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und erlöse uns von dem Bösen
und erlöse uns von dem Bösen
Als er die Fläche jetzt vor sich sah, konnte er es nicht mehr glauben. Die Wiese lag im Sonnenschein, weit über die Hügelkuppe ausgebreitet. Dort hinten über der Baumgruppe kreisten einige größere Vögel und das kurze Gras reckte sich dem Licht entgegen.
Er setzte sich für einen Moment auf einen Baumstumpf und genoss die Frühlingssonne auf seinem blassen Gesicht. Dicht über dem Boden zitterten die gelben Flügel eines Schmetterlings und als sein Blut nicht mehr so laut in seinen Ohren rauschte, konnte er das Brummen der Fliegen um sich herum hören.
Er sah das Gras zu seinen Füßen lange und still an. Die kurzen, grünen Halme hatten sich vom Winter noch nicht erholt, aber ihre Farbe war schon frischer. Seine Blicke schweiften über die Fläche, die sich erst weit hinten hinter den Hügel senkte.
Grün. Ein Neuanfang.
Der Beginn eines völlig neuen Lebens. Ja. Ein positiver Gedanke. Es ging jetzt langsam wieder bergauf mit ihm.
Weiter hinten waren die dunklen Flecken im Gras. Da, wo es niedergedrückt worden war, als alles geschah. Es hatte sich noch nicht erholt.
Die Gedanken an die vergangene Nacht wühlten ihn mehr und mehr auf. Die Bilder kehrten zurück. Er hatte es mitangesehen. Hatte nichts dagegen getan. Aber ob er sich schuldig fühlte, hatte er noch nicht herausgefunden.
Da war ein Gefühl, das in ihm rumorte. Aber es fühlte sich leichter an als Schuld. Mehr eine Art von Erlösung. Er war entkommen.
Langsam wandere er über die Fläche auf die niedergetretenen Stellen zu. Er hatte ihr ins Gesicht gesehen. Hatte alles mitangesehen. Unmöglich, sich abzuwenden. Im Bann dieser Bilder.
Zwischen ihren langen Haaren hatten die Finger so fremd gewirkt. Die Hände so fest um ihren Hals, dass sich die Haut darum verfärbt hatte. In ihren Augen ein Flehen, er möge etwas tun, sie retten. Aber er hatte hilflos zugesehen.
Im feuchten Nebel der letzten Nacht, dicht über dem Boden, hatte es ausgesehen, als sei eine Decke über die Welt gebreitet. Der Mond hatte ein Schimmern hineingelegt, das aus ihren Augen zu ihm heraufgespiegelt wurde, aber er hatte nicht helfen können. Es lag nicht in seiner Macht.
Ihr beim Sterben zuzusehen war eine Erfahrung, die er nie vergessen würde. Ihr Wunsch nach Rettung, den er nicht erfüllen konnte. Die Verzweiflung, die aus ihrem Innersten zu kommen schien. Und der schwächer werdende Kampf gegen die Hände, die sich um ihren Hals geschlossen hatten. Die ihr die kühle Nachtluft nahmen.
All das hatte sich tiefer eingebrannt, als jede andere Erfahrung seines Lebens. Dieses unvorstellbare Grauen, als ihm bewusst wurde, dass dieser nach und nach erschlaffende Körper sterben würde. Als er verstand, welche Macht das Leben ist.
Ihre Augen hatten einen starren Blick angenommen, ihr Köper hing kraftlos im festen Griff der Hände. Ein letztes Aufbäumen hatte er erwartet. Stattdessen schlichte Stille. Ein Enden der Bewegungen und des Ausdrucks. Die Hände ließen los und ihr Körper sank ins Gras. Die Nebeldecke umhüllte diese Szene und er war nicht sicher, ob es real war. Wäre all das geschehen, hätte er doch eingreifen können. Wäre nicht nur Zuschauer dieses Grauens gewesen.
Auf dem niedergedrückten Rasen sank er auf die Knie. Nur Zentimeter entfernt waren die Halme mit einer dünnen Schicht aus Blut überzogen. Dunkel und trocken.
Es war über das Gras in die Erde gelaufen. Aus ihrem Körper heraus und in den trockenen Boden gesickert, als wolle es für immer dort bleiben. Anklagend. Still. Und düster.
An das Messer zu denken, verkrampfte ihm den Magen. Viele Male hatte es sich in sie gesenkt, als sie schon leblos dalag. Beim ersten Mal sehr langsam, als wäre es eine Zeremonie. In die Mitte ihres Körpers.
Die Klinge war unglaublich scharf, denn sie zerteilte den Stoff, die Haut und das Fleisch ohne zu zögern. Dann, sehr langsam, zog sie sich blutig und tropfend heraus, und schimmerte im nebligen Mondlicht, kurz bevor sie sich wieder senkte.
Er hatte die Stiche gesehen, war dem Messer mit dem Blick gefolgt. Das Blut begann, über ihren Körper zu laufen, über das Gras. Und auf dem trockenen Boden hatte sich eine Lache gebildet.
Kein Zweifel mehr, ob sie tot war. Er lief davon, konnte es nicht mehr ansehen. Er hatte nicht geholfen. Ihre Blicke hatten ihn angefleht, aber er hatte nicht geholfen. Und dennoch, nicht einmal jetzt konnte er Schuld empfinden.
Am Waldrand hatte er innegehalten. Sich wieder umgedreht und ihren Körper im Mondlicht betrachtet. Ihr Haar hatte düster geschimmert. Schwärzer noch als der blutgetränkte Boden. Sie lag so schutzlos da. An der höchsten Stelle des Hügels, im kalten Licht, für jedermann zu sehen. All die Wunden, durch die man bis in ihr Innerstes sehen konnte.
Jetzt, nachdem es vorbei war, konnte er ihren Blick nicht mehr aus seinen Gedanken verscheuchen. Das Flehen, das ihn nicht erreicht hatte, drang nun tiefer und tiefer in sein Bewusstsein. Schließlich ging er widerstrebend zurück und kniete sich neben die Leiche.
Seine Finger strichen durch ihr blutiges Gesicht. 'Ich werde dir helfen', flüsterte er rau. Dann packte er ihre Beine und zog den Körper über die Wiese. An der Baumgruppe, ganz weit hinten, legte er sie ab. 'Hier, mein Schatz, hier findest du Ruhe.' Sie lag auf dem Rücken, die offenen Augen starr empor gerichtet, das Haar wirr um ihr Gesicht.
Wortlos und ohne noch einmal zurückzusehen, hatte er die Baumgruppe verlassen.
Auf dem Weg zurück ins Dorf war er auf der schmalen Brücke stehen geblieben und hatte das Messer in den Bach fallen lassen. Das mondglitzernde Wasser hatte sich rot verfärbt, und hatte das Blut davongewaschen. Zurück blieb das Funkeln der Klinge über den Steinen am Boden. Erlösung begann von ihm Besitz zu ergreifen.
Sie hatte es gewollt. Herausgefordert. Hätte sie ihn nicht ausgelacht, wäre alles anders gekommen. Der Heiratsantrag hatte das Ende sein sollen. Das Ende des Lebens allein. Jetzt war er zum Neuanfang geworden.
Bei dem Gedanken an letzte Nacht überkam ihn ein neues Gefühl. Es peitschte ihn auf. Trieb ihn voran.
Dies ist der Beginn einer neuen Zeit.