Unter mir mein Kopf
Ich mag diesen Raum. Er besteht zu einer guten Mischung aus altem und neuem.
„Willst Du nicht nachlegen?“ frage ich den Gastgeber und deute auf das herunter gebrannte Feuer im Kamin.
„Nein“, erwidert er mir, „ich denke ich werde bald ins Bett gehen. Und ich bekomme ein ungutes Gefühl, wenn das Feuer dann noch brennt.“ Das verstehe ich.
Der Raum ist nicht groß, aber die Wände sind hoch. Die alten schweren Möbel passen nur allzu gut dazu. Während die Wand mit dem Fenster hinter mir und die Seitenwände in warmen Farben tapeziert sind, ist die Stirnseite mit dem prächtigen Kamin aus rauem Stein. Aus altem grauen Stein, der über dem Kamin schon fast schwarz ist. Vor der Wand kreuzt ein Schwert einen Degen. Blank poliert bildet das glänzende Metall einen wunderschönen Kontrast zu dem schmutzigen Hintergrund. In der Ecke steht eine Vitrine aus Glas und Stahl. Sie enthält Teller und Tassen. Alle ordentlich präsentiert.
Ich drehe mich um und sehe aus dem Fenster, „Es ist fast komplett dunkel. Ich werde lieber nach Hause gehen.“
„Nicht bevor Du nicht wettest.“ Mit verstohlenem Blick sieht mich mein Gegenüber an. Er grinst. Dieser Blick sagt mir, dass ich mit seinem Kommentar hätte rechnen müssen.
„Warum sollte ich wetten, wenn ich doch weiß, dass ich Recht habe?“ entgegne ich ihm mit besserwisserischer Mine. Ich rücke ein wenig nach hinten, schlage ein Bein über das andere und lege meine Arme auf die großen Seitenlehnen des Sessels.
„Du solltest wetten“, sagt er ernst. „Wette damit sich Dein Wissen als wertvoll erweist. Wette um mir zu beweisen, dass ich im Unrecht bin!“ Er wirkt so ernst, dass ich fast lachen muss. Schnell wische ich mir mit dem Handrücken über das Gesicht um mein Grinsen zu verbergen. Er sieht mich fragend an. „Möchtest Du…“, beginnt er zögerlich, fast schüchtern, „Möchtest Du den Einsatz bestimmen?“
„Ich sagte doch, dass ich nicht…“ Ich bemerke, wie seine Hand leicht zittert als er sie an sein Kinn führt um es zu stützen, „…dass ich nicht wetten möchte. Hab ich doch“, fahre ich fort, „oder nicht?!“ Gerade bin ich mir selbst nicht mehr so sicher, was ich genau gesagt habe. Zu sehr bin ich durch seinen Anblick abgelenkt. Sein Brustkorb bebt irgendwie, seine Hände zittern und seine Augen haben so etwas…
„Um die Ehre“, sagt er, schreit es fast, „wir wetten nur um die Ehre.“ Er sieht mich an, sieht wieder weg. Was ist denn nur plötzlich los? Langsam macht er mir Angst. Soll ich ihm das sagen? Lieber nicht. Früher einmal waren wir wirklich gute Freunde, fast wie Brüder, aber unsere Freundschaft hat sich verändert. Als Kinder gab es nur Cowboy und Indianer, keine Gewinner und Verlierer. Das änderte sich mit der Zeit. Sport ersetzte Spiel und die Wichtigkeit des Wissens ersetzte den Witz mancher Situation.
„Seit wann“, frage ich ihn, „wettest Du um die Ehre?“
„Warum denn nicht? Es muss nicht immer um Geld gehen.“ Wie kalt er auf einmal mit mir redet. Stille nimmt den Raum ein, beansprucht ihn für sich als das Knistern des Feuers ausbleibt. Nur er durchbricht sie, saugt die warme Luft ruckartig durch seine Nasenlöcher und zieht seine Schultern bei jedem Atemzug leicht nach oben. Ich hätte schon vor Stunden gehen sollen. Zum Tee war ich hier. Warum bin ich nur so lange geblieben? Ist er etwa sauer, weil ich seiner Behauptung widersprochen habe? Er glaubte doch wohl nicht im Ernst, dass ich ihm da zustimmte. Ist er deshalb sauer?
