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Umsonst gelebt
Seine Lippen waren trocken. Ein fahler Geschmack im Mund. Trägheit in den Knochen. Schrilles Pfeifen in den Ohren. Und die Schwärze die ihn umgab…
Schließlich weckte ihn ein Tropfen aus dem traumlosen Schlaf, der ihn gefangen hielt. Langsam öffnete er seine müden Lider und sah dem Wolken verhangenen Himmel entgegen. Grau und schwarz war er. Die Sonne, weit hinter der dicken Decke verborgen. Regen fiel auf sein Gesicht. Blitze erhellten den düsteren Tag. Wie das Meer trieb die schwarz-graue Masse dahin, vereinte sich zu neuen Formen, nur um sich in seinem verwirrten Geist zu verlieren. Es war wunderschön. Und da fühlte er wie kostbar jeder Moment war, jeder in seiner Einzigartigkeit.
Er versuchte sich zu erinnern wer er war. Es fiel ihm schwer den wilden Bildern in seinem Geiste zu folgen. Verwirrt waren seine Gedanken. Erinnerungen brandeten nach und nach in sein Gedächtnis.
Ein Name.
„Jan.“
Sein eigener?
Es war nur ein Name mit dem er nichts anfangen konnte. Ihn verband nichts mit ihm. Nichts verband ihn mir irgendetwas. Er war verzweifelt. Er wollte sich erinnern. Die Fragen, die sich er stellte, beantworten.
Wie war er hier her gekommen?
Wer war nur dafür verantwortlich?
War es ein Unfall?
Herrschte etwa Krieg?
War er ein Soldat?
Er wusste es nicht. Er wusste es einfach nicht. Doch er musste Geduld haben. Eines nach dem anderen.
Zuerst aufstehen. Aber zu seinem schrecken stellte er fest, dass er das nicht konnte. Er fühlte nichts. Und dann bemerkte er, dass er das Aufschlagen des Regens nicht hörte. Regungslos war er, gefangen in seinem wertlosen Körper, beraubt seiner Sinne. Schreien wollte er, doch er hatte keine Kraft dazu. Vielleicht war es nur ein Seufzer, den er ausstieß. Vielleicht gab er auch gar keine Ton von sich. So blieb ihm, vom jetzt, nur der Himmel und sein Bewusstsein. Und dann die Erinnerungen. Und eine Stimme, die ihn führte.
„Jan, komm’ ich dir zeige etwas. Sieh’ her.“, sagte sie. Der Himmel verschwand vor seinen Augen und es wurde dunkel.
Musik erklang im Hintergrund. Ein Klavier. Das Knistern von Feuer. Wärme lag in der Luft. Der Geruch von Kaffee und Kuchen. Ein wohliges Gefühl in der Brust. Er fühlte sich gut und der Raum erhellte sich. Er saß vor einem edlen, schwarzen Flügel und zu seiner Überraschung, war er es der spielte. Er wusste nicht was es war, aber es Klang gut. Er spielte gut. Sehr gut
sogar. Er hatte Talent - zweifellos. Dann blickte er nach rechts und sah einem Dutzend Menschen entgegen, die ihm wohlwollend zusahen. Sie waren ihm bekannt. Sicher Freunde oder Verwandte. Es war ein schönes Leben, für das es sich zu kämpfen lohnte. Er musste Leben. Durfte nicht loslassen.
Plötzlich kehrte die Stimme zurück und sie schrie ihm in sein rechtes Ohr, dass er sich sofort zuhalten musste.
„Ein Traum, Jan! Nichts hiervon ist wahr! Wertlos!“, verhöhnte sie ihn.
Wieder verdunkelte es sich.
„Ich zeig dir die Wahrheit. Ich zeige dir das was wirklich ist. Sieh', sieh'…“
Blut perlte von seinen verkrüppelten Fingern. Der Schmerz ließ ihn auf seine Knie sinken. Hektisch legte er seine Hände in einen Krug voller Wasser, das sich rot färbte. Es brannte und so zog er seine Hände heraus. Ihm fehlten drei Finger seiner rechten Hand. Jan erinnerte sich an eine schwere Tür, als er noch ein Kind war und seine Hand die dazwischen lag. Das Knallen, als sie zufiel. Den Schock, als er auf seine Hand sah. Er hatte Talent und dann war
es fort. Er erinnerte sich an seine Mutter. An das Geld das ihnen fehlte. An die Hoffung, die sie hatte, von der an diesem Tag nichts mehr blieb. Die Ärzte hatten versucht sie ihm wieder anzunähen, aber sie verfaulten vor seinen Augen. Seinen Vater kannte er nicht.
Schlag auf schlag kamen sie - Erinnerung und sie brachten auch Gefühle mit sich.
