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Ungewollt

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29.12.2020
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Ungewollt

Als Karim endlich eingeschlafen war, träumte er von Hitze, Gebrüll und Schüssen. Er hörte die panischen Schreie, sah das Blut im Sand trocknen und spürte die Angst in ihm. Dann kamen sie.
Obwohl es draußen noch dunkel war, oder vielleicht auch, weil es noch dunkel war, trommelten sie an ihrer Tür.
Da ihre Betten nur wenige Meter von der Wohnungstür entfernt lagen, weckte es ihn und seine Schwester Ayla sofort. Er machte das flackernde Deckenlicht an, bei dem nur noch eine der drei Glühbirnen funktionierte, und redete Ayla gut zu. In ein paar Stunden sollte sie mit Kira, aus der Wohnung gegenüber, zur Schule laufen, jetzt aber guckte sie ihn erschrocken und voller Sorge an.
“Es wird gut. Alles wird gut. Glaub mir. Leg dich hin, schlaf weiter. Ich kümmere mich.“
Sie nickte, doch ihre jungen, sonst so naiven und lieben Augen, blickten ihn noch immer ängstlich an.
Da hörte Karim die Stimmen. Sie waren deutsch. Sprachen lauter, aggressiver, bedrohlicher.
Karim öffnete ihnen die Tür. Dann ging alles ganz schnell.
In zwei Monaten würden die beiden bei einer Explosion zusammen mit 78 weiteren Personen von einer Explosion erfasst und in Stücke gerissen werden.


Die Männer kamen rein, traten mit ihren schwarzen Stiefeln auf den alten Teppich von Karims und Aylas Vater. Sie sprachen routiniert und doch bestimmt. Der jüngste von ihnen, etwa so alt wie Karim selbst, mit sehr kurzen Haaren und deutlich kleiner als seine Kollegen mit aufmerksamem Blick, hatte eine Liste dabei, auf der er Karim den Namen seiner Schwester und Karims eigenen zeigte. Sofort verstand Karim. Er verstand, dass Ayla heute nicht in die Schule gehen und er sein Bewerbungsgespräch um 9:00 Uhr unentschuldigt nicht antreten würde, obwohl das Gespräch nur noch reine Formalie war, so hatte man ihm gesagt, denn Pfleger würden immer überall gesucht.
Der große, aber freundlich aussehende Mann nahm ihm sein Handy ab, legte es in eine Plastiktüte, verschloss sie und versuchte Karim zu erklären, was passiert war und was als nächstes passieren würde.


Vorsichtig trat Ayla, noch immer im Pyjama, hinter Karim und hielt ihn am Arm. Sie verstand nicht genau, was gesagt wurde, wusste aber, dass es nichts Gutes war. Während der Dicke mit Karim redete und der Kleine ihre Wohnung inspizierte, schaute der dritte Mann sie nur seltsam an. Er hatte leere Augen, hatte genau wie Karim und Ayla dunkle Haare, und schien gedanklich abwesend zu sein.
Da nahm Karim sie an der Hand in ihr Schlafzimmer, setzte sich zu ihr, und während der Kleine an der Tür wartete und ihnen wachsam zusah, erklärte Karim ihr alles.


Natürlich hatte sie nicht wirklich verstanden, was genau passiert war, aber genug, um zu wissen, was sie tun sollte, dachte Karim stolz, als er sah wie selbstständig sie ihre Zahnbürsten, Handtücher und Waschzeug in ihre große Tasche packte.
Währenddessen packte er alles andere ein, versuchte nichts zu vergessen, an alles Wichtige zu denken. Hatten sie alle Papiere? Welche Kleidung sollten sie mitnehmen? Alles? Nein, die Männer hatten gesagt 20 Kilogramm pro Person. Was war mit Schuhen?


Beide hasteten unter der Aufsicht der Männer zwischen den wenigen Zimmern ihrer Wohnung hin und her. Sie stopften ihre Taschen voll mit allem, was was wichtig war und mit allem, was ihnen wichtig geworden war. Selbst der Teppich passte noch rein.
Die Männer zählten das Geld in Karims alten Portmonee, nahmen ihm den Wohnungsschlüssel ab und brachten sie die Treppe runter, wo man sie in einen Wagen steckte. Als man sie in das Auto setzte, blickte Karim ein letztes Mal auf ihre Wohnung, in der noch immer kein Licht brannte. Er hatte keine Zeit mehr gehabt seinen Freunden, die auch hier wohnten, Bescheid zu sagen. Was würden sie denken, wo sie waren? Würden sie wissen, was passiert war?
Dann wurden sie weggefahren.


