Was ist neu

Ultraschall

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06.06.2005
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Ultraschall

Ich sitze nun schon seit einer verdammten Stunde in diesem stickigen Raum.
Mir gegenüber hockt ein dickes Kind über seinen Bauklötzen und brabbelt vor sich hin.
Die Mutter blättert gelangweilt im Spiegel der letzten Woche.
Die Zeitschrift, die sie gerne hätte, befindet sich in meinem Besitz.
Die Gala erzählt von Partys mit aufgespritzten Lippen und gestrafften Dekoltées.
Zu meiner Linken sitzt ein Teenagergirl, lässig einen Kaugummi schmatzend.
Sie fummelt an ihrem Handy herum und wippt mit den Füßen.
Ihre hautenge Jeans wirft keine Falten.
Der Stuhl zu meiner Rechten wird von einem Mann bepflanzt, dessen Leben sich größtenteils vor Kiosken abspielt.
Eine Wolke aus Pisse, Nikotin und Branntwein umgibt diese traurige Gestalt.
Ich weiß nicht, was mir übler aufstößt, die Bilder in der Gala oder der Geruch dieses Mannes.
Ich denke, es sind die Bilder.
Von draußen dringt ein Teppich verschiedenster Geräusche durchs halboffene Fenster.
Auf der Kommode neben der Tür steht eine Voliere, auf deren Boden ein regloser Wellensittich liegt.
Hansi hatte sein Leben wohl gelebt, wen interessiert das jetzt schon noch.

Dr. Flabeujng hat einen guten Ruf und dem bin ich gefolgt.
Ich hatte vor drei Monaten den Termin vereinbart, schneller war nichts zu kriegen.
Die Kopfschmerzen, die ich nahezu jeden Tag hatte, sind nun schon seit ein paar Wochen verschwunden, warum sollte ich den Termin aber verstreichen lassen, es war schwer genug ihn zu bekommen.
Das Kind hat sein Bauprojekt beendet.
Ein Würfel aus drei Farben. Ein Meisterwerk der Phantasie.
Es versucht am Bein seiner Mutter hochzuklettern, doch sie schubst es kontinuierlich zur Seite.
Es fängt an zu quengeln, und zerstört mutwillig sein Kunstwerk.
Der Mann in der Fäkalwolke wird unruhig und steht auf.
Er geht mit schlurfenden Schritten auf die Glastür zu und versucht sie zu öffnen.
Sie scheint zu klemmen.
„Geh auf, du Scheißding!“, murmelt der Stinker.
Er lehnt sich wie ein Surfer nach hinten, die Klinke nach unten drückend.
Der Zustand der Tür bleibt unverändert.
„Die haben uns eingesperrt!“
Die Mutter blickt mich an.
„Schau du mal nach“, sagen ihre Augen.
Ich stehe auf, kämpfe mich durch das Dickicht von Teppichfalten und errieche mir blind den Weg zur Tür.
Das milchige Glas lässt nur erahnen, was sich dahinter abspielt.
Ich sehe menschliche Umrisse, eilig umherirren.
Ich drehe mich zum Fenster.
„Guck mal aus dem Fenster Kleine!“, spreche ich das Teenagergirl an.
Sie steht murrend auf und schlendert zum Fenster.
Der Straßenlärm endet abrupt.
Kein Geräusch dringt von draußen mehr in den Raum.
Das dicke Kind fängt an zu weinen.
„Da draußen ist nichts, nur die Straße!“, sagt das Girl und lässt eine Blase platzen.
Sie schlendert zurück zu ihrem Platz und das Treiben der Welt setzt wieder ein.
„Was ist hier los?“, fragt die Mutter, sichtlich beunruhigt.
Ich lege meine Hände um die Augen und presse sie gegen die Scheibe, um bessere Sicht zu bekommen.
Außerhalb des Raumes regt sich nichts.
„Wir müssen das Glas einschlagen“, sagt der Penner und schnappt sich die Klötzchenkiste.
Er schleudert den Kasten mit aller Kraft gegen die Tür.
Bis auf ein winziges Loch bleibt sie unversehrt.
Ein zischendes Geräusch dringt durch den Riss.
Das Fenster schließt sich mit einem lauten Knall, der Straßenlärm kommt jetzt von hinter der Tür.
Der Schall presst sich mit aller Kraft zu einem winzigen Päckchen zusammen und zwängt sich durch das Fliegenschiss kleine Loch in der Scheibe.
Auf der anderen Seite angekommen, breitet er sich in Windeseile aus und füllt den stickigen Raum mit seinem Getöse.
„Wir müssen den Lärm deaktivieren!“, schreie ich zu dem Teenagergirl.
Sie nickt mir mit panischen Augen zu und versucht aufzustehen, doch der Schall presst sie zurück in der Sitz.
Ihr Mund öffnet sich und ich kann ihren Kaugummi sehen, wie er leblos in ihrem Mund liegt.
„Scheiße!“
Der Trinkhallenpenner fällt auf den Rücken und dreht sich wie ein Kreisel.
Der Teenager stößt einen durchdringenden Schrei aus, er durchschneidet den Lärm und äußert sich in Stille.
Der menschliche Kreisel dreht sich immer schneller.
Sein Sog reißt die Pflanzen von der Fensterbank und lässt den Käfig mitsamt Hansi schweben.
„Stoppt den Kreisel!“
Wieder entsteht ein Negativbild des Schalls und lässt meine Stimme den Lärm verschlucken.
„Die Phasen löschen sich aus! Lärm schluckt Lärm!“
Die Tür öffnet sich.
„So, der Nächste bitte.“
Das Fenster geht auf.
Der Lärm lässt nach.
Der Kreisel verlangsamt sein Tempo und kommt schließlich zum Stehen.
Auf dem Boden liegt nun Harald Juhnke, der größte aller Showstars.
„Oh Mann!“
Bin ich vielleicht doch nicht wegen meiner Kopfschmerzen hier?

