich hoffte, dass sie noch einmal unvermittelt nach meiner Hand greifen würde. Durfte ich ihre einfach nehmen? Auf keinen Fall. Twiggys kühle, glatte Finger berührten meine Hand. Die Kirche war noch geöffnet und als wir sie betraten, hatte ich das Gefühl, dass sie allein Twiggy und mir gehörte.

Ich wusste, wie man Weihwasser benutzt. Man hält den Zeigefinger hinein und dann macht man sich ein Kreuz auf die Stirn. Twiggy tat das nicht. Sie stand im Chorraum und schaute staunend zum Altar. Eigentlich hatte ich mir die Kirche größer vorgestellt. Ich war noch nie hier gewesen. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, ging ich mit meinen Eltern zum Gottesdienst. Warum wir das machten, wussten wir alle nicht so richtig. Mir aber gefiel es. Doch das war in einer anderen Kirche. Diese hier mochte ich weniger. Der Jesus sah schäbig aus. Nicht auf die Weise, dass es einen Sinn ergab, mehr verwahrlost, als kümmerte sich niemand um ihn. Die Schnitzerei war grob und unstimmig; er schien sogar leicht schief zu hängen. Die Fenstergläser erzählten keine Geschichten. Das einzig Kirchliche an diesem Ort war die Höhe des Raumes, die Anordnung der Sitzreihen zum Altar hin und der Weihrauchgeruch.

Twiggy hatte sich neben einem Tisch mit Kerzen auf den Boden gesetzt. Ich las: Eine Kerze für einen Euro. Darüber dachte ich gar nicht erst nach. Irgendwo musste es einen Luftzug geben, weil sich die Flammen der Kerzen zur Seite bogen. Ich setzte mich zu Twiggy. Im Schneidersitz, wie sie es tat.
»Zeit für eine Beichte«, sagte sie.
»Ich glaube, das ist eine evangelische Kirche.«
Twiggy legte den Kopf schräg.
»Eine Beichte«, sagte sie.
»Okay.«
Twiggy schaute mich eine Weile schmunzelnd an, bis ich begriff, dass ich beichten sollte.
Ich runzelte die Stirn.
»Ich hab mal jemanden umgebracht.«
Twiggys Augen wurden größer und ihr Lächeln schwand wie Wasser aus einem abgeknickten Gartenschlauch.
»Ein Scherz«, sagte ich.
Twiggy schloss die Augen. »Nicht witzig«, sagte sie. »Oder doch?«
»Ich höre jeden Abend Kinderlieder zum Einschlafen.«
»Wirklich? Aber das ist keine Sünde, Sesam.«
»Ich kann niemanden leiden und bin allein«, sagte ich. Das tat weh. Ich hätte es nicht gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass es weh tut, aber es war mir so rausgerutscht.
Twiggy nickte.
»Jetzt bist du dran.«
»Ich habe nichts zu beichten«, sagte Twiggy. »Mein Herz ist rein.«

Ich glaubte ihr kein Wort. Trotzdem sagte ich dazu nichts.
»Meine Eltern haben mir vorgestern ein Foto von den Gebetsmühlen in Tibet geschickt.«
»Deine Eltern sind in Tibet?«
»Sie machen eine Weltreise. Aber ich wollte nicht mit.«
»Was?! Spinnst du?« Twiggys Stimme hallte im Kirchenraum wider.
»Ja, ja. Ich weiß«, sagte ich. Ich wollte nicht, dass Twiggy mich auf diese Weise ansah.
»Du hast wirklich ein Rad ab. Weißt du eigentlich, wie gern ich nach Tibet will?«
»Nein.«
»Gerne«, sagte Twiggy.
»Und was glaubst du, was du dort findest?«
»Erleuchtung. Keine Ahnung, was. Ist doch egal. Tibet! Checkst du es nicht? Das ist am anderen Ende der Welt, okay?« Wieder verteilten sich Twiggys Worte bis hinten zum Altar.
»Nee«, sagte ich. »Das ist eben das Problem. Ich checke es eben nicht.«

Eine Tür öffnete sich und heraus trat ein Mann in einem schwarzen Gewand mit weißem Kragen. Er sah uns an, sein Gesicht war aufgedunsen und alt, er trug eine eckige rahmenlose Brille. Sein Blick verweilte auf Twiggy, dann sah er mich an. Er hielt ein paar Blätter in der Hand; wie er da stand, hätte er uns an dieser Stelle gut etwas vorlesen können. Stattdessen ging er seitlich an den Sitzreihen vorbei zur Orgel, setzte sich hin, legte das Papier auf die Notenablage und begann zu spielen. Ich sah Twiggy an und grinste. Sie grinste gar nicht, schaute gebannt zur Orgel. Ich wunderte mich, dass so wenige Pfeifen einen so schönen Klang erzeugen konnten. Was er da spielte, wusste ich nicht; ob es etwas Kirchliches war. Die Töne waberten durch den Raum. Twiggy schloss die Augen und ich tat es ihr nach.