Er wurde früher schon sauer wenn wir Fußball spielten. Es wurden Mannschaften gewählt und er stand immer als letzter noch da. Er war dick, niemand wollte ihn in seinem Team.
Er sieht mich an, öffnet seinen Mund und, „Du… Du hast Angst zu verlieren.“
„Nein“, sage ich, „wieso sollte ich Angst haben?“ Vielleicht habe ich sogar Angst, aber nicht davor zu verlieren. Während ich ihn ansehe baut sich in mir das Verlangen auf hier raus zu kommen. „Reden wir von der selben Wette?“ will ich von ihm wissen.
„Ja“, er sieht mich entgeistert an, „Wir haben doch den halben Abend von nichts anderem gesprochen. Du hast das kleine Schiff in der Flasche gesehen und dann von Deinen Seeräubergeschichten angefangen. Jetzt musst Du auch wetten.“ Richtig, denke ich, das Flaschenschiff. An der Kaminwand hängt ein kleines Glasregal, das ein Flaschenschiff trägt. Da habe ich angefangen zu erzählen. Die Geschichte von den ausgeraubten Kaufleuten, von dem Mann, der das getan hatte und dafür mit dem Tode bestraft wurde. Die kam von mir. Ich denke nach über das, was ich bislang erzählt hatte, versinke langsam in meinen Worten und versuche den letzten Hall ihres Klanges in meinem Kopf einzufangen. Als ich aufsehe steht er plötzlich vor mir. Ich erschrecke und zittere nun selbst. „Ich gehe“, sage ich, stehe auf und reiche ihm meine Hand. Er greift sie schnell und kräftig. Mit der anderen nimmt er mich bei der Schulter und drückt mich wieder in den Sessel. „Noch nicht“, sagt er, „Erst bestimmen wir den Wetteinsatz.“
„Um die Ehre“, ich spüre wie seine Hand stärker zittert als er im Griff nachlässt, „das hattest Du doch schon gesagt. Wir wetten um die Ehre.“ Scheiße, denke ich, ich will einfach nur hier raus.
Einmal ist er durchgedreht. Das war in der achten Klasse. Er hatte schlechte Noten, die schlechtesten. Ich hingegen war richtig gut, einer der Besten, obwohl ich nie etwas dafür tat. Als wir dann unsere Mathearbeiten wiederbekamen und er seine Fünf neben meinem Einser liegen sah ist er durchgedreht. Einfach so, hat zuerst die Arbeiten zerrissen, mich dann vom Stuhl geschmissen und ist laut schreiend aus dem Raum gerannt. Einer unserer Freunde wollte ihn zurückhalten. Da hat er ihn so geschlagen, dass seine Nase gebrochen war.
Er sieht mich an. Mit starrem Blick sieht er mich an. „Natürlich tun wir das“, sagt er, „Wir wetten um die Ehre.“
Nun bin ich schnell. Ich springe auf, greife seine Hand, schüttel sie kurz und kräftig und dränge mich an ihm vorbei, „Ich muss echt los. Es ist fast dunkel, ich seh schon gar nichts mehr draußen. Die scheiß Laternen gehen doch auch nicht richtig…“
Er sieht mich einfach nur an, sagt gar nichts. Er steckt seine Hände in die Taschen und steht ganz ruhig da. Dann grinst er, „Die Wette gilt also…“, überlegt er laut.
