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Unberührt
"Die Wahrheit ist die kleine Schwester der Langeweile..."
Mädchen tragen Taschen. Und tragen heißt: Verehren und beschützen. In eine dieser um Schulter und Hals hängenden Wegbegleiter einzudringen, ist meist schlimmer, als in die Trägerin selbst. Ein Tabubruch eben, ein "Fick dich!" in der Kirche...
Um nicht unangenehm in der Kirche aufzufallen, gehe ich dort erst gar nicht hin. Aber Taschen. Nun ja, die haben es mir angetan. In der Schule genügt es mir, die Schulhefte meiner weiblichen Kameraden durchzublättern. (Meist sind die nämlich aufschlussreicher, als ein Tagebuch.) Zusätzlich kann ich mit den bemüht stilvollen Federmäppchen spielen, zerknüllte Liebesbotschaften lesen oder Glücksbringer begutachten. Selten äußern Mädchen hier Einwände. Man muss es eben nur geschickt anstellen und mit einem gewissen, möglichst glaubwürdigen Interesse.
Wirklich wertvolles Wissen erlange ich aber immer an Wochenenden, an Taschen-Trag-Tagen. Auch wenn sich die äußere Fassade stets verändert, bleibt der Inhalt gleich. Und die Fülle ist weitaus interessanter als ihre Hülle. Das ist auch der Grund, warum Mädchen ihre Taschen beschützen. Verehrt wird nur das Äußere.
Legal und leicht ist es, ein Mädchen nach einem Taschentuch zu fragen. Damit gewinnt man weder Sympathie noch Herzen, aber einen ersten Einblick in ihre Tasche. Denn wenn sie nicht gerade verneint oder (was ziemlich unwahrscheinlich ist, da sie ja eine Tasche trägt) die Tempos sonst wo verstaut hat, wird sie gezwungenermaßen in ihre Tasche greifen. Wie lange sie das tut, ist von großer Bedeutung. Ich nenne die Zeit, die zwischen Taschentuchfrage und Aushändigung verstreicht, Taschentempo. Dieses Taschentempo gibt Aufschluss, über die Ordnung in der Tasche. Für gewöhnlich wird ein Reißverschluss geöffnet, die Augen zugedrückt, kurz gekramt und dann kann ich meinem Schleim freien Flug lassen. Damit bin ich für das Mädchen gestorben. Zumindest für diesen Abend. Und dies ist Voraussetzung für die illegale, aber interessantere Variante.
Heute Nacht frage ich eine Blondine nach einem Kaugummi, bevorzugt: zuckerfrei, Zimtgeschmack. (Was habe ich mir dabei nur gedacht?) "Einen Gummi kann ich dir schon geben, aber den hab ich nur mit Zitrone." Leicht geschockt, aber erschreckend spontan; ich: "Ist dir das denn nicht zu sauer?" Sie: "Besser als Käse." Arrogant mustert sie meinen Schritt. Mit lächelnder Zufriedenheit streckt sie mir dann einen Orbit entgegen.
Das ist mir noch nie passiert. Ich habe den Höhepunkt verpasst. Ich habe versäumt, wie sie den Kaugummi aus ihrem Gucci-Imitat geholt hatte...
Misstrauisch werfe ich den Orbit weg. Etwas gekränkt tröste ich mich an der Bar, dann bemerke ich, dass da ein Mädchen ohne Tasche steht. Das heißt für mich, dass dieses Geschöpf keinen Sex vor der Ehe will und: Ehe gibt es nicht. Sie steht ganz alleine, ich gehe auf sie zu. (Was kann schon groß passieren?)
Kaum hat sie mich erblickt, fragt sie: "Ein Taschentuch?"
Ich erstarre.
"Hallooo? Hast du ein Taschentuch?"
"Nein. Ich..."
"Ich auch."
"Du auch?"
“Ja. Einfach weg.”
“Wie?”
“Ich hab sie dort hingelegt und jetzt ist sie weg.”
“Du hast sie nicht beschützt?”
“Was?”
“Ich meine: Wer...”
“Keine Ahnung: Irgend so ein notgeiler Psychopath wahrscheinlich...”
Ich schlucke. Sie schüttelt den Kopf, reibt sich verärgert die triefende Nase.
“Also bist du gar keine...”
Stille. (Abgesehen vom Lärm, der den ganzen Club erfüllt.)
“Keine was?”
“Weißt du, es tut mir echt leid. Das mit deiner Tasche. Aber ich muss jetzt echt los.”
“Und das soll ich dir echt glauben?”
So waren Mädchen also ohne Tasche: Gereizt und in schrecklicher Lügendetektorenstimmung.
Ich: “Ja.”
Sie lacht und weint.
“Kannst du mir denn nicht beim Suchen helfen?”
Mitleid und Neugier waren eine seltsame Mischung. Aber wegen der Hoffnung, auf die Tasche zu stoßen und vielleicht nicht nur auf die Tasche, willigte ich ein. Freude blitze in ihren Augen auf. Eigenartige Freude...
Nachdem ich den Bereich an der Bar und all die anderen Sitzgelegenheiten abgesucht hatte, stelle ich mir die Frage, was zum Teufel ich da eigentlich tue. Ich helfe einem Mädchen, deren Namen ich nicht kenne und ich davon ausgehen kann, dass sie nicht einmal weiß, wofür die Öffnung zwischen ihren Beinen gut ist. Als ich die Suche aufgebe und aus Gründen der Höflichkeit zu ihr zurückkehren will, ist sie weg.*
Auf dem verlassenen Sessel liegt aber eine Handtasche. Ich grinse, lasse mich auf das weiche Polster fallen und betrachte das gute Stück. Marke: ESPRIT. Ein sehr kleines Modell. Gerade Platz genug für das Wichtigste. Erregt öffne ich die vordere Nebentasche: Zwei Tampons, ein Päckchen Pillen und kein Kondom: Das Sexfach einer pubertierten Jugendlichen, die Angst davor hat, schwanger zu werden, nicht aber mit der Absicht, Sex zu haben, wegging. Ich seufze.
Im großen Fach finde ich ein billiges Deo und verschiedene Sorten entzündungshemmender Lutschtabletten, eine leere Packung Taschentücher, in der ein Kaugummi klebt und... ein Handy. Volltreffer. Gerade als ich es in die Hand nehme, vibriert es. Eine SMS von einer unbekannten Nummer. Ich öffne die Mitteilung.
Kannst du bitte endlich damit aufhören in taschen anderer herumzuwühlen? lg
Kurze Zeit später kommt das Mädchen ohne Tasche wieder, wirft mir einen verlustig vorwurfsvollen Blick zu und verlässt die Diskothek als Mädchen mit Tasche.
Ich nicke. Mehr erfahre ich nicht. (lg?)