 

Das Fenster schließt sich mit einem lauten Knall, der Straßenlärm kommt jetzt von hinter der Tür.
Er presst sich mit aller Kraft zu einem winzigen Päckchen zusammen und zwängt sich durch das mikroskopisch kleine Loch.
Ich weiß, dass das grammatikalisch eigentlich korrekt ist, aber trotzdem hatte ich aufgrund der personalisierung durch das "Er" den Eindruck, dass der Penner sich zum Ball komprimiert und nach draußen kriecht.

Ansonsten gab es noch einige kleine Zeichensetzungsfehler, die ich gerade nicht wiederfinde, da solltest Du nochmal gucken.

Insgesamt hat mir die Geschichte gut gefallen, auch die Auflösung ist, wenn auch nicht neu, so doch in ihrer Dezenz erfrischend (mal was anderes als "Ich erwachte in einer mit Gummi gut ausgepolsterten Zelle.")

Danke fürs Schreiben,

Naut

 

Hallo Naut, Hallo Herr Iskariot,

Naut: ich bin selber kein Freund von "Es war nur ein Traum" oder der "Gummizellenvariante".
Die Frage die der Patient sich stellt, würde sich sicherlich jeder nach solchen Erlebnissen stellen.
Die Antwort lassen wir mal offen.
Satzzeichenverbesserungen werd ich bei Gelegenheit machen.

Lukas: Da lass ich dich noch ein bischen brüten.

Viel Spaß und Danke
Krilliam Bolderson

 
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Hallo Krilliam,

die Eskalation im Wartezimmer?
Ich weiß nicht, ob du den Zeilenumbruch nach jedem Satz gemacht hast, damit der Text einen eintönigeren Leserhythmus erhält. Das war jedenfalls bei mir der Effekt und ich fand ihn der Situation recht angemessen.
Ich habe die Geschichte als eine Parabel auf die menschliche Geduld gelesen, die in Wartezimmern oft auf eine große Probe gestellt wird.
Menschen fühlen sich in ihrer Situation gefangen, schaffen die Schritte heraus nicht oder erleben, dass sich jeder ihrer Schritte aus dem Chaos gegen sie wendet. Hilfe erwarten sie nur von außen. Und dabei steigt die Ungeduld des Wartens. Sie wird als Machtlosigkeit erlebt.