„Ja“, erwidere ich, „die Wette gilt. Und wir wetten um die Ehre.“ Hastig schmeiße ich mir meine Jacke über und dränge meine Arme in die Ärmel. Als ich den Türgriff schon halb gedrückt habe drehe ich mich noch einmal um, weil es mich nun doch interessiert. „Hast Du Dir eigentlich schon überlegt“, frage ich, „wie wir herausfinden wollen, was richtig ist? Willst Du jemanden fragen? Wer weiß denn so was?“
Er sieht mich an, wirkt wieder komplett ruhig. Was war denn nur mit ihm? „Ja“, sagt er, „ich weiß schon, wen ich fragen werde.“
Gut, denke ich mir. Ich öffne die Tür, verabschiede mich und gehe.
Hier draußen ist es echt schon dunkel. Das mit den Laternen war kein Witz, die meisten funktionieren wirklich nicht. Es ist ziemlich kalt.
Ich stecke meine Hände in die Taschen und laufe los. Verdammt, denke ich mir, was war denn heute abend nur los mit ihm? Erst war alles ganz normal und dann wurde er auf einmal so seltsam. Gerade als wir…
War da was? Ich bleibe kurz stehen und lausche. Nichts. Ich gehe und denke weiter. Gerade als wir es von der Wette hatten. Wieso hat er da so drauf bestanden, dass wir…
Aber jetzt. Wieder bleibe ich stehen.
OK, denke ich mir, es ist dunkel und kalt. Klar, dass es da keinen Spaß macht spazieren zu gehen. Aber das ist doch lächerlich. Ich verhalte mich wie ein kleines Kind. Gleich drehe ich mich noch um, um zu gucken, ob da auch wirklich nichts ist. Und im nächsten Schritt erwische ich mich dann schon dabei, wie ich leise singend nach Hause laufe um mir die Angst zu nehmen. Ich gehe einfach weiter.
Wieso nur war diese Wette so wichtig für ihn?
Oh Gott, war das laut. Mir bleibt für einen Moment das Herz stehen. Dann merke ich, dass ich nur auf einen kleinen Ast getreten war, der unter mir zerbrochen ist. Ich atme tief durch und laufe weiter. Ich grabe meine Hände etwas tiefer in die Taschen und werde etwas schneller, „Scheiße, ist das kalt“, sage ich zu mir selbst, „und die Laternen gehen auch nicht richtig.“
Plötzlich spüre ich einen kräftigen Schlag in den Nacken. Mir bleibt die Luft weg und ich stürze mit dem Kopf nach vorne. Der Versuch nach Luft zu ringen ist nichts weiter als das Bewegen meiner Lippen. Ich schlucke schwer und irgendwie doch nicht. Eine Ewigkeit. Dann schlage ich mit dem Kopf auf den Boden. Erst mit der Stirn, dann dreht sich alles. Ich spüre den Asphalt am Hinterkopf und blicke nach oben. Gerade sehe ich wie mein Körper zusammensackt und mit dem Oberkörper auf mich zu stürzt. Er schlägt auf. Unter meinem Körper mein Kopf. Die Zeit fließt zäh wie Sirup. Plötzlich meine Ohren. Es hört sich an, als drängten sich alle Geräusche des Falls zugleich hinein. Einen letzten Herzschlag vernehme ich. Dann Stille.
„Sag’s mir“, schreit er und wuchtet meinen Körper zur Seite. Mit dumpfem Laut fällt er neben meinen Kopf, „jetzt sag schon!“ Er wirkt hektisch in meiner langsam verlaufenden Welt. Er greift meinen Kopf bei den Haaren und sieht mich an. Als mein Blick an ihm hinunter fällt, sehe ich den rot verschmierten Stahl in seiner Hand. „Sag’s mir“, schreit er mich an, fast verzweifelnd, „sag mir ob ich recht hatte. Lebt man wenigstens noch Sekunden weiter? Konnte Störtebecker seine Schritte gehen bevor der letzte Sauerstoff in seinem Blut verbraucht war? Hatte ich recht?“ schreit er verzweifelt.
Ja, denke ich während die Sicht trüber wird. Du hattest Recht. Dieses eine Mal hattest Du Recht. Bevor die Schwäche mein Haupt einnimmt will ich die Worte formen, öffne meinen Mund zum ‚Ja’, doch leicht geöffnet bleiben meine Lippen stehen.