- Anmerkungen zum Text
Ich bin 16 Jahre alt.
Unsichtbar
Von einer lebenslustig Lauten, zu einer vorsichtig Leisen. Von einer offenen, fröhlichen Persönlichkeit zu einem verschlossenen, einsamen Kokon. Vom selbstbewussten Mädchen zu einer fremden, versteckten Person. So wird die Corona-Pandemie von einem Alptraum zu einem Geschenk. Jemand, der es einst schätzte im Mittelpunkt zu stehen, nun jemand, der den Mittelpunkt hasst.
Von Einer, die das Leben lebte und liebte, zu Einer, die das Leben scheut. Aus dem Einklang mit sich selbst heraus. Von Zufriedenheit zum Unwohlsein im eigenen Körper. In ständiger Angst, dass Narben bleiben, äußerlich als auch innerlich. In ständiger Angst, die zu werden, die sie in der Vergangenheit war und zutiefst hoffte, hinter sich zu lassen.
Ein Mädchen, das immer wusste, dass Aussehen nicht alles ist, nein, gar nebensächlich, traut sich dennoch nicht hinaus aufgrund ihres Äußeren. Jeden Abend weint sie sich zum rastlosen Schlaf. Jede Nacht geweckt von Feuer und Unruhe. Jeden Tag gestört von denselben Faktoren.
Jede Berührung schmerzhaft, jedes Gefühl grausam, jeder Blick vernichtend. Innerlich tausend Hilferufe, nach außen nur ein einziges Schweigen.
Kein kurzer Blick, kein kurzes Gespräch reicht mehr aus, es muss ein Blick hinter das Äußere, hinter die kalte Fassade, zu dem Menschen, der früher auch außerhalb schlummerte, her.
Der Gang leise – bloß keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Den Kopf gesenkt – Nacken ganz krumm. Den Blick nach unten gerichtet – von der Kapuze verhüllt. Die Maske auf – obwohl sie nicht gefordert ist. Das alte Leben hat sie im Stich gelassen, das neue keinen Kampf wert.
Der erste Tag an dieser Schule, sollte ihrer Meinung nach auch der letzte sein. Aber nicht gerne erinnerte sie sich an die alte zurück, an die Vertrauensbrüche, an die Demütigung, an das Elend. Ein „Neuanfang“ soll es sein, doch sie will so keinen Neuanfang, sie will, dass es vorbei ist.
Im Unterricht ganz nach vorne gesetzt, darauf geachtet, dass keiner neben ihr Platz nimmt. Die Lehrer, die ihr nun zu nah sind, haben ja die Pflicht, es sich zu verkneifen. Auf die Vorstellungsrunde gewollt verzichtet. Keine Meldung von ihr, kein Wort. Bei Aufforderung nur ein Schulterzucken, bei Blicken auf sie ein schnelles Ausweichen.
Pause! Schulhof! Der Gang leise – bloß keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Den Kopf gesenkt – Nacken ganz krumm. Den Blick nach unten gerichtet – von der Kapuze verhüllt. Die Maske auf – obwohl sie nicht gefordert ist. Die Leute starren sie an. Ältere, Jüngere, Gleichaltrige. Das Getuschel, welches sie erstaunt war nicht schon früher gehört zu haben, beginnt: „Wer ist das?“, „Hast du die Neue schon gesehen?“, „Was stimmt nicht mit ihr?“, „Die ist komisch!“, „Pfff...“. Nichts direkt an sie gerichtet. Alles hinter ihrem Rücken.
Sie beobachtet die Geschehnisse aus dem Augenwinkel heraus, unter ihrer Kapuze heimlich und kurz hervorluschernd: Mehrere Fußballspiele, einige klettern, andere unterhalten sich.
Aus dem Nichts fliegt ein Ball auf sie zu. Sie duckt sich gerade noch rechtzeitig – bloß die Kapuze festhalten! Sie erwartet eine Entschuldigung, doch hört nur Lacher. Der Drang, zu den Schuldigen zu stampfen und ihnen eine klare Ansage zu überbringen, macht sich in ihr breit. Sie verdrängt ihn. Von der Seite hört sie ein weinendes Kind. Der Drang, zu diesem zu eilen und ihm zu helfen, macht sich in ihr breit. Sie verdrängt ihn.
Plötzlich nähert sich ihr jemand von hinten. Er zieht die Kapuze hinunter. In Lichtgeschwindigkeit hat sie diese aber wieder auf ihrem Kopf, ihr Gesicht verdeckend. Bloß hat dies die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Alle Blicke liegen nun auf ihr. Alle hören mit ihren Aktivitäten auf und gehen auf sie zu, von allen Seiten. Schritt für Schritt wird sie unruhiger. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten, um ihr Zittern nicht zu offenbaren. Nun ist sie umzingelt. Die Augen, die sie anstarren erfüllt von Belustigung und Stolz, einige sogar von Neugierde. Bevor jene ihr noch näher kommen können, nimmt sie langsam ihre Kapuze ab... und zieht dann ihre Maske ab... Sie dreht sich allmählich im Kreis, sodass sie nach und nach jedem Einzelnen direkt in die Augen starrt.