Die Zeichensetzung der wörtlichen Rede allerdings kannst du ruhig korrekt setzen. Sie unterstreicht die Eintönigkeit mE nicht.
Beispiele:

„Geh auf du Scheißding.“ Murmelt der Stinker.
Scheißding", murmelt der Stinker
„Guck mal aus dem Fenster Kleine.“ Spreche
Kleine!", spreche (einer aufforderung sollte ein Ausrufezeichen folgen)
Strasse.“ Sagt
Straße", sagt (Prinzip klar?)
„Was ist hier los.“ Fragt die Mutter
los?", fragt (Okay, das war der Letzte, den ich davon markiere)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

da hab ich doch heut am frühen Morgen schon was von dir gelernt.
Diese Regel war mir nicht bekannt. Hab ich verbessert.
War auf jedenfall keine dichterische Freiheit, sondern Unwissenheit.
Deine Sicht der Geschichte find ich gut!
Wer hat eine so zermaternde STunde im Wartezimmer noch nicht verbracht.

Danke und Gruß
Krilliam Bolderson

 

Da kann ich Dir nochwas beibringen ;) :

„Schau du mal nach.“, sagen ihre Augen. <- Da kommt kein Punkt hin. Frage- und Ausrufezeichen werden geschrieben, aber den Punkt lässt man weg:

„Schau du mal nach“, sagen ihre Augen.

 

Danke Naut,

ich lern hier mehr als auf der Schule.
"War ich überhaupt auf einer?", fragte der Krilliam.
"Ich glaube schon", antwortete der Bolderson.

Grüße
KB

 

Hey Golio,

gerade erst zurück aus GB, drum erst jetzt ne Antwort.
Die Fehler werde ich auf jeden Fall verbessern, danke für die Korrektur.
Witzig weil nicht als Witz gemeint ist gut, denn der Witz liegt im Witz verborgen und war auch so gemeint.

Jesses, erst jetzt bin ich auf die Bedeutung gekommen.
Phasenauslöschung funktioniert normal nur, wenn man zwei absolut identische Tonspuren übereinander legt, dann verschwinden Töne, bzw ändern ihren Klang, ähnlich den biologischen Farben, wenn man die übereinanderlegt entsteht Weiß.
Trotzdem lässt sich die Story glaube ich nicht nach real existierenden physikalischen Gesetzen entschlüsseln, .-)

Danke fürs Lesen
krilliam Bolderson

 

Hi Krilliam,

der Ultraschall ist genau genommen nicht hörbar, -Ultra- kann man natürlich auch anders verstehen. Wenn man -Ultraschall- mal unter dem Aspekt der Diagnose ansieht, gibt das Schallerlebnis eine Diagnose der anwesenden Personen, indem er spezifisches Verhalten provoziert.
Schöner seltsamer text, an der Grenze von persönlichem Wahn oder in einer wahnsinnigen Umgebung.

-Zu meiner Linken sitzt ein Teenagergirl, lässig ein Kaugummi schmatzend.-

einen Kaugummi


-Der Schall presst sich mit aller Kraft zu einem winzigen Päckchen zusammen und zwängt sich durch das mikroskopisch kleine Loch in der Scheibe.-

Das is nicht so ganz richtig, das Loch ist (das wird erwähnt) sichtbar, was mikroskopisch Kleines aber nicht.

- Pol

 

Hi krilliam,
ich glaube, das ist die absurdeste Geschichte, die ich hier je gelesen hab :drool:

War aber schon cool, so. Näch. Hatte was.

Den letzten satz finde ich echt stark! Dafür gibts seit langer Zeit mal wieder den hier: :thumbsup:

Den Schreibstil finde ich hier auch echt voll gut!!

Hau rein

Tserk

P.S: Fehlerliste kommt per PN.

 

hallo zusammen,

@polaris: eine sehr schöne interpretation des titels im bezug zu den geschehnissen hast du da geäußert. hatte zwar ähnliche gedanken, hätte sie aber wohl nicht so analytisch formulöieren können.

mit dem "mikroskopisch kleinen" loch hast du natürlich recht, hab ich abgeändert.

danke dir fürs hervorzaubern und schön seltsam finden

@tserk: so war ich hier zwischendurch mal unterwegs, muss diesen weg glaub ich mal wieder einschlagen.
ultraschall ist eine der drei gschichtn, die ich zu dieser absurd und skurlil ausschreibung gschickt hob [erfolglos versteht sich :D ]

danke für die auszeichnung des schlusssatzes und die fehlerliste alder!

grüße an euch
krilliam Bolderson

 

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