Enttäuschung, Zweifel, Zorn und Hoffnungslosigkeit. Er wollte diesen Ansturm abhalten, doch es gelang ihm nicht. Er sah sein wahres Leben. Er sah die Armut. Er sah die Ausweglosigkeit, nicht mehr aus sich machen zu können. Er sah wie er sich von Gott betrogen fühlte, weil er ihm das größte Geschenk, das was den Rest seines verdammten Lebens ausglich, einfach wieder wegnahm. Er hatte nichts. Er fühlte den Hass auf sich und auf all die anderen. Er sah einen Plattenbau. Spürte die Schläge auf seinem Magen. Die Finger, die auf ihn zeigten.
„Krüppel!“, schrieen sie.
Traten auf ihn ein. Er flehte. Aber es kam niemand, er war zu schwach ohne seine Musik - wertlos. Es gab nichts mehr, was ihn aus diesem Dreckloch hätte befreien können. Es gab keine Hoffung. Es gab nur Scheiße für ihn. Und er hasste sich für sein verdammtes Selbstmitleid, aber er konnte einfach nicht mehr. Zu verbittert war er geworden.
Und doch gab es in ihm etwas, das dieses Leben nicht aufgeben wollte. Was
war es nur?
„Warum quälst du mich so? Lass mich gehen. Lass mich…“, wimmerte Jan. Er
weinte, in seine Gedanken - wollte endlich loslassen.
„Gut, geh’.", sagte die Stimme zufrieden, „Lass los. Du musst es tun, denn ich kann es nicht.“
Und gerade als er dem ein Ende machen wollte, erinnerte er sich. Kinderlachen erklang im Hintergrund. Ja er erinnerte sich an eine andere Seite seines Lebens. Er erinnerte sich an eine Frau, die er sehr liebte.
„Anna“, sagte er.
Und als er den Namen aussprach, erinnerte er sich, dass auch sie ihn liebte und dabei musste er lachen. Sie hatte ihn gerettet. Vor dem sog. Vor dem Leid. Sie hatte ihn genommen wie er war. Er hatte nichts außer sich selbst und doch reichte es ihr.
Eine Tochter hatte er auch. Marie. Sie war gerade mal drei Jahre alt, vielleicht auch älter. Er war sich nicht sicher wie alt seine Erinnerungen waren, wie viel Zeit er bereits vergessen hatte.
Es war bescheidenes Leben, das sie führten, aber trotz allem war er glücklich. Er hatte alles was er brauchte. Und das machte ihn jetzt traurig. So viele Dinge gab es noch zu erleben. So viele Orte zu sehen. So viele Erfahrungen zu machen. Und vor allem musste er sie alleine lassen. Das ließ ihn verzweifeln. Er musste am Leben bleiben, doch er konnte nicht. Er
würde bald sterben müssen. Es blieb ihm nicht viel Zeit. Aber er durfte doch nicht loslassen, er musste Leben, würde sich mit aller Kraft an dem Rest der ihm davon blieb festhalten. Würde es nicht zulassen aufzugeben.
Die Stimme kehrte wieder, doch diesmal klang sie sanft und beruhigend:
„Das wollte ich dir ersparen, Junge. Dieser Schmerz wird noch schlimmer
sein, als der vorige. Du hättest loslassen sollen.“
„Ja, das hätte ich.“, und als Jan das sagte wirkte er ungewöhnlich gefasst,
aber er war alles andere als das. Er resignierte.
Er sah sein Kind, das mit derselben Armut aufwachsen würde. Sah den Schmerz, den sie zu ertragen hatte. Doch eines war anders. Sie war stärker als er.
Beide waren es. Er liebte sie sehr, hatte es ihnen jeden Tag gesagt. Sie wussten es. Er kämpfte jeden Tag um einwenig Wohlstand für beide. Er war ein guter Vater. Er konnte es nicht begründen und ein Träumer war er schon lange nicht mehr, aber irgendwie wusste er, dass sie es schaffen würden. Seine Freunde würden den Beiden helfen. Er hatte Freunde, die sich auf ihn verlassen konnten und er auf sie. Er hatte ein gutes Leben geführt. Nichts hatte er ungetan zurückgelassen.
Nichts Wichtiges.
„Jetzt wirst du sterben. Voller Kummer. Mehr als du ertragen kannst.“
„Nein, das werde ich nicht.“
„Wie kannst du so etwas sagen? So viele Pläne hattest du. Und jetzt, wird keiner deiner Träume in Erfüllung gehen. Du wirst niemals der Pianist sein, der du sein wolltest, wirst deine Tochter nicht aufwachsen sehen. Hinterlässt Armut und Schmerz. Und du willst mir sagen, das du keine Angst hast, keinen Schmerz empfindest, wenn du nun stirbst.“
„Alles Wichtige wurde gesagt. Alles Wichtige getan.“
Eine weile schwieg die Stimme, dann lachte sie. Es war kein bitteres Lachen, es war voller Herzlichkeit und Wärme.
„Vielleicht hast du Recht. Vielleicht lag ich falsch.“
Wieder hörte er Kinderlachen, schloss die Augen und ließ los.