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Unbemerkt
Unsichtbar stolperte Gregor die Treppe runter. Wie jeden Morgen war er pünktlich um 06.00 Uhr vom Wecker geweckt worden, hatte geduscht, sich rasiert, angezogen, Rührei mit Toast gefrühstückt, Zähne geputzt und dann seine Wohnung um genau 07.05 Uhr verlassen und wollte das Treppenhaus runter zur Straße gehen, um dort die Buslinie Fünf zur Stadtmitte zur nehmen, um zu arbeiten. Doch als er nach unten auf die Stufen vor sich blickte und seine eigenen Beine, Füße und Schuhe nicht sehen konnte, verlor er das Gleichgewicht, strauchelte und landete unverletzt und doch schmerzhaft auf dem staubigen Boden des Treppenhauses. Geräuschlos.
Er schaute an sich runter. Wo seine Beine, sein Oberkörper und seine Arme sein sollten, sah er nichts. Noch immer vom Sturz verwirrt, schloss er seine Augen, massierte sich die Schläfen und hielt die Hände vors Gesicht. Langsam öffnete er seine Lider und durch seine Handflächen, die auf seinen Augen lagen, konnte er seinen Nachbarn sehen, der jetzt routiniert die Treppe nahm und an ihm vorbeiging, als wäre Gregor unsichtbar. Er wollte etwas sagen, stammelte, doch nicht ein Laut kam aus seinem Mund.
Fassungslos rappelte sich Gregor wieder auf. Auf wackeligen Beinen tastete er sich raus auf die belebte Straße. Eilig wich er den unzähligen Passanten aus, die ihn nicht beachteten, bis er vor einem geparkten Auto stoppte und sich im Seitenspiegel suchte. Nur wenige Zentimeter von seinem Auge entfernt sah er bloß die Leute hinter sich, die sich vor ihm spiegelten. Da wurde er ganz panisch, wollte schreien und brüllen, aber er blieb stumm und unbemerkt.
Verstört und ernsthaft davon überzeugt, verrückt geworden zu sein, ging er zu den Leuten, machte wilde Gesten, rief laut und stellte sich ihnen in den Weg, doch niemand sah oder hörte ihn und trotzdem wichen sie ihm aus. Fast erschien es, als würden sie ihn unterbewusst wahrnehmen und ihm ausweichen.
Da fiel sein Blick auf die alte Straßenuhr mit dem langen Zeiger kurz vor der drei und ohne nachzudenken rannte Gregor los. Von der Routine getrieben, jeden Morgen um 07.32 Uhr bei der Bushaltestelle die Linie Fünf zu nehmen, vergaß er seine seltsame und missliche Lage. Als wäre ein dickes Seil fest an ihn gebunden, zog es ihn durch die Leute, denn er musste pünktlich bei der Arbeit sein. Unsichtbar oder nicht, er musste es. Durfte nicht fehlen, denn er hatte noch nie gefehlt, war nie unpünktlich gewesen, nur ganz früher, aber seit Jahren nicht mehr und sein Chef verließ sich auf ihn. Mit diesen Gedanken rannte Gregor zur Haltestelle. Er kannte den Weg, denn er war ihn seit Jahrzehnten jeden Wochentag gegangen. Früher hatte er sich an Kollegen und Vorgesetzten gerieben, war ein lauter Spaßvogel gewesen, doch inzwischen war er ein respektvoller und anständiger Mensch, der niemals zu spät kam.
Unendlich erleichtert erreichte er atemlos den Bus und stieg ein, froh, dass er rechtzeitig angekommen war. Was passiert wäre, hätte er es nicht geschafft, wollte er sich gar nicht vorstellen.
Als Gregor pünktlich ins Büro trat und sich an seinen Arbeitsplatz setzte, stellte er fest, dass niemand merkte, dass er fehlte. Jeder saß still neben dem anderen, tippte auf der Tastatur und klickte mit der Maus. Alle waren in ihre Arbeit vertieft und niemand wunderte sich, dass sein Platz leer, doch sein Computer angeschaltet war. Wenn jemand mal von seinem Rechner aufsah, war der Blick apathisch und abwesend. Und so arbeitete Gregor, wie er es jeden Tag tat. Irgendwann rief sein Chef ihn und seine Kollegen ins Besprechungszimmer. Er hatte einen Vortrag vorbereitet und stellte ihnen gelangweilt die neue Produktlinie vor, während sein Blick von der Uhr über die Leinwand hinter ihm auf den Computer vor ihm wanderte, ohne den leeren Platz zwischen den anderen zu bemerken. Niemand hörte zu und bemerkte etwas.