In der ganzen Zeit, die wir dort in der Kirche saßen, kam kein einziger Besucher. Der Mann mit dem schwammigen Gesicht hatte nicht aufgehört zu spielen und wir waren nicht müde geworden, ihm zuzuhören. Der Steinboden war zu kalt, um darauf sitzen zu bleiben, also hockten wir so da.
Mit einem langen Schlussakkord endete ein weiteres Stück. Der Mann drehte seinen Kopf zu uns, als hätte er lange darüber nachgedacht, wie er es tun würde.
»Das war Brahms«, sagte er. »Kennt ihr das?«
Es war irritierend, dass der Mann aussah und sprach, als wäre er ein Kotzbrocken, uns aber gleichzeitig als die privaten Gäste seines kleinen Konzertes behandelte, die wir ja auch waren.
»Es heißt 'Herzlich tut mich verlangen'«, sagte er.
»Kennen Sie Animal Collective?«, fragte Twiggy.

Ich hätte mich nicht sehr gewundert, wenn Rainer mit uns den Messwein getrunken hätte, aber dazu kam es nicht. Er erzählte uns, dass er Pfarrer in dieser Gemeinde sei und Organist. Es kämen kaum junge Leute her, das wundere ihn. Er bat uns, zu erzählen, was junge Leute heute so machten. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr gut selbst eine Antwort auf diese Frage kannte, aber wir in diesem Moment so etwas wie die Repräsentanten der Jugendlichen im Allgemeinen darstellen sollten. Wir gaben Rainer befriedigende Antworten, denke ich. Dass wir nicht wüssten, was wir wollten; dass wir viele Dinge ausprobierten und offen seien. Er sagte, dass wir ihn duzen könnten.
»Würdest du uns verloben, Rainer?«, fragte Twiggy.
Rainer schmunzelte und antwortete wohl besser nichts darauf.

»Ich kauf uns Pizza«, sagte ich. Es war nun endgültig dunkel geworden und ich wünschte mir, mit Twiggy an einem hellen, warmen Ort zu sein.
»Wir haben doch schon was«, meinte Twiggy. Die Dosentomaten zeichneten sich eckig unter der Seitentasche ihres Trenchcoats ab.
»Ist mir egal«, sagte ich. »Ich habe Lust auf Pizza.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm ich mein Handy und suchte die Nummer von Pizza Jones heraus; das war ein schmutziger Laden mit billiger Pizza und Mos und mein Favorit.
»Artischocke«, sagte Twiggy.
»Hallo, Sesam hier«, sprach ich ins Telefon auf Verdacht, Twiggy könnte es witzig finden. »Zweimal Artischocke, bitte.« »Brabanter Platz fünf.« »Danke.«
»Okay«, sagte ich zu Twiggy. »Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn an der Tür.«

Ich kannte den Pizzaboten, aber so verschwitzt hatte ich ihn noch nie gesehen. Er kam auf die Sekunde zeitgleich mit uns an.
»Die Pizzas sind verrutscht«, murmelte er.
Ich nahm die Pappkartons mit dem lächelnden Koch entgegen und öffnete sie vorsichtig.
»Was schlägst du vor?«, fragte ich.
»Ihr könntet sie so nehmen und den Käse verteilen«, sagte er.
»Ohne zu bezahlen?«
»Nein. Natürlich nicht.«
Twiggy stand daneben und der Pizzabote und ich uns gegenüber. Ich hatte das Gefühl, dass das meine Angelegenheit war. Während ich mit ihm sprach, fühlte ich etwas, dass sich ungefähr so beschreiben lässt: Du hast eigentlich keine Ahnung von dem, was im Leben des Menschen, mit dem du gerade verhandelst, vorgeht. Du bist nicht in der Position zu sagen: Das sind Pizzen, die meine verdienten zwanzig Euro plus Trinkgeld nicht wert sind; der Job im Kartenladen wurde dir geschenkt, wie alles andere auch in deinem Leben. Deine Eltern haben dich nach Nepal eingeladen. Sie haben das Geld, so etwas zu tun. Du siehst, dass der Pizzabote das denkt, das ist deine Rolle, du bist das Arschloch. So lange du bei deinen Eltern wohnst, so lange du Essen aus ihrem Kühlschrank und Geld aus ihrem Portmonee nimmst, wenn deines nicht reicht, so lange hast du kein Recht, eine Pizza zu beanstanden, die aussieht, als hätte jemand damit Frisbee gespielt. Aber genau das wollte ich tun. Ich wollte das Arschloch sein.
»Entweder wir bezahlen die Hälfte oder du nimmst die Pizzen wieder mit«, sagte ich.
Und so geschah es.

Ich hielt die warmen Kartons wie Trophäen in der einen Hand und schloss mit der anderen die Tür auf. Twiggy sagte nichts, ich wusste, dass ich mich unbeliebt gemacht hatte. Manchmal hilft es, nicht weiter über so eine Sache zu reden. Wenn man eine Entscheidung bewusst trifft, dann kann sie einem weh, aber niemals leid tun. Ich legte die Kartons auf den Küchentisch und zeigte Twiggy mein Zimmer. Die Stimmung war schlecht, vielleicht lag es auch am Hunger.
»Ich mag es«, sagte Twiggy. »Und das Hochbett«
»Danke«, sagte ich. »Ist das eigentlich noch unser Date?«
Twiggy schüttelte den Kopf.

