- Beitritt
- 06.06.2005
- Beiträge
- 984
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Ultraschall
Ich sitze nun schon seit einer verdammten Stunde in diesem stickigen Raum.
Mir gegenüber hockt ein dickes Kind über seinen Bauklötzen und brabbelt vor sich hin.
Die Mutter blättert gelangweilt im Spiegel der letzten Woche.
Die Zeitschrift, die sie gerne hätte, befindet sich in meinem Besitz.
Die Gala erzählt von Partys mit aufgespritzten Lippen und gestrafften Dekoltées.
Zu meiner Linken sitzt ein Teenagergirl, lässig einen Kaugummi schmatzend.
Sie fummelt an ihrem Handy herum und wippt mit den Füßen.
Ihre hautenge Jeans wirft keine Falten.
Der Stuhl zu meiner Rechten wird von einem Mann bepflanzt, dessen Leben sich größtenteils vor Kiosken abspielt.
Eine Wolke aus Pisse, Nikotin und Branntwein umgibt diese traurige Gestalt.
Ich weiß nicht, was mir übler aufstößt, die Bilder in der Gala oder der Geruch dieses Mannes.
Ich denke, es sind die Bilder.
Von draußen dringt ein Teppich verschiedenster Geräusche durchs halboffene Fenster.
Auf der Kommode neben der Tür steht eine Voliere, auf deren Boden ein regloser Wellensittich liegt.
Hansi hatte sein Leben wohl gelebt, wen interessiert das jetzt schon noch.
Dr. Flabeujng hat einen guten Ruf und dem bin ich gefolgt.
Ich hatte vor drei Monaten den Termin vereinbart, schneller war nichts zu kriegen.
Die Kopfschmerzen, die ich nahezu jeden Tag hatte, sind nun schon seit ein paar Wochen verschwunden, warum sollte ich den Termin aber verstreichen lassen, es war schwer genug ihn zu bekommen.
Das Kind hat sein Bauprojekt beendet.
Ein Würfel aus drei Farben. Ein Meisterwerk der Phantasie.
Es versucht am Bein seiner Mutter hochzuklettern, doch sie schubst es kontinuierlich zur Seite.
Es fängt an zu quengeln, und zerstört mutwillig sein Kunstwerk.
Der Mann in der Fäkalwolke wird unruhig und steht auf.
Er geht mit schlurfenden Schritten auf die Glastür zu und versucht sie zu öffnen.
Sie scheint zu klemmen.
„Geh auf, du Scheißding!“, murmelt der Stinker.
Er lehnt sich wie ein Surfer nach hinten, die Klinke nach unten drückend.
Der Zustand der Tür bleibt unverändert.
„Die haben uns eingesperrt!“
Die Mutter blickt mich an.
„Schau du mal nach“, sagen ihre Augen.
Ich stehe auf, kämpfe mich durch das Dickicht von Teppichfalten und errieche mir blind den Weg zur Tür.
Das milchige Glas lässt nur erahnen, was sich dahinter abspielt.
Ich sehe menschliche Umrisse, eilig umherirren.
Ich drehe mich zum Fenster.
„Guck mal aus dem Fenster Kleine!“, spreche ich das Teenagergirl an.
Sie steht murrend auf und schlendert zum Fenster.
Der Straßenlärm endet abrupt.
Kein Geräusch dringt von draußen mehr in den Raum.
Das dicke Kind fängt an zu weinen.
„Da draußen ist nichts, nur die Straße!“, sagt das Girl und lässt eine Blase platzen.
Sie schlendert zurück zu ihrem Platz und das Treiben der Welt setzt wieder ein.
„Was ist hier los?“, fragt die Mutter, sichtlich beunruhigt.
Ich lege meine Hände um die Augen und presse sie gegen die Scheibe, um bessere Sicht zu bekommen.
Außerhalb des Raumes regt sich nichts.
„Wir müssen das Glas einschlagen“, sagt der Penner und schnappt sich die Klötzchenkiste.
Er schleudert den Kasten mit aller Kraft gegen die Tür.
Bis auf ein winziges Loch bleibt sie unversehrt.
Ein zischendes Geräusch dringt durch den Riss.
Das Fenster schließt sich mit einem lauten Knall, der Straßenlärm kommt jetzt von hinter der Tür.
Der Schall presst sich mit aller Kraft zu einem winzigen Päckchen zusammen und zwängt sich durch das Fliegenschiss kleine Loch in der Scheibe.
Auf der anderen Seite angekommen, breitet er sich in Windeseile aus und füllt den stickigen Raum mit seinem Getöse.
„Wir müssen den Lärm deaktivieren!“, schreie ich zu dem Teenagergirl.
Sie nickt mir mit panischen Augen zu und versucht aufzustehen, doch der Schall presst sie zurück in der Sitz.
Ihr Mund öffnet sich und ich kann ihren Kaugummi sehen, wie er leblos in ihrem Mund liegt.
„Scheiße!“
Der Trinkhallenpenner fällt auf den Rücken und dreht sich wie ein Kreisel.
Der Teenager stößt einen durchdringenden Schrei aus, er durchschneidet den Lärm und äußert sich in Stille.
Der menschliche Kreisel dreht sich immer schneller.
Sein Sog reißt die Pflanzen von der Fensterbank und lässt den Käfig mitsamt Hansi schweben.
„Stoppt den Kreisel!“
Wieder entsteht ein Negativbild des Schalls und lässt meine Stimme den Lärm verschlucken.
„Die Phasen löschen sich aus! Lärm schluckt Lärm!“
Die Tür öffnet sich.
„So, der Nächste bitte.“
Das Fenster geht auf.
Der Lärm lässt nach.
Der Kreisel verlangsamt sein Tempo und kommt schließlich zum Stehen.
Auf dem Boden liegt nun Harald Juhnke, der größte aller Showstars.
„Oh Mann!“
Bin ich vielleicht doch nicht wegen meiner Kopfschmerzen hier?