Als er am frühen Abend nach Hause kam, in Gedanken vertieft, nachdenklich und besorgt, begrüßte seine Freundin ihn, ohne ihn direkt anzusehen. Sie hatte Essen vorbereitet und es bereits vor den Fernseher gestellt. Froh, endlich mit jemandem sprechen zu können, ging er ihr nach und fragte sie, ob sie ihn sehen könne, erzählte von seinem schrecklichen Tag. Aber sie schaute nicht auf. Also fragte er sie nochmal, lauter und energischer, doch wieder schien sie ihn nicht hören oder sehen zu können. Er packte ihre Hand, wollte, dass sie ihn ansah, doch sie löste sich wie von selbst und schaltete den Fernseher an. Und so nahm sich Gregor seinen Teller, setzte sich still neben sie und gemeinsam schauten sie schweigend auf die leuchtenden Pixel des Bildschirms. Auch sie konnte ihn nicht hören oder sehen.
Am nächsten Morgen unter der Dusche kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht schon immer unsichtbar gewesen war, es aber erst gestern bemerkt hatte. Konnte das sein?Diesen erschreckenden Gedanken schob er aber schnell ab, denn er war sich sicher, als er seine Freundin vor fünf Jahren kennengelernt hatte, musste sie ihn schon gesehen und gehört haben. Auch hatten sie und seine Kollegen bei der Arbeit immer über seine Witze gelacht. Damals hatte man ihn gesehen, gehört und gemocht. Jetzt lachte niemand mehr. Wann hatte das angefangen?
Im Bus auf dem Weg zur Arbeit saß er jetzt nicht mehr still auf seinem Platz ganz vorne links, sondern belegte zwei Plätze, machte sich breit und studierte die Leute um sich herum. Die meisten waren genauso langweilige Pendler wie er, trugen Krawatten, tippten auf ihren Handys oder schauten stur aus dem Fenster. Keiner von ihnen schien besonders interessant und niemand blickte sich um oder lachte gar, als Gregor bei jeder Haltestelle die Stimme der Ansage erneut wiedergab, mit mal amerikanischem mal chinesischem Akzent.
Davon so deprimiert und sich seiner Situation erstmals vollends bewusst, schrie er um sich, jammerte laut und stampfte mit den Füßen, doch niemand guckte. Er wollte sie ohrfeigen und anbrüllen, doch sein Elend überwog seine Wut und so stieg er friedlich aus und gab auf und ging seinem schrecklichen Alltag nach.
Eines Abends, Wochen oder Monate später, kam Gregor nach Hause und fand seine Freundin nicht mehr. Erst hatte er gedacht, sie müsste ihn verlassen haben, doch dann sah er das Essen und die beiden Teller auf dem Tisch vor dem Fernseher. Nur sie fehlte. Sonst hatte sie ihn immer begrüßt und ab und zu etwas gesagt oder erzählt, wie ihr Tag gewesen war, doch jetzt war alles still und leer.
Sie hatte gerade erst einen neuen Job angefangen. Früher hatte sie ihren eigenen Modeladen betrieben, hatte Kleider und schicke Hüte entworfen und selbst angefertigt, hatte sogar einige Angestellte, doch als das monatliche Geld immer weniger wurde, ihre Mitarbeiter einer nach dem anderen entlassen werden mussten, hatte sie schließlich ihren Traum aufgegeben und arbeitete jetzt für einen großen Modekonzern und verkaufte Schuhe.
Am nächsten Tag fiel Gregor auf, dass der Tisch im Besprechungsraum immer weniger besetzt war und dafür immer mehr Stühle vor eingeschalteten Computern leer waren. Selbst im Bus und auf der Straße schien es ihm, als sei es etwas stiller als sonst. Was war nur passiert?
Als eines Tages auch sein Chef unsichtbar war, begann Gregor sich zu wundern, dass trotzdem noch alles in der Welt zu funktionieren schien. Ihr Konzern ging nicht pleite, die Buslinie fünf wurde immer noch gefahren, obwohl es nur noch ein paar erkennbare Gäste pro Tag gab und auch alles andere nahm seinen Lauf. Alles funktionierte, wie ein gut geöltes System aus Zahnrädern, wo jeder seinen Teil erfüllte und so das System am Leben gehalten wurde. Jeder sah auf sich selbst, passte auf, dass alles stimmte und gut war. Nach links und rechts musste niemand gucken, denn es passte ja alles und das System funktionierte. Und so lebten die Menschen gemeinsam einsam aneinander vorbei.
Vielleicht, dachte Gregor, war er garnicht unsichtbar. Vielleicht sah ihn einfach niemand mehr richtig an. Dann war nicht er das Problem, sondern nur die Leute. Er wusste es nicht und als er zu seinen Beinen sah, musste er den Gedanken wieder verwerfen. Also waren die Unsichtbaren doch das Problem. War es ihre Schuld, dass sie sich so unauffällig und dezent kleideten, dass man sie bald nicht mehr sehen konnte, dass sie so routiniert grüßten, dass man sie bald nicht mehr hören konnte, dass sie so durchschnittlich, anständig, ja so normal waren, dass man nur schaute, aber nicht sah?
Sollte er einfach weiter nach Aufmerksamkeit suchen und würde das überhaupt jemals etwas bringen oder sollte er sie lieber geben und andere vor seinem Los bewahren?