Ich zeigte ihr noch die anderen Räume, während ich wünschte, meine zwanzig Euro einfach beim Pizzaboten gelassen zu haben. Das Zimmer meiner Eltern roch wie immer nach abgestandener Luft. Ich fand es nicht komisch, es Twiggy zu zeigen. Sowieso fühlten sich die letzten zwanzig Minuten wie das Planspiel unserer von Rainer nicht besiegelten unglücklichen Ehe an.
»Wow, es gibt zwei von dir?«, fragte sie, zeigte auf ein Foto mit meinen Eltern, mir und meinem Bruder.
»Ja«, sagte ich. »Er ist auf das Goethe gegangen.«
»Wirklich?«
»Normalerweise mögen Zwillinge sich, aber er ist mir fremd.«

Als nächstes zeigte ich Twiggy die Speisekammer und den Ort zwischen den Jacketts und Mänteln, an dem ich mich als kleiner Junge manchmal versteckt hatte. Ich spürte, dass ich sie trotz Hunger und allem wiedergewann.
»Deine Eltern haben Geld, oder?«, fragte sie.
»Es geht«, sagte ich und fühlte mich stolz und dann wieder wie ein Arschloch. »Ich will niemals so viel haben. Man kauft nur unnütze Dinge.«
»Das stimmt nicht«, sagte Twiggy. »Wenn ich Geld hätte, würde ich ganz viel Nützliches kaufen.«
»Na gut«, sagte ich. »Wollen wir Pizza essen?«
»Du sagst das nur, weil du nicht weißt, wie das ist, kein Geld zu haben.«
»Ja«, sagte ich.
»Okay, lass uns Pizza essen.«


Die Pizzen waren lauwarm. Wir setzten uns auf die Couch, Twiggy schien von den Büchern meiner Eltern beeindruckt zu sein. Ich schaltete den Fernseher ein, um nicht reden zu müssen. Twiggy setzte sich auf die andere Seite des Sofas; nicht weit genug, um behaupten zu können, dass sie sich von mir distanzierte, aber bei weitem nicht so nah, um es als Annäherung zu interpretieren. Wenn das der emotionale Abstand war, der sich gerade zwischen uns befand, dann betrug er ungefähr anderthalb Meter. Ich zappte die Kanäle durch, schaute nach vorne, aber konzentrierte mich auf das seitliche Blickfeld. Twiggy hatte die Beine angezogen und sich das erste Stück Pizza genommen. Meine Nachdenklichkeit und Aufmerksamkeit Twiggy gegenüber wich einem starken Hungergefühl. Liebe geht nicht durch den Magen, es ist umgekehrt.


»Ich schaue normalerweise kein Fernsehen«, sagte ich.
Twiggy sah mich an und dann wieder zum Fernseher.
Diesmal war es wirklich spannend. Weil ein Andreas Tölzer, den keiner von uns kannte, als Judokämpfer nach Tokio geschickt worden war, übertrugen sie die Weltmeisterschaft. Ich hätte nie gedacht, dass mich Judo interessieren könnte. Es war mir immer wie die harmlose Version von Karate vorgekommen, dabei kannte ich keines von beidem wirklich. Ich mochte, dass sie alle in Bademänteln kämpften. Ihre Bewegungen waren stark und gerade. Als würden sie Schnitzel ausklopfen.
»Mein Vater zeichnet Sumos«, meinte Twiggy. »Er ist Künstler.«
»Aber das ist Judo«, sagte ich.
»Ja. Aber er zeichnet Sumos«, sagte sie.

Von Andreas Tölzer war nicht mehr viel die Rede. Stattdessen kämpfte Tachimoto Megumi gegen Sugimoto Mika. Die Emotionen in den Gesichtern der Kämpferinnen fesselten mich; ich hatte das Gefühl, mein Leben wäre ein Witz gegen so viel geballten Ehrgeiz und so viel Leidenschaft. Das Sofa bewegte sich ein bisschen und mir fiel auf, dass sich der emotionale Abstand zwischen Twiggy und mir auf etwa fünfzig Zentimeter verkürzt hatte. Dabei hatte ich mich bislang nur ein bisschen in ihre Richtung bewegt. Tachimoto fiel und Sugimoto umschlang sie, aber es war nur ein Manöver. Im Fallen stellte Tachimoto, Sugimoto ein Bein, fing sie im Flug auf, sodass sie im Schwitzkasten landete. Es war einfach unfassbar.
»Wollen wir was trinken?«, fragte Twiggy.

Wir nahmen uns Bier aus dem Kühlschrank. Mein Vater hatte den Tick, Bier nur aus Dosen zu trinken. Er meinte, es sei frischer. Wir rissen die Dosen auf und Twiggy leerte ihre in einem Zug. Ich sah sie staunend an. Sie grinste, stellte die Dose auf den gläsernen Couchtisch und rülpste wie Homer Simpson. Wahrscheinlich war ihr der Schleichgang, in dem wir uns einander näherten, nun endgültig zu blöd. Sie setzte sich direkt neben mich. Ihr Bein unter einer rostfarbenen Strumpfhose berührte meines. Mit einem Mal schlug mir das Herz durch die Lungen in den Hals und aus meinem Gehirn regneten Endorphine. Ich grinste. Wieder schauten wir in Richtung Fernseher. Für heute kein Judo mehr. Ein Mann mit glänzenden, rot gefärbten Locken erklärte Anrufern ihre Zukunft und Probleme. Ich dachte ungefähr zehn Sekunden darüber nach. Dann legte ich meine Hand auf Twiggys Knie. Dort weilte sie weitere zehn Sekunden, in denen ich fühlen konnte, wie falsch sie dort war; bis Twiggy wortlos ihr Knie anzog, sodass die Hand aufs Sofa rutschte.

