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Unschärfe

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13.01.2005
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Unschärfe

Der Wecker klingelte mich aus einem unruhigen Schlaf. Meine Frau drehte sich zu mir um und kuschelte sich in meinen Arm. „Bleib noch ein bisschen im Bett!“, sagte sie verträumt. Da war sie schon wieder eingeschlafen. Ich löste mich von ihr, strich meine Finger durch ihre Haare. Ich erschrak. Meine Hand war verschwommen. Ein Aquarell umwunden von feinsten Pinselstrichen. Nervös wischte ich mir den Schlaf aus den Augen und geriet in Panik. Auch die andere Hand zeigte unscharfe Konturen. Ich rannte ins Badezimmer, schaute in den Spiegel und schrie. Mein Gesicht! Ich riss das Oberteil des Schlafanzugs über den Kopf. Meine Atmung wurde schneller. Die Hose. Hilfe! „Was ist passiert?“ Meine Frau stand mit besorgter Miene in der Tür. „Warum hast du geschrieen!“ Ich zitterte. Ich spürte ihren Blick auf meinem Körper. „Jetzt sag doch schon! Ich habe dich noch nie so verängstigt gesehen.“ Sie legte ihre Hände um mich.
Ich renne davon. Ich stolpere über eine Wurzel und schürfe mir das Handgelenk auf. Der Boden ist trocken und kühl. Ich bleibe einen Moment liegen, spüre wie mein Herz gegen die Erde stößt. Wie ist das geschehen? Was ist geschehen? Meine Beine sind taub. Ich versuche mich aufzurichten, aber es gelingt mir nicht. Ich greife nach einem Ast und ziehe mich daran hoch. Ich drücke mich gegen den Baum und umklammere ihn. Gib mir Halt!
Meine Beine wackelten. Mein Körper lag schlaff in den Händen meiner Frau. In ihren Augen erblickte ich Angst. „Was ist nur los mit dir? Bitte, sag doch endlich was! Soll ich einen Arzt rufen?“
Ich schaue an mir herunter, angewidert. Ich stoße mich von dem Baum ab und renne weiter.
Ich musste hier raus. Ich lief ins Schlafzimmer zurück und zog mir hastig meine Hose und einen Pullover an. Meine Frau fing an zu weinen. „Was machst du da?“ Ich stürmte an ihr vorbei und aus der Wohnung. Sie schrie mir hinterher.
Ich erreiche die Straße. Dunkelheit ist eingekehrt. Ich laufe weiter. Ich merke es nicht mehr.
Die Straße war nass. Meine nackten Füße schienen in den Pfützen zu zerfließen. Ich rannte. Ich floh.
Ich öffne die Wohnungstür. Bis auf eine kleine Lampe im Flur ist alles dunkel.
Ich sah die Bäume kaum.
Ich gehe ins Badezimmer, nehme die Schlaftabletten aus dem Wandschrank.
Ich stoppte.
Ich schlucke eine Tablette mit Leitungswasser herunter.
Ich weinte.
Ich stecke die Tabletten in meine Hosentasche.
Ich legte mich neben sie.
Ich lege mich neben meine Frau.
Ich griff in meine Hosentasche.
Ich schlafe ein.

 

Hallo Pico,

das ist eine interessante Idee, ploetzlich ein Aquarell zu sein. Aber da haette man sehr viel mehr draus machen koennen. Wenn ploetzlich alles zweidimensional ist und man nur nach oben, aber nicht mehr nach vorne laufen kann zum Beispiel. Oder wenn man mit den fusseligen Haenden gar nichts greifen und den anatomisch vermurksten Fuessen nicht richtig gehen kann. Hach, unendliche Moeglichkeiten. Ich glaub ich werde Dir diese Idee einfach klauen :)

Zu deiner Geschichte kann ich noch sagen, dass mich die Zeitspruege verwirren und dass ich es schade finde, dass es hier offenbar eher um was psychotisches als um eine an sich seltsame Welt geht. Da bietet die Rubrik doch ganz andere Moeglichkeiten.

lg
fiz

 

Hallo feirefiz,

danke für die schnelle Antwort. Es stimmt, dass die Geschichte nicht so recht in die Rubrik "Seltsam" passt, aber ich wusste nicht, wo ich sie sonst hinpacken soll. "Sonstige" war mir zu langweilig ;)

Gruß,
Pico

 
Zuletzt bearbeitet:

Mir hat das Stimmungsbild der Geschichte gut gefallen. Welches Ziel verfolgst Du mit dem kontinuierlichen Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit?

 

Hallo Findur,

danke für deinen Komentar!

Welches Ziel verfolgst Du mit dem kontinuierlichen Wechsel aus Gegenwart und Vergangenheit?
Wahrscheinlich hast du selbst bemerkt, dass zwei Handlungsstränge nebeneinander erzählt werden, die nicht gleichzeitig ablaufen (auch die Bewegungsrichtung der Person ist übrigens genau entgegen gesetzt). Schon allein deswegen macht es Sinn, zwei verschiedene Tempora zu wählen, um sie für den Leser deutlicher voneinander abzugrenzen.
Das ist aber nicht alles. Die Haupthandlung erzählt der Ich-Erzahler im Präteritum. In diesen Momenten durchlebt er Dinge ein zweites Mal, dargestellt im Präsens.
Diese paradox erscheinende Wahl der Tempora (die Geschehnisse der "Präsens-Geschichte" liegen vor denen der "Präteritum-Geschichte") verleiht besonders dem Ende der Geschichte eine gewisse Würze, da der angedeutete Selbstmord des Ich-Erzählers die Beschreibung dessen Erlebnisse in der Vergangenheitsform im Grunde ad absurdum führt...

 

Hallo Pico,

Wahrscheinlich hast du selbst bemerkt, dass zwei Handlungsstränge nebeneinander erzählt werden, die nicht gleichzeitig ablaufen

Mir waren Sprünge in der Geschichte bewusst, aber ganz so klar war mir die Zuordnung zwischen Handlungsstrang und Zeit beim ersten Lesen nicht.

Natürlich macht dieser Wechsel das Lesen und Verstehen der Geschichte nicht einfacher. Aber warum soll auch alles immer einfach sein?

 

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