Während der Fahrt schwiegen alle. Der Mann zwischen Ayla und Karim blickte noch immer benommen. Unsicher betrachtete Ayla die Waffe, die an seinem Gürtel befestigt war. Die beiden Männer vorne dagegen redeten miteinander und obwohl Ayla akustisch nicht verstehen konnte was gesagt wurde, hörte es sich freundlich und ausgelassen an. Für sie war heute ein Tag wie jeder andere, dachte Ayla. Sie machten Späße, unterhielten sich, lachten, arbeiteten.
Karim aber blickte jetzt ähnlich wie der stille Mann neben Ayla. Noch nie hatte sie ihn so besorgt gesehen wie jetzt. Selbst als er ihr vorhin erklärt hatte, dass sie packen sollten, weil sie die Wohnung verlassen müssten, hatte er nicht so ausgesehen. Da war sein Blick eher streng gewesen. Erst als er ihr erzählt hatte, dass man sie mitnehmen und wegbringen würde, hatte Ayla gemeint Sorgen und vielleicht auch etwas Wut in ihm zu sehen.
Sie hatte zwar nicht alles verstanden, was er erzählt hatte, machte sich aber trotzdem auch Sorgen. Sie wusste nicht wohin sie fuhren und was dort mit ihnen passieren würde. Alles, was sie wusste war, dass man sie hier nicht mehr haben wollte. Wer sie nicht wollte oder warum, hatte er nicht gesagt. Waren es nur die Männer, die sie geweckt und mitgenommen hatten oder noch mehr? Waren es die Passanten auf der Straße? Oder war es der Mann gewesen, der angerufen worden war um mitzuteilen, das alles nach Plan lief?


Als sie ankamen, wurden sie zu einer langen Sitzreihe in einer großen Halle gebracht. Die Menschen die dort warteten, hatte alle denselben müden und besorgten Blick. Karim sah niemanden, der nicht schwarze Haare oder ein Kopftuch trug. Sie alle warteten.
Weiter vorne sah er Männer mit Handschellen. War es weil sie ein Vorstrafenregister hatten oder aus Sorge, dass sie sich selbst verletzen könnten um dem Flug zu entgehen?
Karim setzte sich dicht an Ayla und drückte sie fest. Sie hatte keine Ahnung was passieren würde.
Sie wusste nicht von der kommenden Gefahr. Vielleicht, dachte Karim, würden sie ja Glück haben und allen Schrecken irgendwie entgehen. Vielleicht würden sie tatsächlich irgendwann wieder in Frieden und Sicherheit leben. Vielleicht.
Klar war im Moment aber nur, dass sie in wenigen Minuten durch die Passkontrolle begleitet würden, ins Flugzeug gebracht, hingesetzt, angeschnallt und weggeflogen würden. Angekommen würde er sein Handy wiederbekommen, seine Sicherheit und seinen Frieden aber nicht, denn während die deutschen Beamten von der Bundespolizei zurück zu ihren Familien fliegen würden, erzählen würden, wie das Wetter in Kabul gewesen war, von den einheimischen Obst- und Gemüsesorten, würden Karim und Ayla mit ihren Koffern in der Hitze stehen und nicht wissen wohin, was nun, warum.

 

Hi @AWM,

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast meinen Text zu lesen und zu kommentieren! Die Kritik nehme ich natürlich Ernst und bin sehr dankbar dafür!

Mit dem Traum am Anfang wollte ich einen spannenden Einstieg und gleichzeitig zeigen, warum sie natürlich nicht zurückwollen und was ihnen in Afghanistan drohen könnte. Aber am Einstieg arbeite ich nochmal.

Wenn sie groß gewesen wäre, wären sie nicht aufgewacht?
Hier wollte ich zeigen, dass sie eben eine kleine Wohnung haben, also jetzt nicht gerade im Luxus leben, und das Klopfen sofort gehört haben. In einer großen Villa würde man das ja wahrscheinlich nicht direkt hören, aber es gibt ja Klingeln. Aber auch das habe ich jetzt schnell überarbeitet.

Du hast für mich ein Perspektivenproblem.
Stimmt, irgendwie ist das passiert, danke fürs Aufzeigen, werde ich noch ändern.

Die anderen Fehler und Ungenauigkeiten werde ich auch noch überarbeiten, vielleicht ändert sich da noch was.
Auf jeden fall muss ich auf die Perspektiven achten :D

Danke nochmal für deinen konstruktiven Kommentar, hat mir sehr geholfen!