Jahre vergingen und inzwischen waren die Busse völlig leer, jedes Auto ohne Fahrer, jede Firma ohne Angestellte und das einzige was man auf den Straßen hören konnte, waren die Geräusche der Autos. Gregor hatte den Versuch, beachtet zu werden, insofern aufgegeben, als dass er jede Hoffnung hatte fallen lassen und stattdessen so lebte, wie er es wollte und es sogar irgendwie genoss.
Er war an einem Punkt angekommen, an dem er sich an alles gewöhnt hatte. Ja, er hatte sich sogar angepasst und die guten Seiten dieses Lebens wiedergefunden. So trug er keine grauen Krawatten und ordentliche Schuhe mehr, sondern ging auch mal in Jogginghose oder in einer knallroten Badehose zur Arbeit. Er machte sich laute Musik an, die sonst Menschen gestört hätte, und summte und sang fröhlich mit. Wenn ihm langweilig wurde, nahm er sich ein Buch und las während er arbeiten sollte. Auch hatte er seinen sonst so streng befolgten Zeitplan verworfen, stand nicht mehr jeden Morgen um 7.32 Uhr an der Haltestelle, sondern ließ sich Zeit und ging die Dinge langsamer und mit Ruhe an. Wenn niemand merkte, dass er spät kam, war er garnicht spät.
Er lebte zufrieden und doch unerfüllt. Lebte zwar nicht, als könnte ihn niemand mehr sehen, aber so, als wäre es ihm egal, dass sie es konnten.
Einen echten Menschen gesehen hatte er lange nicht mehr. Manchmal meinte er zu spüren, wie jemand schnell an ihm vorbei ging, vielleicht eilig zur Arbeit rennend, oder wie jemand dicht neben ihm stand. Sehen oder hören konnte er sie nie, aber er versuchte sie zu spüren, denn sie waren da. Auch verstand er jetzt, wie die Leute ihn zunächst zwar nicht bemerkt, aber ihm doch ausgewichen waren, denn es war, als würde man sie in seinen Augenwinkeln noch sehen können. Ohne darauf achten zu können und nur selten bemerkt, wich man etwas aus, das nicht da war. Man spürte einen Blick auf sich, sah sich um, und ging dann weiter.
Er setzte sich auf eine Parkbank und schaute auf den großen Fluss vor sich, hörte das Rauschen des Wassers und das Zwitschern der Vögel und plötzlich eine erregte Stimme. Sofort drehte er sich um, denn er wusste nicht, wann er zuletzt eine echte Stimme gehört hatte, nicht in Hörbüchern oder Podcasts, sondern echt. Eine junge Frau in einem grellen sonderlichen Kleid, das sie aber offenbar schön fand, telefonierte, während sie am Fluss entlang ging. Fasziniert beobachtete Gregor sie, lauschte ihrer Stimme und hörte zu. Eine Weile stand sie vor dem Fluss, sah in den Sonnenuntergang, dann setzte sie sich neben ihn auf die Bank, noch immer mit dem Handy am Ohr. Sie lachte, hörte und stimmte zu, erzählte und lachte wieder. Gregor genoss es, sie beobachten zu können, zu sehen, wie sie sich freute oder ärgerte und freundlich lachte. Eine Stimme in ihm sagte, er solle sie ansprechen, doch sein Verstand erinnerte ihn, dass sie ihn weder sehen noch hören könne. Sie würde niemals unsichtbar werden, da war er sich sicher, denn ihre ganze Art, das Lachen, die Mimik, die Gestik und auch ihr Aussehen waren besonders. Nicht unbedingt auffallend oder sonderlich anziehend, aber eben eigen. Nicht durchschnittlich, nicht alltäglich. So wie er mit mit seiner Lederhose und dem Hawaiihemd.
Als sie aufstand, um zu gehen, überlegte er kurz, ihr nachzugehen, doch entschied dann doch anders. Da fiel ihm ihre Jacke auf, die sie über ihr Kleid getragen hatte, was seltsam, aber lustig ausgesehen hatte, die jetzt noch immer neben ihm auf der Bank lag, denn sie hatte sie irgendwann abgelegt. Gregor war sich nicht sicher, doch vielleicht hatte seine Freundin diese Jacke entworfen, denn der leicht skurrile Schnitt schien ihm bekannt zu sein. Früher hatte er auch von seiner Freundin gefertigte Kleidung getragen, bis er es irgendwann doch ließ, denn die vielen Blicke und Späße auf der Arbeit hatten ihn gestört.
Deswegen nahm er die gefaltete Jacke, fand die Signatur seiner Freundin auf der Innenseite und war froh, damit einen Grund zu haben, der Frau doch noch zu folgen, denn wäre es eine gewöhnliche dunkle Jacke gewesen, wie sie jeder und jede trug, hätte er sie bestimmt einfach liegen lassen.
Als er nur noch ein paar Schritte hinter ihr war, rief er ihr nach. Er hatte sich nichts davon erhofft, doch es erschien ihm trotzdem irgendwie angemessen. Überrascht drehte die Frau sich um und sah ihn an.