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(Un-)gleiche Gegner
Ich heisse Manuel Kamm, ich bin 26 Jahre alt, und man will mich umbringen. Dies ist ein Hilferuf, mein letzter, fürchte ich. Ich bin am Ende meiner Kräfte, ich kann einfach nicht mehr. Ich habe mich gegen das Gift gewehrt, das sie mich schlucken liessen. Ich habe die Elektroschocks ausgehalten, die sie mir verabreicht haben. Bis jetzt habe ich durchgehalten. Doch wie lange werde ich das noch können?
Keine zehn Sekunden, nachdem Mark Zimmermann die Klingel betätigt hatte, riss Lea Lombardi die Haustüre auf, warf sich ihm um den Hals, löste sich wieder und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. “Amore mio, ich habe dich so vermisst!”, brachte sie zwischen zwei heftigen Atemstössen hervor, bevor sie ihn fest an sich drückte.
“Ich dich auch, meine Liebe. Bist du erst kürzlich nach Hause gekommen?”
“Si. Scusi, ich konnte dich nicht abholen. Wie geht es dir? Komm doch rein! Aber erst, nachdem ich...” Es folgten noch ein halbes Dutzend Küsse, bevor sich Lea löste und Mark ins Haus begleitete.
“Du warst heute im Spital, nicht?” fragte Mark. “Ich war komplett weg, habe nichts mehr mitgekriegt.”
“Ja, ich war da. Du hast so friedlich dagelegen, hattest sogar ein Lächeln auf dem Mund. Wir haben es bald geschafft, denkst du nicht auch?”
“Ich weiss es nicht”, musste Mark zugeben. “Während ich weg war, hast du da noch etwas von ... von ihm gehört?”
“Von ... Manuel? Nein. Kein Wort, keinen Ton.”
“Denkst du, er ist tot?”
“Ich weiss es nicht, Mark. Ich weiss es nicht.”
Mark. Wie ich den Namen hasse. Mein Verfolger. Mein Peiniger. Kalt und rücksichtslos, wie er ist, macht er keinen Hehl aus seiner Absicht, einen Menschen umbringen zu wollen. Eine Absicht, die auch in mir zu keimen beginnt: Der Wunsch, Mark umzubringen, ist da. Doch so sehr ich ihn auch hasse, brauche ich ihn dennoch. Brauche ihn mehr als er mich.
Dass ich ihn nicht umbringen kann, heisst jedoch noch lange nicht, dass ich wehrlos wäre.
Der erste Sex seit einem Monat (die Spielereien im Spital während Leas Besuchen nicht mitgezählt) hatte Mark überglücklich einschlafen lassen, umso böser war das Erwachen. Ob Manuel wohl tot wäre, hatte er Lea gestern noch gefragt. Das war er definitiv nicht, das wurde Mark schlagartig klar, als er das verwüstete Wohnzimmer betrat: umgestürzte Möbel, zertrümmertes Keramikgeschirr und mit Parolen verschmierte Wände. “Lass mich leben”, “töte mich und du fährst zur Hölle”, “Mörder”, und so weiter, Mark zählte ein halbes Dutzend Schmierereien. “Freak” war über den Spiegelschrank gesprayt, der Marks Medikamente enthielt. Den Schlüsses zum Schrank hatte Mark vor längerer Zeit Lea gegeben und sie angewiesen, ihn zu verstecken. Er hatte ihr damit die Verantwortung über seine tägliche Ration übertragen. Das war nötig geworden, nachdem Manuel vor einiger Zeit einmal Marks dringend benötigte Medikamente das Klo runtergespült hatte.
Mark hörte Lea die Treppe runter kommen, war jedoch zu spät, sie noch vorzuwarnen. “Oh mein Gott, nicht schon wieder!” stiess sie hervor. Ihre Knie zitterten, sie setzte sich auf die Treppenstufe, verbarg ihr Gesicht in ihren Händen und liess ihren Tränen freien Lauf. “Ich hatte so gehofft”, schluchzte sie, “so gehofft, wir hätten es geschafft. Oh Mark, ich kann nicht mehr!”
“Lea, gib mir den Schlüssel.”
Lea wurde von ihren Schluchzern durchgeschüttelt.
“Lea, den Schlüssel. Bitte.”
Sie schaute nicht auf, zeigte nur auf einen Blumentopf in ihrer Nähe. Mark fand den Schlüssel in der Erde vergraben, ging zum Spiegelschrank, öffnete ihn und nahm eine silberne Tablettenschatulle in die Hände.
Er setzte sich neben Lea auf die Treppe und legte einen Arm um sie.
Lea schaute auf. “Willst du es wirklich nehmen? Du kennst das Risiko, Mark. Es ist nicht fertig getestet.” Es war ein schwacher Protest.
Mark Zimmermann nahm eine der Tabletten zwischen seine Finger, verschloss die Schatulle und legte sie neben sich auf die Treppenstufe. Dann stubste er Lea sanft an. “Lea, ich muss. Schau mich an, bitte.” Ihre Blicke trafen sich. “Ich muss, verstehst du? Es wird funktionieren. Alles wird gut.”
Er nahm die Tablette in den Mund, verbiss sie und schluckte sie hinunter. Dann umarmte er Lea und drückte sie fest an sich.
Ich weiss nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Eine halbe Stunde vielleicht, zwei Stunden allerhöchstens. Nun, da es definitiv ist, ist der ganze Druck von mir gewichen. Mark hat das Medikament tatsächlich geschluckt. Wie Lea sagte, es ist nicht fertig getestet. Aber es wird wirken, dessen bin ich mir sicher. Es ist das neuste und höchstentwickelte Produkt aus der MPS-Forschung, dem Syndrom der multiplen Persönlichkeit. Ich, Manuel Kamm, Marks ständiger Begleiter seit seinem Unfall vor acht Jahren, ich werde sterben.