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Ungewollt
Als Karim endlich eingeschlafen war, träumte er von Hitze, Gebrüll und Schüssen. Er hörte die panischen Schreie, sah das Blut im Sand trocknen und spürte die Angst in ihm. Dann kamen sie.
Obwohl es draußen noch dunkel war, oder vielleicht auch, weil es noch dunkel war, trommelten sie an ihrer Tür.
Da ihre Betten nur wenige Meter von der Wohnungstür entfernt lagen, weckte es ihn und seine Schwester Ayla sofort. Er machte das flackernde Deckenlicht an, bei dem nur noch eine der drei Glühbirnen funktionierte, und redete Ayla gut zu. In ein paar Stunden sollte sie mit Kira, aus der Wohnung gegenüber, zur Schule laufen, jetzt aber guckte sie ihn erschrocken und voller Sorge an.
“Es wird gut. Alles wird gut. Glaub mir. Leg dich hin, schlaf weiter. Ich kümmere mich.“
Sie nickte, doch ihre jungen, sonst so naiven und lieben Augen, blickten ihn noch immer ängstlich an.
Da hörte Karim die Stimmen. Sie waren deutsch. Sprachen lauter, aggressiver, bedrohlicher.
Karim öffnete ihnen die Tür. Dann ging alles ganz schnell.
In zwei Monaten würden die beiden bei einer Explosion zusammen mit 78 weiteren Personen von einer Explosion erfasst und in Stücke gerissen werden.
Die Männer kamen rein, traten mit ihren schwarzen Stiefeln auf den alten Teppich von Karims und Aylas Vater. Sie sprachen routiniert und doch bestimmt. Der jüngste von ihnen, etwa so alt wie Karim selbst, mit sehr kurzen Haaren und deutlich kleiner als seine Kollegen mit aufmerksamem Blick, hatte eine Liste dabei, auf der er Karim den Namen seiner Schwester und Karims eigenen zeigte. Sofort verstand Karim. Er verstand, dass Ayla heute nicht in die Schule gehen und er sein Bewerbungsgespräch um 9:00 Uhr unentschuldigt nicht antreten würde, obwohl das Gespräch nur noch reine Formalie war, so hatte man ihm gesagt, denn Pfleger würden immer überall gesucht.
Der große, aber freundlich aussehende Mann nahm ihm sein Handy ab, legte es in eine Plastiktüte, verschloss sie und versuchte Karim zu erklären, was passiert war und was als nächstes passieren würde.
Vorsichtig trat Ayla, noch immer im Pyjama, hinter Karim und hielt ihn am Arm. Sie verstand nicht genau, was gesagt wurde, wusste aber, dass es nichts Gutes war. Während der Dicke mit Karim redete und der Kleine ihre Wohnung inspizierte, schaute der dritte Mann sie nur seltsam an. Er hatte leere Augen, hatte genau wie Karim und Ayla dunkle Haare, und schien gedanklich abwesend zu sein.
Da nahm Karim sie an der Hand in ihr Schlafzimmer, setzte sich zu ihr, und während der Kleine an der Tür wartete und ihnen wachsam zusah, erklärte Karim ihr alles.
Natürlich hatte sie nicht wirklich verstanden, was genau passiert war, aber genug, um zu wissen, was sie tun sollte, dachte Karim stolz, als er sah wie selbstständig sie ihre Zahnbürsten, Handtücher und Waschzeug in ihre große Tasche packte.
Währenddessen packte er alles andere ein, versuchte nichts zu vergessen, an alles Wichtige zu denken. Hatten sie alle Papiere? Welche Kleidung sollten sie mitnehmen? Alles? Nein, die Männer hatten gesagt 20 Kilogramm pro Person. Was war mit Schuhen?
Beide hasteten unter der Aufsicht der Männer zwischen den wenigen Zimmern ihrer Wohnung hin und her. Sie stopften ihre Taschen voll mit allem, was was wichtig war und mit allem, was ihnen wichtig geworden war. Selbst der Teppich passte noch rein.
