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Unfreiwillige Selbstaufgabe
Das Telefon klingelt schrill und reißt Natalie aus ihrer Kostenkalkulation. Sie erkennt die Nummer bereits auf der Anzeige des Apparats und erschrickt. Sie ist gut konditioniert und ihr Magen verkrampft sich unter Schmerzen. Das Adrenalin nimmt Besitz von ihrem Körper, ihr Herzschlag verdoppelt seine Frequenz. Sie weiß selbst nicht, ob aus blanker Angst vor dem oder purer Freude auf das, was er gleich mit ihr tun würde. Natürlich nur wenn sie ihn lässt. Soll sie ihn lassen? Hat sie überhaupt eine Wahl? Niemand hat sie je gefragt, ob sie das alles überhaupt will. Sie hat ihn so vermisst. Er hat sie so lange schon nicht mehr gebraucht.
In den Sekunden, in denen sie hypnotisiert den Hörer anstarrt und nervös ihrer Hand befiehlt, nicht zwanghaft nach ihm zu greifen sondern sich dieser Macht zu widersetzen, laufen ihre Erlebnisse mit Peter wie ein Film in ihrem Kopf ab.
Er benutzt dich nur, um sich selbst zu verwirklichen.
Und genau das braucht sie. Sonst sucht er sich noch jemand anderes, der seine Bedürfnisse befriedigt, sich seiner annimmt. Und ohne seine Aufmerksamkeit wäre sie verloren.
Das Telefon klingelt ein zweites Mal und zieht sie immer stärker in seinen Bann.
Er zitiert dich zu sich wenn er dich benötigt und lässt dich in seiner Arroganz sonst links liegen. Er spielt mit dir und erniedrigt dich.
Sie geht darin auf, ihn zu bewundern, sich applaudierend zu seinen Füßen einzufinden, begeistert.
Das Telefon klingelt zum dritten Mal, unbarmherzig.
Er hält sich für den Nabel der Welt, unendlich genial, verlangt, dass die ganze Welt ihr Tempo und die Flüsse ihre Richtung ändern müssen für ihn.
Aber ist er das nicht auch wert?
Ihr ist bewusst, die ganze lange Sekunde lang, dass nach dem nächsten Klingeln der Anrufbeantworter sich seiner annehmen und sie entlasten würde. Aber wie enttäuscht wäre er dann von ihr? Sie will doch nur, dass er zufrieden mit ihr ist.
Grenz dich ab, lass dich von diesem engstirnigen Narzissten nicht so einspannen.
Gibt es noch eine Grenze zwischen ihm, seinen Einstellungen, seinem Willen, und ihr, ihrer Individualität? Ist sie überhaupt eine eigenständige Persönlichkeit ohne ihn?
Schäm dich, dich selbst so aufzugeben, und jede Sekunde davon zu genießen. Du leugnest mit deinem Verhalten die ganze Geschichte der Emanzipation. Selbst er verachtet dich mittlerweile dafür.
Wozu freier Wille, wenn man angezogen wird von seiner perfekten Persönlichkeit, seiner Kraft?
Hektisch nimmt Natalie den Hörer von der Gabel, aus Angst, dass der Anrufbeantworter schon Fakten geschafft haben könnte. Ohne die geringste Chance, gegen ihre Gefühle anzukommen, und in purer Vorfreude darauf, sich erneut zum Affen zu machen vor ihm, ihn anzubeten und ihm gefügig sein zu dürfen.
Ihr Versuch, cool zu klingen, ist eher halbherzig. Sie ist machtlos, reagiert nur noch unter dem Einfluss einer unsichtbaren Kraft, willenlos, ohne je eine Wahl gehabt zu haben.
„Hallo Schatz, schön, dass Du anrufst“, sagt sie einige Töne zu hoch, und es ist nicht zu unterscheiden, wen sie mehr verachtet – ihn oder sich.