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Unbarmherzig
Er heißt Lars und ich weiß nicht, weshalb ich ihn liebe.
Ich kann es nicht sagen. Nichts anführen, das er mir gibt, nicht aufzählen, welche Eigenschaften oder Handlungen ihn besonders liebenswert machen.
Ich weiß weder, ob er mich liebt, noch, wer er überhaupt ist und manchmal hoffe ich, ihn eines Tages nicht mehr so unbarmherzig lieben zu müssen.
Als ich ihn kennenlernte, es ist Jahre her, an jenem Abend, ich erinnere mich: eine seltsame Ansammlung von Menschen, eine kleine Party, ein Fest, möglicherweise auch nur ein zu groß geratenes Abendessen, hier eine Spielerunde, dort ein Zusammensitzen bei Wein. Er hätte mich nicht ansprechen müssen, es hätte mir gereicht, ihn nur beobachten zu dürfen. Wir sprachen miteinander, und er hat mich bezaubert, begeistert, berauscht. Alles andere, das an diesem Abend war, an diesem Tag, habe ich vergessen. Ich verfiel ihm. Vollkommen.
Er saß ruhig auf seinem Platz, seine wachen, weit geöffneten Augen immer genau auf seinen Gesprächspartner gerichtet. Er maß nicht meinen Körper, das fiel mir auf, er sah mir ins Gesicht. Und ich glaubte, er würde mich erkennen. Erkennen, wie ich immer hatte erkannt werden wollen. Ich wollte mich vor ihm ganz entblößen, ich wollte, daß er mich sah, vollkommen nackt.
Ihn da sitzen zu sehen, seine ungewöhnlichen Fragen zu hören, war eine Verheißung. Wie ein sprudelnder Quell dem Verdurstenden in der Wüste, so diese Fleischwerdung meinem Hunger. Es gab ihn. Den, der mich erkennen, dem mich zu zeigen ich keine Angst haben würde.
Ich hatte nie Schwierigkeiten gehabt, einen Partner zu finden, es hatte ihrer viele gegeben. Manchmal war ich ihnen das Spielzeug gewesen, oft sie mir. Mal waren sie mir einfach zu langweilig gewesen, ein andermal zu niveaulos, zu unreif oder zu gescheitert. Manchmal hatte ich mit ihnen vor einem Trümmerhaufen gestanden, verwirrt und ratlos darüber, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können. Und manchmal gab es noch einen, der wirklich interessant war, ich traf ihn auf einer Party, in einer Diskothek, dann hatte er zu Hause oder im anderen Raum eine Freundin, eine Frau, einen Freund oder eine Mutter.
Nicht Lars. Er hatte niemanden, er hatte nie jemanden gehabt. Ich konnte es nicht fassen. Ich starrte ihn ungläubig an. Er interessierte sich für mich, wir sprachen den ganzen Abend.
Ich kam mit zu ihm, wir saßen in seinem Zimmer, vollgestellt mit improvisierten Möbeln, selbstgemalten, kraftvollen Bildern an den Wänden, gefüllt mit außergewöhnlichen Andenken von seinen Reisen. Wir hörten Jazz, tranken Kaffee, rauchten. Er ließ mich in seinem Bett schlafen, wir lagen nebeneinander wie Geschwister.
Wir sprachen über alles, er interessierte sich für alles: er hatte immer Gedanken, die weitere anstießen. Ungewohnte Sichtweisen. Er hatte Freude an allem, am Reden, am Rauchen, am Kaffeetrinken. Er hatte diese faszinierend heitere Art von spielerischer Ernsthaftigkeit, er verstand mich. Es war so einfach. Und so echt.
Manchmal denke ich, wir hätten es dabei belassen sollen. Dann lache ich mich selbst aus, setze mir den nächstbesten Gegenstand auf den Kopf und springe in der Wohnung herum, bis er herunterfällt. Manchmal dauert das lange, ich habe Übung darin, dann gerate ich dabei außer Atem.
Alles war gut, alles war einfach, alles war echt. Doch irgendwann war einfach keine Steigerung mehr möglich. Irgendwann kamen wir einfach nicht mehr näher aneinander durch Gespräche und Zigaretten und Kaffee. Eine Distanz blieb. Also zog ich ihm seine Kleidung aus, zog ihn zu mir herunter und nahm ihn auf. Ich wollte ihn näher bei mir haben, ganz nah, einmal zumindest.
Vielleicht wünschte ich, daß wir ganz eins würden, wenn auch nur für einen Moment, für die traumberauschte Illusion einer warmdunklen Ewigkeit.
Wir nannten es nie so, doch es wurde dann, was seine wie meine Freunde schon lange eine Beziehung genannt hatten. Wir lebten unsere Leben; wir waren unterwegs, manchmal gemeinsam, meist getrennt. Wir erzählten uns von den Orten, die wir gesehen, Menschen, die wir getroffen und Gedanken, die wir gehabt hatten. Wir schliefen miteinander, und das war schön, wirklich schön, doch eine Distanz blieb.
*
Ob er mich liebt? Er stellt uns nicht in Frage. Er ist da. Ich glaube, er will mit mir sein, aber ich weiß nicht, ob er mich liebt. Es gibt Momente, wo diese Distanz sichtbar wird, wo er sie fordert, ohne ersichtlichen Grund.
Ich erzähle vom Besuch bei meiner Schwester, er hört mir zu, ich kann mir seiner wachen Augen und seines Interesses sicher sein.
Ich frage, willst du mir noch von deinem Wochenende in Hamburg erzählen, er sagt, ich muß morgen sehr früh aufstehen.
Ich sage, ich werde mir heute abend ‘Memento’ im Freilichtkino ansehen, er sagt, ich lese gerade ein Buch.
Manchmal, wenn wir Freunde besuchen, lege ich kurz im Vorbeigehen meine Hand auf seine Schulter, es ist, als würde er es nicht bemerken.
Ich kann mich nicht erinnern, wann er mich einmal zärtlich angesehen, wann er sich einmal an mich gekuschelt, wann er mich einmal in den Arm genommen hätte, es sei denn zum Abschied, oder im Bett. Seine wachen Augen, sein Interesse, auch die Gewißheit darüber, daß er mich erkennt, habe ich nie verloren. Doch eine Distanz bleibt, wird immer bleiben.
Er heißt Lars und ich weiß nicht, weshalb ich ihn liebe.
Ich kann es nicht sagen. Nichts anführen, das er mir gibt, nicht aufzählen, welche Eigenschaften oder Handlungen ihn besonders liebenswert machen.
Ich weiß weder, ob er mich liebt, noch, wer er überhaupt ist und manchmal hoffe ich, ihn eines Tages nicht mehr so unbarmherzig lieben zu müssen.