Es kam mir nicht wie eine Abweisung vor. Mehr wie ein vorsichtiger Hinweis auf ein Missgeschick. Ich schlug vor, einen Blick auf die Alkohol-Vorräte meiner Eltern zu werfen. Es gab verschiedene Sorten Gin, Brandy und einen besonderen Vodka, ein paar Liköre, die selbstgemacht aussahen und wenig attraktiv. Twiggy zeigte auf den Vodka. Ich holte zwei Gläser, schraubte die Flasche auf und goss die Gläser voll.
»Spinnst du?«, fragte sie.
»Ja«, sagte ich. Ich trank das Glas in einem Zug aus.
Twiggy nippte an ihrem Vodka und stellte ihn auf den Tisch. Ich goss mir Brandy ein.

Der Abend wurde nicht angenehmer, ich nicht weniger betrunken und Twiggy nicht mehr. Trotzdem hatte sich der emotionale Abstand zwischen uns aufgelöst. Ich legte eine Platte von den Rolling Stones auf und schlug Armdrücken vor. Twiggy war einverstanden. Wie ein Profi krempelte sie sich die Ärmel hoch. Ihre Arme waren weder dünn noch dick. Es waren Mädchenarme. Ich konnte nicht genau sagen, woran man das sah. Wieder war es der rechte, mit feinen Narben förmlich übersäte Arm. Das klingt sicher komisch, aber ich fand das kein bisschen hässlich. Ich wollte Twiggy berühren und an mich drücken. Wir waren auf den Teppichboden umgezogen. Twiggy lag auf dem Bauch. Ich griff ihre Hand und drückte, dachte, es würde leichtes Spiel werden. Ich bekam ihren Arm keinen Zentimeter bewegt. Kurz überlegte ich, ob sie einen Trick benutzte. Twiggy grinste und als mein Kopf rot wurde, schlug sie meinen Arm mit einem Dreh auf den Teppich.

Twiggy meinte, dass es spät und sie morgen mit einer Freundin im Museum verabredet sei. »Du kannst gerne mitkommen«, sagte sie, und wahrscheinlich war das für mich der erleichterndste Moment des Abends.
»Ich habe noch etwas für dich«, lallte ich. Wir gingen in mein Zimmer. Aus dem Regal nahm ich mein rotes limited Collectors Album. In der Mitte der ersten Seite, der Auswahl meiner Lieblingskarten, hatte ich einen Scion of Darkness mit der Unterschrift des Illustrators, Mark Zug. Mo hatte ihn mir von einer Messe mitgebracht. Ich nahm eine durchsichtige Hülle, atmete einmal tief durch, und nahm die Karte aus dem Album.
»Hier.« Ich hielt sie Twiggy hin.
»Danke«, sagte Twiggy. Es schien nicht nötig, noch einmal Begeisterung zu zeigen.
Twiggy nahm ihren Trenchcoat von der Garderobe und verabschiedete sich mit einer Umarmung.
Ich wollte heulen, aber wusste nicht genau weshalb und ob es am Alkohol lag.
Damit endete unser vielleicht drittes Date.


Am nächsten Tag rief ich bei Mo im Laden an, um ihm zu erklären, dass ich etwas Wichtiges zu erledigen hätte. Er fragte nicht weiter nach. Twiggys versprochene Freundin kam nicht mit ins Museum und der Tag endete mit meiner ersten Nacht in Twiggys Wohnung. Auf einer Gästematratze in ihrem Zimmer. Am nächsten Abend war ich zum Essen eingeladen. Es gab einen Fisch mit Salzkruste und Twiggys Eltern fragten mich über Dinge aus, über die ich vielleicht noch nie nachgedacht hatte. Es war klar, dass ich noch einmal übernachten würde. An diesem Abend hörten wir meine Kinderkassetten. Twiggy hatte es sich gewünscht und ich hatte nicht nein sagen können. Nach zwei weiteren Tagen gab ich meinen Job bei Mo auf; es gab ein trauriges Treffen. Er verstand nicht, weshalb, und ich konnte ihm nicht sagen, wieso. Wir tranken Pepsi und aßen Pizza. »Ich will jetzt Bücher schreiben«, sagte ich.

Twiggys Eltern waren tagsüber zu Hause. Es schien sie nicht zu stören, dass ich quasi über Nacht eingezogen war. Ich kümmerte mich um das Essen oder gab dem Hauskaninchen, James, frisches Heu und Möhren. Er war nicht ganz stubenrein; dafür war ich dankbar. So konnte ich mich durch ihn nützlich machen. Twiggy und ich redeten nicht viel. Da war eine stille Vertrautheit zwischen uns, von der ich nicht wusste, woher sie kam und ob ich sie verdient hatte. Wir dachten uns neue Spiele aus. Die Sache mit den Dates war irgendwann ausgelutscht.
Während sie Bewerbungen an Universitäten schickte, schrieb ich kleine Texte über uns und zeichnete dazu. Ich hatte weder Ahnung, dass ich so etwas schreiben, noch dass ich zeichnen konnte. Wenn ich sie sah, fielen mir lauter überzeugende Dinge ein. Solche, die mich von ihr überzeugten und solche, mit denen ich sie überzeugen wollte, dass ich genauso ungewöhnlich war wie Josh oder einer ihrer alten Freunde.

