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Unter Dachschrägen
Beim Hochsteigen der Treppe zum Dachboden achtet er darauf, dass die Holzbretter nicht knarzen. Sie haben den Raum ausgebaut, direkt nachdem sie das Haus gekauft hatten, haben die heugrüne Steinwolle zwischen den Dachbalken unter weiß gestrichenen Rigipsplatten versteckt und einen Laminatboden verlegt, der Eschenholz imitiert. Sie wollten den Raum größer machen und ihm die bedrückende Enge nehmen, für die Dachschrägen trotz ihrem Charme doch letztlich immer sorgen. Unter einem der beiden Fenster steht sein Schreibtisch. Er zieht behutsam den Kunstledersessel zurück, wieder darauf achtend, dass er keine lauten Geräusche verursacht. Ihr Schlafzimmer liegt direkt unter dem Dachboden und noch schlafen beide Kinder bei ihnen im Bett, die Kleine sowieso, aber auch der Junge. Sie wissen, es ist längst Zeit, ihn ans Alleineschlafen zu gewöhnen, doch momentan haben sie nicht die Kraft dafür. Das allabendliche Theater beim Zähneputzen und das sich ewig hinziehende Vorlesen der immer gleichen Bücher sind anstrengend genug. Er lässt sich in den Sessel sinken. Auch wenn er mittwochs und freitags von zu Hause arbeitet, sitzt er hier. Zur Not ist er schnell unten, um seiner Frau mal eben zur Hand zu gehen, aber bei wichtigen Anrufen und anderen Aufgaben, die Konzentration erfordern, kann er die Tür am Ende der Treppe schließen. Vor allem nachmittags, wenn sein Sohn seinem enormen Spieltrieb nachgeht, ist es wichtig, für Ruhe sorgen zu können. Setzt er sich so wie jetzt in der Nacht an den Schreibtisch, lässt er die Tür offen. Er wird keinen Lärm machen und er will wissen, wenn jemand die Treppe hinaufsteigt. Der Computer ist noch an. Er fährt ihn nie herunter; das ist bei diesem Modell nicht mehr notwendig. All die Programme und das weltweite Netz, sie sind so immer direkt verfügbar. Er bewegt einmal die Maus und der Desktophintergrund erscheint, ein Foto von ihm mit seiner Familie. Sie stehen in Badekleidung auf einem Steg und lächeln in die Kamera. Seine Schwiegermutter hat das Foto im vergangenen Sommer an der Ostsee gemacht, wo sie gut zwei Wochen in einem Bungalow in einem Campingdorf verbrachten. Zuerst war er dagegen gewesen, mit seiner Schwiegermutter und ihrem Lebensgefährten in den Urlaub zu fahren, aber dann hatte ihn seine Frau von den Vorteilen überzeugt. Und tatsächlich, in den Stunden ohne die Kinder hatten sie so zueinander gefunden, wie es im Alltag schon lange nicht mehr vorkam. Sie waren am Strand spazieren gegangen, hatten Cafés besucht und einmal schliefen sie miteinander. Es passierte ganz natürlich, als sie sich im Bad für das Abendessen fertig machten. Er war aus der Dusche gestiegen, sie stand noch unbekleidet vor dem Spiegel, zwei nackte Menschen, die plötzlich Lust aufeinander bekamen. Zuerst öffnet er das Bildbearbeitungsprogramm. Er wählt das Format aus und erzeugt eine weiße Leinwand. Danach wechselt er zum Browser. In der Suchmaschine sucht er nach einem passenden Bild für seine Zwecke. Es dauert eine Weile, bis er eines findet. Der Hautton ist perfekt, aber ihre Figur passt nicht ganz. Die Brüste sind zu groß, da ist er sich sicher; und die Oberschenkelinnenseiten sind auch zu ausgefüllt, meint er. Ganz sicher ist er sich in diesem Punkt nicht; es ist mittlerweile einfach zu lange her. Er speichert das Bild in einem tief im Wurzelsystem seines Systems verborgenen Unterordner ab und importiert es dann in das Bildbearbeitungsprogramm. Es ist der langsame Aufbau, der ihn am meisten erregt. Die Frau posiert in einem Raum mit wenig Einrichtung, was es ihm leicht macht, sie auszuschneiden. Das Programm erledigt dieses früher so zeitraubende Manöver praktisch von selbst; er muss nur wenige Körperpartien von Hand nachglätten. Der Part, bei dem das automatische Werkzeug die meisten Probleme hat, kommt ja ohnehin weg. Er schneidet den Kopf bündig ab, sodass der Hals mit einer konkaven Aussparung endet. Genau über dieser Aussparung postiert er den neuen Kopf. Er liegt bereits vorbereitet im Vorlagenordner ab. Dort hat er mittlerweile ein halbes Dutzend Varianten griffbereit, von denen er je nach Foto und Körperhaltung die am besten passende auswählt. Er freut sich, dass er nicht lange schieben und angleichen muss, bis sie als ganzer Menschen vor ihm steht – nackt und mit leicht geöffneten Schenkeln, die den Blick auf ihre blank rasierte Vulva freigeben. Er hatte sich immer gewünscht, dass sie sich rasiert, aber sie hatte das nie gewollt. Aber was sie wollte, spielt jetzt keine Rolle mehr. Er kann mit ihr machen, was er will. Er verbindet die beiden Teile auch im Programm zu einem Wesen, indem er auf das Symbol mit den beiden Kettengliedern drückt. Er denkt zurück an damals, daran, wo sie zusammen waren und was sie alles zusammen gemacht haben. Die Auswahl scheint ihm endlos, immerhin waren es gut drei Jahre. Er schließt eine Festplatte an und geht durch alte Fotoordner. Australien, Griechenland, Lissabon – wohin soll er noch einmal mit ihr reisen? Am Ende entscheidet er sich für ein Foto von seinem alten Zimmer. Er hat es am letzten Abend dort aufgenommen; am nächsten Tag ist er mit seiner jetzigen Frau zusammengezogen. Er zieht die Figur auf das Foto und rückt sie in die Zimmermitte. So ungefähr hat sie wirklich einmal dagestanden, fällt ihm jetzt ein – es hätte ein Foto aus ihrer ersten Nacht sein können.