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Unter der Weide
Unter der Weide
Gott. Welcher Gott? Er kannte keinen Gott mehr. Er wollte an niemanden glauben, göttlich oder nicht, der so unbarmherzig und herzlos ein Menschenleben fordern konnte. Niemandem wollte er sein Leben anvertrauen, der die Menschheit so behandelte. Der seine Frau so behandelte. Der sie einfach aus ihrer gewohnten Welt riss und dem Tod überließ. Früher hatte er geglaubt, niemand, der auch nur den Ansatz von Gefühlen zeigen konnte, würde einen Menschen einfach so sterben lassen. Doch Gott, er war eine Ausnahme. Gott konnte handeln wie es ihm beliebte. Und gerade darum hatte er seinen Glauben an Gott verloren.
Er saß an seinem See. Hierher zog er sich zurück, seit er denken konnte. Dies war der Ort, der alles Schlechte der Welt verblassen ließ. Seit dem Tod seiner Frau gab ihm der See mehr als das Gefühl engster Vertrautheit, die er nicht in Worte fassen konnte. Er gab ihm das Gefühl, verstanden zu werden. Er gab ihm die Gelegenheit, seine Gedanken endlos weiter zu spinnen, ohne sich noch um die Wirklichkeit zu kümmern. Warum auch? Er war allein, mehr gab es nicht, das des Wissens wert war.
Die alte Weide hinter ihm strahlte ebenfalls die Gelassenheit aus, die er zurzeit nicht erlangen konnte. Er liebte diese Weide wie nichts auf der Welt – seit seine Frau fort war.
Doch heute war etwas anders. Er hatte die Ahnung, dass heute, und nur heute, etwas geschehen würde, das seine Weltanschauung erheblich ins Wanken brächte.
Und sein Gefühl täuschte ihn nicht, denn eine Stimme ließ ihn aus seinen Gedanken auffahren. Nein, es war nicht Gott, der ihm seinen alten Glauben aufzwingen wollte. Es war seine Frau.
„Mein Gemahl“, hörte er sie flüstern. „Der Tod ist so kalt. Er ist so einsam. Kehre zu mir zurück, mein Gemahl, und wärme mein Herz.“
Er erschauderte, aber er dachte nicht einmal an eine Sinnestäuschung. Und wenn es eine gewesen wäre, hätte es nichts an der Tatsache geändert, dass sein sehnlichster Wunsch dieser war, ihr zu folgen. Weder wollte er sein Dasein in dieser Welt einsam fristen, noch wollte er seine Frau in der anderen zurücklassen.
„Wie kann ich dir folgen, meine Geliebte?“, fragte er also, während er sich suchend umwandte, in der Hoffnung, einen Geist oder ähnliches zu erblicken. Was hätte er dafür gegeben, um seine Frau noch einmal zu sehen. Doch dort war kein Geist.
„Lass mich nicht in meinen eigenen Tränen ertrinken, mein Gemahl. Finde den Weg zu mir. Vertraue auf dein Gefühl. Und vertraue mir.“
Langsam und bebend wandte er sich der Weide zu. In diesem Augeblick schien sie die Lösung aller Rätsel zu sein. Er sah ihr Gesicht.
Vorsichtig ging er auf die Weide zu. Seine Zweifel überwiegten, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nun, da er seinen Weg ihr zu folgen scheinbar gefunden hatte, kannte er kein Zögern mehr. Entschlossen legte er die flache Hand auf die Rinde der Trauerweide.
Und es begann.
Zwischen Angst und Faszination beobachtete er die Veränderungen an sich. Sein Körper verwandelte sich in raue, unebene Rinde. Aus seinen Füßen keimten Wurzeln, die sich kurz darauf einen weiten Weg in die Erde bahnten, sich verflochten und ihr Ausgangspunkt unterging. Sein Haar ergrünte und wuchs, bis es den Boden berührte und den hängenden Zweigen der Trauerweide neben ihm gleichkam.
Er wurde ein Baum.
Beinahe im selben Augenblick wurden an zwei verschiedenen Orten der Welt zwei Kinder geboren. Es war nicht ihr erster Besuch auf dieser Welt, doch davon wussten sie nichts.
Irgendwann in ihrer Zukunft würden sie sich kennen und lieben lernen. Wie im vergangenen Leben.