Die Männer zählten das Geld in Karims alten Portmonee, nahmen ihm den Wohnungsschlüssel ab und brachten sie die Treppe runter, wo man sie in einen Wagen steckte. Als man sie in das Auto setzte, blickte Karim ein letztes Mal auf ihre Wohnung, in der noch immer kein Licht brannte. Er hatte keine Zeit mehr gehabt seinen Freunden, die auch hier wohnten, Bescheid zu sagen. Was würden sie denken, wo sie waren? Würden sie wissen, was passiert war?
Dann wurden sie weggefahren.
Während der Fahrt schwiegen alle. Der Mann zwischen Ayla und Karim blickte noch immer benommen. Unsicher betrachtete Ayla die Waffe, die an seinem Gürtel befestigt war. Die beiden Männer vorne dagegen redeten miteinander und obwohl Ayla akustisch nicht verstehen konnte was gesagt wurde, hörte es sich freundlich und ausgelassen an. Für sie war heute ein Tag wie jeder andere, dachte Ayla. Sie machten Späße, unterhielten sich, lachten, arbeiteten.
Karim aber blickte jetzt ähnlich wie der stille Mann neben Ayla. Noch nie hatte sie ihn so besorgt gesehen wie jetzt. Selbst als er ihr vorhin erklärt hatte, dass sie packen sollten, weil sie die Wohnung verlassen müssten, hatte er nicht so ausgesehen. Da war sein Blick eher streng gewesen. Erst als er ihr erzählt hatte, dass man sie mitnehmen und wegbringen würde, hatte Ayla gemeint Sorgen und vielleicht auch etwas Wut in ihm zu sehen.
Sie hatte zwar nicht alles verstanden, was er erzählt hatte, machte sich aber trotzdem auch Sorgen. Sie wusste nicht wohin sie fuhren und was dort mit ihnen passieren würde. Alles, was sie wusste war, dass man sie hier nicht mehr haben wollte. Wer sie nicht wollte oder warum, hatte er nicht gesagt. Waren es nur die Männer, die sie geweckt und mitgenommen hatten oder noch mehr? Waren es die Passanten auf der Straße? Oder war es der Mann gewesen, der angerufen worden war um mitzuteilen, das alles nach Plan lief?
Als sie ankamen, wurden sie zu einer langen Sitzreihe in einer großen Halle gebracht. Die Menschen die dort warteten, hatte alle denselben müden und besorgten Blick. Karim sah niemanden, der nicht schwarze Haare oder ein Kopftuch trug. Sie alle warteten.
Weiter vorne sah er Männer mit Handschellen. War es weil sie ein Vorstrafenregister hatten oder aus Sorge, dass sie sich selbst verletzen könnten um dem Flug zu entgehen?
Karim setzte sich dicht an Ayla und drückte sie fest. Sie hatte keine Ahnung was passieren würde.
Sie wusste nicht von der kommenden Gefahr. Vielleicht, dachte Karim, würden sie ja Glück haben und allen Schrecken irgendwie entgehen. Vielleicht würden sie tatsächlich irgendwann wieder in Frieden und Sicherheit leben. Vielleicht.
Klar war im Moment aber nur, dass sie in wenigen Minuten durch die Passkontrolle begleitet würden, ins Flugzeug gebracht, hingesetzt, angeschnallt und weggeflogen würden. Angekommen würde er sein Handy wiederbekommen, seine Sicherheit und seinen Frieden aber nicht, denn während die deutschen Beamten von der Bundespolizei zurück zu ihren Familien fliegen würden, erzählen würden, wie das Wetter in Kabul gewesen war, von den einheimischen Obst- und Gemüsesorten, würden Karim und Ayla mit ihren Koffern in der Hitze stehen und nicht wissen wohin, was nun, warum.