Nach dem fünften Tag zeigte ich Twiggys Vater eines meiner Gedichte. Er rollte mir eine Zigarette; den Tabak bewahrte er in einer Plätzchendose auf und benutzte dicke Filter, wie ich sie bislang noch nicht gesehen hatte. Die Zigaretten, die ich von da an mit ihm rauchte, wenn wir über meine Texte sprachen, schmeckten erdig und gaben mir das Gefühl, erwachsen zu sein und an einem Ort, an den ich wirklich gehörte. Manchmal redete ich mehr mit Twiggys Vater als mit ihr. Auch ihre Mutter hatte immer etwas für mich. Es ging nicht, dass wir uns nur in der Küche begegneten. Es waren einfache Geschenke, aber sie bedeuteten mir viel. Ein Glas Hollunderwasser, ein Stapel vergilbter Papiere zum Schreiben, ein Buch von Cesare Pavese. Später, als klar wurde, dass wir uns nicht wieder sehen würden, bekam ich die Lieblingsschallplatte des Vaters. Das war Astral Weeks von Van Morrison; Twiggys Vater meinte dazu, dass sie ihn durch seine schwierigste Zeit gebracht hatte.

Während Twiggy und ich zusammen im Raum saßen, arbeitete ich an der Geschichte über unseren ersten Kuss, den es bislang nicht gegeben hatte. Später war es genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich schrieb, man kenne das ja, man küsse irgendeinen Menschen zum ersten Mal; das wäre ja auch schön und alles, aber auch austauschbar. Nicht so mit Twiggy. Wie ein Song, in den man sich verliebt – ich war sehr stolz auf diesen Vergleich. Verdammt, man will ihn immer wieder hören. Wieder und wieder und wieder und wieder. Aber dann ist es doch nicht wie Musik. Man kann es nicht noch einmal fühlen. Man kann sich nur für den Rest seiner Tage daran erinnern, wie wunderschön es geklungen hat.


Twiggy hatte den Scion of Darkness mit Mark Zugs Unterschrift an die Bücher in ihrem Regal gelehnt. Neben den vielen Einbänden wirkte die Karte plötzlich wie ein intellektueller Gegenstand. Ich schrieb. Nicht nur Geschichten, auch Listen, die ich in einer Zigarrenkiste, die mir ihr Vater geschenkt hatte, sammelte. Wenn Twiggy noch schlief oder sich mit jemandem traf, dann schlich ich durch die Wohnung und dokumentierte alles haargenau. Es reichte nicht, nur Fotos davon zu machen. Wenn jemand mir diesen Ort wegnehmen würde, und dieses Gefühl hatte ich, dann blieben mir nur eine Handvoll Erinnerungen, die Fotos und eben diese Notizen. Mein neues Leben hatte begonnen und ich war neugierig wie ein Reh bei seinen ersten Gehversuchen. Literatur schien definitiv die Kategorie zu sein, die eine Chance versprach, Twiggy so für mich einzunehmen, dass ihr Interesse an mir nicht absterben und es weitergehen würde mit uns. Es war ein Startschuss; jemand hatte mich durch Zufall dazu gebracht, etwas zu wollen, und jetzt wollte ich es mit allen Mitteln.

Nach über einer Woche mit Twiggy, verbrachte ich ein paar Tage zu Hause. Warum hatte ich den Job bei Mo aufgegeben, konnte ich ihn vielleicht zurückbekommen? Aus Langeweile fing ich an, ein paar Texte über einzelne Karten zu schreiben. Wie es zum Wrath of God gekommen und wie sich der Goblin Chirurgeon aus seinen Feinden neue Freunde zusammenflickte. Ich las die Berge des Wahnsinns von Lovecraft und glaubte am Anfang einer Revolution zu stehen, die ich noch auslösen musste. Es lag alles in meinen Händen, alles zeigte auf mich und stellte mich dem großen Publikum mit den Worten vor: Das ist er. Er wird euch verändern, weil sie ihn verändert hat.

Twiggy mochte meine Texte.
»Ich würde das lesen«, sagte sie.
»Aber ich schreibe für mich«, antwortete ich stolz, obwohl das nicht stimmte.
»Das sagen sie alle am Anfang.«
Natürlich vermutete ich, dass es an meinen Texten lag. Die Gästematratze war nicht mehr da und als Twiggy fragte, ob ich blieb, war mir klar, dass ich in ihrem Bett schlafen würde. Wir hatten zwei Decken. Zusammen standen wir vorm Badezimmerspiegel und putzten Zähne. Ohne Schminke – ich hatte nicht gewusst, dass sie sonst welche trug, selbst als ich bei ihr schlief – sah Twiggy nicht schöner oder weniger schön aus. Mein Blick auf Twiggy veränderte sich nicht. Ich wollte sie in jeder Facette begreifen, es war wie eine Jagd nach Eindrücken; ich konnte gar nicht schnell genug sein, sie für die Zeit danach zu retten.
Als wir im Bett lagen, kam ich mir wie ein Stück Holz vor. Das Licht war aus und vielleicht wartete ich darauf, dass irgendetwas passierte. Das war nicht der Fall. Ich wartete und wartete, bis ich einschlief.