Viele Grüße,
Max

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola @Max88,

ich habe Deine Geschichte gelesen.
Schriebe ich jetzt den ‚normalen‘ Kommentar / Leseeindruck, dann hätte ich sicherlich einiges zu bekritteln. Aber wozu?
Du beginnst gerade mit dem Schreiben, es scheint Dir Spaß zu machen, Du bist gut drauf, kommentierst andere – das passt doch alles! Ich fände es echt destruktiv, die Lupe zur Hand zu nehmen und zu schulmeistern. Eher will ich Dir kräftig auf die Schultern hauen: Maxe, mach weiter, Du hast Talent!

Ist doch logisch, dass ein junger Mensch über die beschisssenen Dinge unserer Welt schreibt; schreiben muss, um nicht verrückt zu werden bei all der Ungerechtigkeit, der Rafferei und der Blödheit. Die Einsicht, dass wir auf einem dualen Planeten leben, kommt über die Jahre – und eben auch die Erkenntnis, das wir, so sehr es uns widerstrebt, auch die Schattenseite akzeptieren müssen.
Das ist schon hart.

Für Deine weitere Schreibarbeit wünsche ich Dir (der Du als ‚Pretorian‘ den Willen dazu hast) Durchhaltevermögen und gute Ideen. Das wird ein Riesenspaß, mit jedem Jahr klüger und besser zu werden.

Viel Erfolg!
José

 

Hallo @Max88, da ich schon mal Anfängerin bin, möchte ich mich nicht zu tief gehend äußern.
Hauptsache:
* Ich habe deine Geschichte gern gelesen, es liest sich flott und angenehm.
* Dein Thema finde ich mutig

Nur ein Kritikpunkt habe ich schon:

In zwei Monaten würden die beiden bei einer Explosion zusammen mit 78 weiteren Personen von einer Explosion erfasst und in Stücke gerissen werden.
Diese Passage unterbricht deine Erzählung, hat wenig Mehrwert, weil du bis auf diesen Zeilen, nur schreibst von was jetzt passiert. Ich würde es weglassen.

Ansonsten: :thumbsup:

Herzliche Grüße,
Schwerhörig

 

Hallo @josefelipe, Danke fürs Lesen auf jeden Fall und die aufmunternden Worte! Finde es echt cool wie schnell hier immer freundlich und konstruktiv kommentiert wird. Danke, da werde ich einfach mal weiter schreiben und versuchen besser zu werden, wie wahrscheinlich alle hier ;)


@Schwerhörig, Danke auch an dich, dass du mein Text gelesen hast.
Ja, an den Perspektiven muss ich sicher noch arbeiten, überarbeite gerade auch den Text und probiere das da besser hinzukriegen. Mal sehen.

Wünsche euch ein schönes entspanntes Wochenende!

Viele Grüße
Max

 

Salü @Max88,

Asylantrag abgelehnt. Ab der Zustellung des Bescheides müssen Sie jederzeit mit ihrer Verbringung in den Abschiebereich des Flughafens Frankfurt/Main rechnen. Bitte halten Sie alle Dokumente bereit. Eine widerrechtliche Entfernung vom Wohnsitz wird strafrechtlich verfolgt.

Wir haben hier als Flüchtlingshilfe schon einige Abschiebungen mitgemacht. In allen Fällen kamen die Bundespolizisten nachts, zwischen 2 und 4 Uhr. Wird nicht geöffnet, fallen die Bupos auch mal mit der Tür ins Haus, sozusagen.

Sie handeln nach Auftrag. Man sieht ihnen aber durchaus an, dass ihr Job sie belastet und sie sich zusammenreißen müssen.

Die letzte Abschiebung konnten wir verhindern. Der Betroffene liebte leider sein eigenes Geschlecht und musste deshalb aus seinem Land fliehen, denn dort steht darauf die Todesstrafe. Mal abgesehen davon, dass die Person von seiner Familie offiziell verstoßen und zum Abschuss freigegeben wurde.

Er konnte nach 2 Jahren hier ein gutes Deutsch, hat nach den Sprachkursen gearbeitet in Bäckereien. Dann hat er sich Geld geliehen und selbständig gemacht mit einem Kurierdienst. Nach einem weiteren Jahr hatte er schon 2 Fahrzeuge und 3 Angestellte, ein vorbildlicher Steuerzahler. Dann kam die Ablehnung der Duldung. Anwälte, Prozess, Presse, monatelang. Endlich Wiederaufnahme bei der Härtefallkommission des Landes. Und es hat geklappt. Ein Matterhorn an Verfahrenskosten, Formularen, Mensch und Material für ein "Ok, sie können bleiben". Schulden.

