Mitglied
- Beitritt
- 27.03.2009
- Beiträge
- 1
Unter dem Birnbaum
Sie hatte die Augen fest geschlossen und sog beim Einatmen die würzige Sommerluft mit ihrem Geruch nach Gras, Blumen und Kräutern tief in ihre Lungen ein. Das Summen von Bienen und Hummeln drang in ihr Ohr wie auch das Zirpen der Heuschrecken, während der Wind über ihre Haut strich, ihre Haare bewegte und den Duft eines Holzfeuers vorbei ziehen ließ. Mit einer Hand verscheuchte sie die lästige Fliege, die sich immer wieder auf ihrer Nase niederließ und sie überlegt, wie viele Tage es wohl noch dauern möge, bis die Birnen reif sind. Noch waren sie grün und hart, bald aber würden sie einen gelblichen Sonnenton bekommen und weich, saftig und süß wie das pralle Leben sein. Als die Sehnsucht nach den Birnen so heftig wurde, dass es ihr den Atem nahm, wandte sie ihre Gedanken dem Birnenmus mit Thymian und Honig zu, den sie im Herbst zubereiten würde.
Das grelle Licht des Krankenhausflurs, durch den ihr Bett jetzt gerollt wurde, riss sie derb aus ihrem Garten heraus und statt des Geruchs von frischem Birnenmus drang der von Desinfektionsmitteln und Tod und Angst auf sie ein. Als die Schwester nach ihrer Hand griff, um ihr noch einmal zu versichern, dass ihrer Überlebenschancen nach der OP gar nicht so übel seien, entzog sie ihr die Hand, scheuchte schon wieder die Fliege von ihrer Nase und wandte ihr Gesicht der Abendsonne zu, die nun schräg unter ihren geliebten Birnbaum schien...