Es waren drei Nächte und sie änderten kaum etwas. Ich lag da, fühlte ihre Wärme dicht bei mir, atmete ihren Geruch. Das war nicht die Summe von Waschmittel und Deoresten auf ihrer Haut oder Shampoo in ihrem Haar. Es war Twiggys Geruch, der multiplizierte sich in mir zu schrägen Gefühlen, die mir Angst machten; vor mir selbst und davor, Twiggy zu verlieren. Ich konnte sie nicht berühren. Es stand mir nicht zu. Sie vergab das Geschenk ihrer Aufmerksamkeit, wann sie es wollte. Ich wartete auf etwas Großes; es musste immer größer sein als am Vortag. Twiggy war der spannendste Film. Jede Geste, jede Bewegung im Dunkeln ließ mich auf mehr hoffen und wurde nie erfüllt. Wenn sie wirklich ein Film war, dann musste es eine Auflösung geben. Aber erst zum Schluss; so lange hatte ich Zeit, die Sache zu dokumentieren.

Ohne Twiggy davon zu erzählen, kaufte ich an einem Nachmittag zwei Tickets nach Island. Ich vermutete, dass sie es interessant finden würde. Sie hatte mir ein Musikvideo von Björk gezeigt und weil bei Twiggy jeder Impuls zu einer Kehrtwende führen konnte, dachte ich, Island könnte unser gemeinsamer Plan werden. Die Tickets druckte ich uns aus und steckte sie in ein Kuvert. Eine Briefmarke klebte ich auch darauf. Nur so. Twiggy war nicht zu Hause, also nutzte ich die Zeit, um meine Magic-Geschichten in Island weiterzuschreiben. Lange saß ich nur vor leeren Blättern. Ich zeichnete einen Goblin, der einen anderen in Stücke sägte; um mich zu konzentrieren. Als es losging, setzte ich den Stift nicht mehr ab. Ich hatte alles im Kopf und eine fertig gedrehte Zigarette auf dem Tisch.

Shîwork, der Chirurg, hatte lange keine Sonne mehr gesehen. Er löffelte das Auge von Gromork, den er gestern geschlachtet hatte. Verträumt sah er aus dem Fenster in Gromorks Küche auf den glitzernden Fjord, der sich im Tal erstreckte. Zwei spitze Felsen bildeten das Tor zur weiten See. Shîwork musste Gromorks Überreste rationieren. Gab er nur seinem unbändigen Hunger nach, blieben nicht genug Teile übrig, um sich aus dem erbitterten Feind noch einen treuen Gefährten zu flicken, den er mit den Zaubersprüchen seines Großvaters zum Leben erwecken konnte. Shîwork hatte alles verloren, sie hatten ihm alles genommen; jetzt hatte er nur noch seine Erinnerungen. Wenn er fleißig war und sparsam mit dem Fleisch, dann konnte er sich ein Abbild von allem herstellen. Das war alles, was er in dieser Welt tun konnte.

Twiggy nahm mich nie zu ihren Freunden mit. »Nein«, sagte sie, und das Thema war vom Tisch. Ich wusste nicht, warum sie mich bei sich behielt. Vielleicht dachte sie, dass das nicht ihre Entscheidung wäre. Sie hatte mir Fotos gezeigt und Geschichten erzählt. Vor allem ein gewisser Paul schien interessant zu sein. Er band ihr Wunderkerzen ans Fahrrad und lieh ihr seine Jacke aus. Die roch gut und das machte mich fertig. Ihre Freunde fotografierten mit Analog-Kameras. Sie gingen auf Vernissagen, aßen Raclette zusammen, tranken Rotwein, wie man an Twiggys Zähnen sah, machten, wovon ich nichts wusste. Als Twiggy mir wieder von Josh erzählte, sagte ich, dass ich davon nichts mehr hören wolle. Kein einziges Mal erwähnte sie ihn noch und hörte seitdem ihre Musik mit Kopfhörern.

Shîwork, der Goblin-Chirurg, rächte sich an Twiggys Freunden. Er entführte Twiggy und verfütterte sie an einen Kraken, der im Fjord lebte, doch der Krake verschmähte sie. Diesen Text zeigte ich Twiggy nicht. Ich malte große Bilder; sie wirkte auch beeindruckt davon, aber es reichte mir nicht. Ich sagte ihr, dass ich ihre Freunde kennenlernen wollte oder sie sich andere suchen müsste. Twiggy lachte mich aus, ließ mich im Zimmer stehen und schlug die Haustür etwas fester zu als sonst. Ich rief bei Mo an, um mir meinen Job zurückzuholen, aber Mo legte einfach auf. Wahrscheinlich erwartete er, dass ich persönlich im Laden vorbeikam. Nach zehn Minuten hatte ich es mir anders überlegt. Meine Eltern schickten Bilder aus Kerala. Ich blockierte ihre Nummern. Für zwei Wochen, sagte ich mir.