Ein Thema, @Max88, das uns mehr und mehr beschäftigen wird, weil wir - und damit meine ich uns als Gesellschaft, als Politiker, Entscheider - keine Lösungen WOLLEN. Wir machen weiter mit Uralt-Gesetzen, Uralt-Lösungen und Uralt-Ansichten von Anno dazumal, ohne auf die sich schnell verändernden Bedingungen in der Welt zu reagieren. Wir hoffen, das Disneyland noch ein wenig länger aufrechterhalten zu können, dabei liegt es schon in Trümmern.

Das alles steckt auch in deinem Text. Ich mag deinen Text. Aber ich glaube, es ist wichtig, mehr und direkter zu polarisieren. Die Karten müssen auf den Tisch. Ich glaube, Literatur hat eine Aufgabe bekommen in diesen seltsamen Zeiten. Es wird Zeit, dass sie Leuchtturm wird, Orientierung für die wabernde und suchende, zunehmend gespaltene Masse. Nehmen die Neutronen zu und schieben wir kein Graphit hinein, werden wir den Spaltungsprozess vielleicht weder kontrollieren noch aufhalten können.

In diesem Sinne: Dran bleiben und von mir einen Dank für den Text.

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Nach der „einsamen Masse“ nun „Abschiebung“ als Thema zu wählen,

lieber Max 88,

zeigt mir vor allem, wie sehr Dich gesellschaftliche Probleme auf unterschiedliche Weise bewegen. Hier nimmt die Geschichte Dich derartig mit, dass sie sich auf die Fehlerquote + das gelegentliche Verheddern auswirkt -
aber noch mal selber drübergehn wird zunächst mal reichen.

@Morphin hat eigentlich schon alles gesagt und meine Erfahrungen seit 2015 mit Schwarzafrikanern und dann Arabern zeigt eigentlich, dass die Lage in "geordneteren" Bahnen verläuft. Was natürlich ausgebremst wird bei formal geregelten Abläufen ist die Frage hinsichtlich der Pandemie ...

Was aber immer eine Gefahr bleiben wird, ist das rechte Geschwätz von der Umvolkung – schon der Begriff grenzt ans absurde Theater – und gemäßigter beim Kleinbürger und Häuslebesitzer in der Furcht um den sinkenden Wert seines Grundstückes aufgrund fremder Nachbarn, vor allem. Dass das Töchterlein im Wartehäuschen für den ÖPNV vergewaltigt würde, hat sich inzwischen als grundlos rausgestellt.

Trotz des Themas - wünscht der Friedel

ein schönes Wochenende

 

@Morphin und @Friedrichard,

Danke natürlich fürs Lesen und Kommentieren. Ich war mir anfangs nicht sicher ob ich so etwas politisches hier hochladen soll, oder auch darf, und bin jetzt froh zu sehen, dass das geht, auch wenn mein Text das Thema ja nur relativ simpel beschreibt.

Manchmal schaut man sich die Welt an und alles sieht gut aus, die Menschen sind respektvoll, helfen sich, lachen gemeinsam, da vergisst man ganz schnell, was ein paar Straßen weiter passiert oder auch nicht passiert.
Dafür, dass bei Abschiebungen Menschen im Prinzip deportiert werden, finde ich, wird viel zu selten wirklich darüber berichtet. Wirklich, weil jeder weiß, dass es sie gibt, viele aber überhaupt nicht wissen, wie genau das dann abläuft. Beim Recherchieren für die Geschichte habe ich gemerkt wie wenig ich teilweise überhaupt wusste und vieles davon garnicht glauben wollte, so schrecklich brutal ist es, und ist dabei für viele Menschen Realität und man kann irgendwie überhaupt nichts machen, außer vielleicht alle vier Jahre ein paar Parteien nicht zu wählen. Naja...
Auch wieder in der CDU Debatte für den Vorsitz hat man gesehen, wie unwichtig dieses Thema zu sein scheint in der Gesellschaft.
Über dieses Thema kann dabei ja eigentlich garnicht genug gesprochen werden. Zum Glück muss man sich hier wenigstens nicht darüber streiten.

Trotzdem natürlich ein schönes Wochenende wünsche ich noch und viele Grüße!
Max

 

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