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Ungelesen
Zwanzig neue Nachrichten. Unfassbar. Immer, wenn ich seit Tagen keine E-Mails heruntergeladen habe, fürchte ich mich fast vor den fettgedruckten Zeilen, die im Stakkato am oberen Bildschirmrand erscheinen. Wenigstens ist der Großteil davon Müll, den man sofort dorthin schicken kann, wohin er gehört. Wichtige Nachricht. Von wegen. Sinnloser Newsletter, den zu lesen ich ohnehin nie Zeit habe. Aber ich markiere ihn mal als ungelesen. Wer weiß? Neue Online-Rechnung. Na und? Zahlen muss ich sie sowieso, egal was drinsteht. Nein, ich will auch heute kein Viagra kaufen.
So, was bleibt noch übrig? Babyfotos von Jasmin. Na gut, mal ansehen. Ja, ich weiß, dass ich mit einer alten Version von Quicktime arbeite. Updaten? Jetzt? Später? Jetzt ganz sicher nicht. Oh Mann, eines Tages wird mein Computer nicht einmal mehr starten, weil ich ihn nie aktualisiere. Irgendwann werde ich's schon machen. Als hätte ich nichts anderes zu tun, als ständig Updates und Vireninformationen herunterzuladen, neue Sound- und Grafikkarten einzubauen und alle vier Jahre überhaupt einen neuen Computer zu kaufen. Vergiss es! Was ist jetzt mit den Bildern? Hm, ja, niedlich, aber eigentlich alle gleich. Schau ich mir später mal komplett an. Als ungelesen markieren. Ja, mir ist vollkommen klar, dass ich wahrscheinlich darauf vergessen werde, aber ich möchte heute noch mit den blöden E-Mails fertig werden.
Mach diesen Test und schicke ihn ausgefüllt an zehn weitere Menschen, die du kennst und magst. Wie die Leute bloß darauf kommen, jeder hätte zehn Menschen, die er kennt und mag? Ach, von Susi kommt das Ding. Meinetwegen, dann lösche ich ihn nicht. Aber jetzt habe ich für diesen Schmarren wirklich keine Zeit. Als ungelesen markieren.
Meld dich mal wieder. Von Harald. Hm. Das wäre allerdings wirklich an der Zeit. Wollte ich nicht mit ihm ins Kino gehen? Total vergessen. Ich glaube, der Film läuft überhaupt nicht mehr. Na ja, dann sehe ich ihn mir eben auf DVD an. Gleich nach den anderen zehn Filmen, die ich sehen wollte und im Kino verpasst habe.
Aber darum geht's jetzt nicht. Es geht um Harald. Melden, ja gut. Hm. Eigentlich sind solche "Meld dich mal wieder"-E-Mails Blödsinn. Soll ich genauso zurückschreiben? "Hiermit tue ich meine Pflicht und melde mich. Und tschüss." Wenn schon, dann schreibe ich etwas Sinnvolles, Überlegtes. Wie wär's mit einem Brief, in dem nicht nur Information sondern auch Gefühl steckt? Klingt gut. Nur dauert das seine Zeit, und ich muss heute noch die Kinder abholen und bei der Geburtstagsparty abliefern, den Rasen mähen und das Auto waschen (höchste Zeit). Und irgendetwas Wichtiges muss ich doch einkaufen, hat Maria gesagt. Verdammt, was war denn das noch mal? Hoffentlich hat sie es auf eine Einkaufsliste geschrieben. Tja, Harald, ich schätze, du hast momentan keine guten Karten. Du kommst nie drauf, was ich jetzt mit deiner Nachricht mache. Als ungelesen markieren.
Und was ist das? Von Martin? In großer Trauer geben wir bekannt ... Oh, Shit. Seine Mutter. Und ich glaube, ich habe ihren letzten Geburtstag vergessen. So ein Mist, ich hätte sie noch einmal besuchen sollen, bevor sie stirbt. Wenn sie aber auch nie "Meld dich mal wieder"-E-Mails schreibt. So was, jetzt erinnere ich mich auf einmal daran, wie sie mit mir immer Tretboot gefahren ist, als ich klein war. Warum erinnere ich mich an so etwas Unwichtiges? Und weil wir gerade beim Thema unwichtige Kindheitserinnerungen sind: Sie ist oft mit mir und Papa Bowlingspielen gegangen.
Papa, der ist auch einer, der nie "Meld dich mal wieder"-E-Mails schreibt. Wie auch? Papa und E-Mails. Er kann nicht einmal einen CD-Player bedienen. Eigentlich sinnlos, dass ich ihm zum Geburtstag eine CD geschenkt habe. Das ist auch schon wieder ziemlich lange her. Großartig, jetzt muss ich auch noch daran denken, dass er fast so alt ist wie die Mutter von Martin. Er wird keine hundert Jahre mehr werden. Aber ich werde jetzt sicher nicht daran denken, wie oft ich ihn noch sehen werde, wenn ich meine Besuchsfrequenz beibehalte und die durchschnittliche Lebenserwartung eines mitteleuropäischen Mannes berücksichtige.
Ganz toll, jetzt denke ich ja doch daran. Und ich kann ihm nicht mal ein E-Mail schicken. Ich werde ihn anrufen. Genau. Und ich werde ihm sagen, dass es mir gefallen hat, wenn er mich zum Bowling mitgenommen hat. Und wie er mir das Einmaleins mit irgendeinem albernen Spiel beigebracht hat. Warum erinnere ich mich an so einen Blödsinn? Das sage ich ihm ganz bestimmt nicht. Aber ich könnte ihm vorschlagen, dass wir wieder mal Bowlen gehen. Oder lieber doch nicht. Bowlen mit Herzschrittmacher ist womöglich keine gute Idee. Apropos: Ich muss ihn fragen, wie es ihm damit geht. Vielleicht könnten wir wenigstens anderen beim Bowlingspielen zuschauen. Und vor allem werde ich ihm sagen, dass ich froh bin, dass er nicht tot ist. Eventuell nicht ganz so direkt. So, her mit dem Telefon. Eine der wenigen Nummern, die ich auswendig kann. Bringen wir's hinter uns.
"Hallo?"
"Hallo."
"Hallo!"
"Ja, Hallo. Ich bin's."
"Lange nicht mehr gehört."
"Ja, ganz schön lang."
"Wie geht's dir denn?"
"Mir geht's gut. Wie geht's dir denn?"
"Auch gut."
"Und mit dem Herzschrittmacher?"
"Alles wunderbar."
"Na wunderbar. Was machst du gerade?"
"Na ja, im Garten arbeiten halt. Und du?"
"Na ja, E-Mail lesen. Das ist das, wo du nie verstanden hast, wie es funktioniert."
"Ja ja. Und sonst?"
"Sonst eigentlich nichts. Ich wollte mich nur mal wieder melden."
"Ja, danke."
"Na gut, dann ..."
"Ja, gut, dann einen schönen Tag noch."
"Einen schönen Tag noch. Bis nächstes Mal."
Was war das denn? Großartig. Das kommt dabei heraus, wenn Männer miteinander telefonieren. Dafür hätte auch ein "Meld dich mal wieder"-E-Mail gereicht. Allmählich bin ich wirklich deprimiert. Nein, ich werde nicht deprimiert sein. Ich werde zu allen meinen Bekannten Kontakt aufnehmen und ihnen E-Mails schicken. Muss bloß schnell gehen – der blöde Rasen – und die Kinder. Gehen wir die Sache einfach alphabetisch an. Alexandra. Was könnte ich ihr denn schreiben?
Jetzt sitze ich schon minutenlang vor dem Bildschirm und überlege. Die Zeit vergeht, und ständig kriechen unpassende Gedanken durch meinen Kopf, darüber, was ich für Maria einkaufen muss, zum Beispiel. Wenn ich so mein ganzes Adressbuch durcharbeite, werde ich vor diesem Computer an Altersschwäche sterben. Vielleicht begnüge ich mich fürs Erste doch mit einem "Meld dich mal wieder". Sie kann es ja wenigstens als ungelesen markieren.