Es war Winter geworden und James, das Hauskaninchen, war an einem Virus über Nacht gestorben. Die Island-Tickets hatte ich vorsichtshalber für mich behalten. Twiggy und ich hatten seit meinem Wiedereinzug vielleicht drei oder vier Worte miteinander geredet. Die Verbindung zwischen uns war nicht abgerissen, dafür aber bekam ich Twiggys Eltern kaum noch zu sehen. Als ich einen Zettel von Twiggy auf dem Schreibtisch fand, in dem sie erklärte, dass sie heute Abend bei Paul blieb, packte ich meine Sachen und ging. Für über eine Woche meldete ich mich nicht bei Twiggy und sie sich nicht bei mir. Ich lag im Bett und hörte meine Kassetten, um einschlafen zu können, als ich eine Nachricht von ihr bekam. »Möchtest du noch ein drittes Mal einziehen? Falls ja, komm morgen. Twiggy.«

Der Rest erzählt sich schnell. Klar zog ich ein drittes Mal bei Twiggy ein und von Paul und anderen Freunden hörte ich erst mal nichts. Wir gingen zu einem Konzert von Animal Collective. Ein paar Mal nahm sie meine Hand und ein Mal saßen wir uns eine Viertelstunde lang in ihrem Zimmer gegenüber und dann küsste sie mich. Als ich wieder alleine zu Hause war, bin ich ziemlich verrückt geworden. Alle fünf Minuten habe ich ihr eine Nachricht geschrieben und dann wurden ihre immer weniger. An einem furchtbaren Sonntag haben wir ein klärendes Gespräch geführt. Ich glaube, ich habe nie wieder so lange und so bitterlich geweint, aber ich denke auch, dass es das Richtige war. Noch heute setze ich mich manchmal auf den Boden in meinem Zimmer und mache ihren Song an. Dann schwimme ich für ein paar Minuten in ihren Gefühlen. Vielleicht sind es auch meine eigenen. Das weiß man nie so genau.

 

Hey @Carlo Zwei,

so, nun habe ich auch endlich Deine Geschichte gelesen. Und da Du sie gern weiter ausbauen möchtest, werde ich vor allem unter diesem Augenmerk kommentieren. Ich denke schon, dass der Text gut ausbaufähig ist, denn gegen Ende hin ist fast alles tell. Wenn Du das szenisch aufarbeitest, sollten da noch vieeeeele Seiten zusammenkommen.

Mich hat der ganze Text an Betty Blue von P. Djian erinnert. Weiß nicht, ob Du den Roman kennst, auf jeden Fall ist er lesenswert. Da geht es auch um die Liebe zu einem "durchgeknalltem" Mädchen und wie schwer es ist, mit ihr eine Beziehung zu führen. Betty Blue ist allerdings ein bis fünf Nummern größer als Twiggy, was den Faktor - speziell und eigen - betrifft. Und damit bin ich bei meinem ersten Punkt: Ich finde Twiggy gar nicht so "special" wie der Erzähler behauptet. Ich empfand sie eigentlich als ganz umgänglich. Seine Angst, einer solchen Frau nicht genügen zu können, kann ich gut nachvollziehen, allerdings erscheint sie mir in der jetzigen Version doch etwas unbegründet. Schön fand ich das Ding mit den Dates und das sie drei an einem Tag haben. Von solchen Sachen hätte ich gern mehr gehabt. Auch, dass sie ihn so auf Distanz hält. Und das er praktisch sofort bei ihr einzieht, aber auf einer Gastmatratze schläft. Dieses irgendwie ja und irgendwie doch nicht, dieses Schweben dazwischen, die Hoffnung vs. die Enttäuschung die immer gleich auf sind, mochte ich sehr. Und dieses sehr, sehr lange Sterben dieser eigenartigen Beziehung ist ein sehr reizvolles Thema, was man auch gut über Länge ziehen kann, wenn man dem Prot. und dem Leser so ab und an ein Fünkchen Hoffnung hinwirft, damit sie dran bleiben, die fehlen mir zum Ende hin.

Zweites Ding, was ich nicht verstanden hab, ist die Motivation deines Erzählers, ab jetzt und gleich zu Schreiben und zu Zeichnen und deswegen auch den Job aufzugeben. Das kommt so aus dem Nichts. Das würde ich besser vorbereiten, langsamer auch angehen. Ich habe ihm das nicht abgekauft und mich gefragt, wozu. Witzigerweise ist der Typ bei Betty Blue auch ein No Name Schriftsteller.

Drittes Ding, ich habe null Plan, was Twiggy für sich aus der Beziehung zieht. Warum nimmt sie sich seiner an? Was gibt er ihr, was ihr bisher im Leben gefehlt hat? Ich habe den Text nur einmal gelesen, gebe ich zu, vielleicht findet sich dazu etwas, aber die Frage kam mir halt und deshalb schreibe ich sie mit hin.

Und über eine längere Strecke würde ich natürlich auch gern mehr über den Zwillingsbruder erfahren, die Geschichte der beiden. Das ist ein feines Element, das hier aber eigentlich nur wie Glitzerstaub reingeworfen wird, der allerdings zwischen den Zeilen durchrieselt.

Allein an dieser Punkten könte man sich schon Seitenweise abarbeiten. Vielleicht haste schon, vielleicht hast du ganz andere Pläne. Ich fände es übrigens mega enttäuschend, wenn es auf eine Drogengeschichte rauslaufen würde. Aber das ist sicher auch Geschmackssache. An Drogen zu scheitern ist allerdings weniger spannend, das ist vorprogrammiert.

Ich habe beim Lesen auch so ein bisschen Textkram gemacht. Weiß nicht, ob der für Dich überhaupt noch von Interesse ist, deshalb spare ich mir erst Mal die Zeit und warte auf ein Zeichen von Dir. Allerdings wäre ich viel lieber ein Testleser, wenn das Ding im Kasten ist. Wann auch immer das sein wird.

So, war jetzt ein relativ kurzer Komm für diesen langen Text. Hoffe, er kann Dir trotzdem irgendwas mit auf den langen Weg geben. Auf jeden Fall aber, bin ich ein Fan dieser nicht so ganz einfachen Beziehungskiste zwischen den beiden. Und wenn aus dem vielen tell noch Szenen erwachsen, wäre ich ein noch größerer. Wäre übrigens super, wenn das Ende nicht nur im Scheitern besteht, sondern der Prot. sich auch noch in irgendeine Richtung entwickelt. Vielleicht will Twiggy den Bruder ja kennenlernen. Oder er bewirbt sich nach der letzten Trennung in Leipzig, wozu ihm vorerst der Mut und das Selbstvertrauen gefehlt hat, was Twiggy aber ihn sein Können aber hat (wobei ich schon wieder bei Djion wäre). Keine Ahnung, das waren jetzt nur zwei schnelle Ideen, der Möglichkeiten gäbe es viele. Auf jeden Fall sollte der Prot. im Verlauf der Zeit wachsen. Aber, dass weißt Du wahrscheinlich schon.

Viel Arbeit haste Dir da vorgenommen. Ich wünsche Dir vor allem Durchhaltevermögen und das Dir die Motivation nicht ausgeht. Bin sehr gespannt, wie sich das ausgeht.

Beste Grüße, Fliege

 

Hey @Fliege ,

da hab ich mir ja gewaltig Zeit gelassen (für eventuelle Mitleser; die Warnung darüber, dass die Antwort spät kommt, ging raus!). Hatte ja eigentlich versprochen, bis dahin das Update zu haben. Die Geschichte ist mittlerweile (offline) auch schon doppelt so lang, aber ich brauchte davon jetzt mal eine Pause, was kein gutes Zeichen ist, ich weiß.

Wie auch immer. Vielen, vielen Dank für deinen Kommentar. Der hat der Überarbeitungs-Agenda noch ein paar extra Punkte zugefügt.

Betty Blue kannte ich bislang nicht, klingt aber reizvoll. Ein erster Blick bestätigt dein Urteil. Dieses Mädel ist definitiv einen Zacken verrückter.
Ich habe etwas Angst, dass mir die Sache hier aus dem Ruder gelaufen ist, dass ich Twiggy ab irgendeinem Punkt etwas nachlässig behandelt habe oder die Story einfach eine stringentere Planung gebraucht hätte. Ich habe sie schon sehr in the mood geschrieben, anders als bei anderen Geschichten. Kaum überarbeitet. Manchmal funktioniert das gut, hier denke ich, geht es schon auch, aber einiges kommt mir nun auch etwas gedehnt vor.

Schön, dass dir dieses Schweben in Unsicherheit gefallen hat und dass du daran festhälst. Das ist definitiv auch etwas, wovon die lange Überarbeitung lebt. Wobei es dort jetzt auch so etwas wie eine mittelschwere Katastrophe gibt, einen Grund für die Selbstverletzung Twiggys, für das Ritzen.

Wie Sesam seinen Job bei Mo hinschmeißt, ist wirklich viel zu hastig erzählt. Das steht auch noch auf der Agenda. Danke dafür!

Twiggys Motivation ist hier natürlich diffus. Die fehlt sogar fast. In der Story wird das dadurch kaschiert, dass sie Sesam duldet. Da wird beinahe ein religiös anmutendes Motiv nahegelegt: Ich werde dich nicht vertreiben, du wirst es selbst tun. Allerdings ist das ein so wichtiges Thema, dass die ganze Story sich dem widmen könnte und das tut sie, finde ich, nicht ganz.

Es ist mega lieb von dir, dass du dich als Testleserin anbietest. Wer weiß, vielleicht komme ich da nochmal auf dich zurück. Aber wie gesagt, ruht das gerade. Habe dir ja in der PN skizziert, was sonst noch aktuell so los ist ... :rolleyes: Ich nehme mir auch aktuell Zeit fürs Schreiben, aber gerade kann ich nicht nur bei der Twiggy-Sache bleiben. Insofern waren deine guten Wünsche berechtigt.

Der Kommentar zeigt treffesicher, wo hier die losen Enden sind. Ich denke, einiges packt die Überarbeitung. Aber es bleibt eine sehr fragile, wenn auch hübsche Geschichte.

Danke dir für deine Zeit und Geduld! :gelb:
Liebe Grüße
Carlo

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom