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Vakuum

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12.04.2006
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Vakuum

Meine Schwester schrieb emails aus San José, es drehte sich alles um Nationalparks und Manuel. Er ist wunderschön, schrieb sie. Er küsst so… Genau, wie ich mir einen Latino vorgestellt habe. Ich verlor das Bild, das ich von ihr gehabt hatte. Meine kleine Schwester. Ich sehe sie immer noch vor dem Spiegel stehen, das Gesicht von Ekel verzogen, ein guter Tag ist ein Tag, an dem man sich nicht ansehen muss. Ihre Zimmertür blieb von da an geschlossen, sie schien immer weniger zu werden, wenn sie mit uns am Mittagstisch sass, bestand nur noch aus Ringen unter den Augen. Sie hörte fast ganz auf zu sprechen. Ich schenkte ihr eine CD von den Cranberries, „Zombie“, es war als Scherz gedacht gewesen, aber das Lied hörten wir ständig durch die Tür, meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, „Teufelsmusik“ nannte sie es, was mich nicht weiter überraschte, meine Mutter neigt zu Dramatik.
Nach der Matura verliess sie uns, sie hatte all ihre Energie aufgewendet, um eine Gastfamilie in den Staaten zu finden, zwei Wochen vor ihrer Abreise kam die Absage, sie drohte damit, sich umzubringen. In einem seltenen Moment der Vertrautheit beichtete sie mir, dass das Leben hier für sie so erdrückend wäre, sie hätte Mühe zu atmen. Meine Mutter nahm Kontakt auf mit ihrer Cousine, die in San Francisco lebte, meine Schwester verliess uns also für ein Jahr, wir hörten wenig von ihr, manchmal kam ein dicker Umschlag mit Photos und tagebuchähnlichen Zusammenfassungen der letzten Zeit.
Zuhause blieb das Leben stehen. Ich verlor mich in der Monotonie der regelmässigen Erwerbstätigkeit, fünfmal die Woche stand ich um acht Uhr morgens in diesem Büro, tippte Briefe, nahm Anrufe entgegen, immer den Gedanken vor Augen, nur, solange ich weiss, was ich machen will. Ich beschloss, von zuhause auszuziehen, suchte mir eine kleine Wohnung in sicherer Entfernung von meinen Eltern. Wir telefonierten täglich, meiner Mutter fiel es schwer, allein zu sein in diesem grossen Haus, die Stille zwischen meinem Vater und ihr wurde jeden Tag ohrenbetäubender. Manchmal holte ich sie zu mir, wir kochten zusammen und schauten fern, sie fragte immer „Hast du etwas von deiner Schwester gehört?“, ich schüttelte den Kopf, ohne Bedauern. „Weißt du“, sagte sie dann, „ich habe immer geglaubt, du würdest diejenige sein, die weggeht. Aber jetzt bist du hier und lebst so erwachsen.“ Nur bis ich weiss, was ich machen will, dachte ich, nur solange.

Meine Schwester kehrte zurück, ich holte sie vom Flughafen ab, ihr Lachen war umwerfend. Zuhause wartete mein Vater, der sie kühl empfing, meine Mutter war nicht da, sie kam Minuten später, mit Einkaufstaschen beladen, sie blieb wie versteinert an der Tür stehen, betrachtete meine Schwester, die strahlend und braun gebrannt in der Küche sass, die nicht hierher zu gehören schien. Meine Mutter stellte die Einkäufe ab. Sie umarmten sich, innig, meine Mutter sagte „Geh nicht mehr weg.“
Zwei Wochen später zog meine Schwester nach Wien, sie schickte mir Ansichtskarten von Riesenrad und Stephansdom, sie lud mich zu sich ein, ich erzählte Lügen, um dem zu entgehen. Wenn sie nachhause kam, war sie immer ein bisschen anders, sie veränderte ihre Frisur, sie trug Make Up, Kleider, die ich nur aus Magazinen kannte. Sie sah gut aus. Die Treffen mit unseren Eltern verliefen gespannt, meine Schwester redete viel, erzählte von ihren Freunden, dem Studium. Sie engagierte sich in einem Verein zur Integration von ausländischen Kindern, mein Vater sagte Dinge wie verschwendete Zeit und Dinge wie Österreich soll Österreich bleiben, es kam immer zum Streit, meine Mutter redete nicht, sie verschränkte ihre weissen Finger, rieb die Handflächen aneinander, bis ich sagte „Wir haben noch was vor, danke für das Essen.“ Wir halfen nie beim Aufräumen.

Wir sassen auf dem kleinen Balkon meiner Wohnung, tranken Kaffee, sie rauchte und sagte, ohne mich anzusehen, ich weiss nicht, wie du es hier aushältst. Sie hatte mir ein Buch mitgebracht, ich blätterte kurz darin, las Sätze wie Wir dürfen uns nicht alles nehmen lassen. Als sie weg war, warf ich es in den Müll.
Ich hatte Kontakt mit Leuten aus der Volksschulzeit, Karin, die als Friseurin arbeitete, Sigrid, Mutter von zwei Kindern, Georg, der verliebt in mich schien. Manchmal besuchte ich ihn in dem Laden, der seinen Eltern gehörte, ich sass hinter dem Tresen und las, trank Kaffee, während er Kindern erklärte, welche Hefte sie für den Schulanfang brauchten, Füllfederhalter als Geschenk verpackte oder Bücher sortierte. Manchmal redeten wir, wenn es keine Kunden gab. Ich fragte ihn, was er sich am meisten wünsche, er sagte, eine Familie, eine Frau, die sich um mich sorgt, Kinder, wenigstens drei. Ich fragte, was ist mit der Welt, willst du nicht die Welt sehen? Sein Blick war verständnislos. Hier ist es so gut wie an jedem anderen Ort. Ich beobachtete ihn dabei, wie er mich beobachtete, über den Rand meines Buches, ohne, dass er es bemerkte. In Gedanken sagte ich meinen und seinen Namen, mein Name, wie er seiner wurde. Ich sah mich in der Küche stehen, Kinder um mich. Nur, bis ich weiss, was ich machen will. Später an diesem Tag schliefen wir miteinander, in meiner Wohnung, heftig und schnell, von da an täglich, ich kam aus dem Büro, er aus dem Geschäft, manchmal assen wir zusammen, redeten über unseren Tag, über den Ärger, auch über gute Momente, irgendwann zog er mich immer auf seinen Schoss, küsste mich, meinen Mund, meine Brüste, meinen Bauch, während ich mich bemühte, interessiert und erregt zu erscheinen. Ich erzählte meinen Eltern nichts davon, das war auch nicht nötig, solche Dinge sprachen sich schnell herum. Meine Mutter stellte Fragen über ihn, über unsere Pläne, ich sagte, es gibt keine Pläne, es ist nichts.
Georg zog bei mir ein, seine Liebe für Tierbilder und Matchboxautos bereitete mir schlaflose Stunden, bald war meine Wohnung unsere, ein Photo seiner Eltern stand im Schlafzimmer, eines in der Küche. Meine Schwester, die auf Besuch war, schaute mich lange an. War’s das jetzt, fragte sie. Ich bat sie, nicht mehr zu kommen. Sie setzte sich an den Tisch, klappte das Bild von Georgs Eltern nach unten. Ich will, dass du mitkommst, sagte sie, nach Costa Rica. Ich hab mit Papa geredet, er leiht dir das Geld. Nur ein paar Wochen, sag ja. Ich kann nicht, sagte ich, ich wusste selbst nicht wieso. Sie stand auf und nahm ihren Mantel, ich glaube, ich kenn dich gar nicht mehr. Was ist mit dir passiert? Ich schrie sie an, warf ihr Arroganz vor, Egoismus. Als sie gegangen war, legte ich mich ins Bett und weinte.
Georg war hilflos, jeden Abend nach der Arbeit kochte er für mich, sass neben mir und streichelte ungeschickt meine Stirn, die sehr heiss war. Er fragte, ob er den Arzt holen solle, ich wollte das nicht, es wird schon wieder, beruhigte ich ihn, ich fühle mich nur ein bisschen schwach.
Meine Mutter kam regelmässig und redete auf mich ein. Als alles nichts half, schickte sie meinen Vater. Er sass stumm am Bett, die Augen auf die Bettdecke gerichtet. Sehr lange sassen wir so da. Dann räusperte er sich, seine Stimme klang so, als hätte er sie seit Jahren nicht benutzt. Er sagte, deine Mutter hat das auch durchgemacht. Dann beugte er sich über mich und küsste mich auf die Stirn, ich konnte mich nicht mehr an seine letzte Berührung erinnern, das schien Jahre her zu sein. Als er gegangen war, stand ich auf, zog das Bett ab und liess mir ein Bad ein.

Mein Vater kam noch einmal zu mir, ich war gerade dabei, Georgs Tierbilder von den Wänden zu nehmen. Er setzte sich nicht, er drückte mir nur ein Kuvert in die Hand. Nachdem er weg war, öffnete ich es, es lagen wenige Bilder darin und ein Flugticket. Die Bilder zeigten meine Mutter, sie war sehr jung, sie lachte und schien glücklich zu sein. In ihrer Hand hielt sie ein Blatt Papier, man konnte nicht sehen, was darauf geschrieben stand, aber als ich das Bild umdrehte, las ich in ihrer unverkennbaren, sehr exakten Handschrift den Satz: Juni 1978 - Habe die Prüfung bestanden. Amerika, ich komme! Dann noch ein Bild, an das ich mich erinnern konnte – meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich vor goldrotem Hintergrund, der Photograph war hektisch gewesen und hatte uns alle nervös gemacht. Während ich mit meinem Mund voller Zahnlücken in die Kamera lächle, schaut meine Schwester trotzig zur Seite. Mein Vater steht stolz hinter uns, seine Arme um mich und meine Mutter gelegt. Der Blick meiner Mutter ist der, den ich kenne. Zahm und erschüttert.
Auf der Rückseite stand in einer Schrift, die ich als die meines Vaters erkannte: Es ist nicht zu spät. Ich begann, meinen Koffer zu packen.

 

Hej Lili,

herzlich willkommen auf kg.de! :anstoss:

Deine Geschichte hat mich sehr nachdenklich gestimmt und etwas unschlüssig zurückgelassen. Deine Sprache gefällt mir sehr gut, Du hast eine Art, einen ins Geschehen hineinzuziehen, die Melancholie der Protagonistin zu spüren, die Deine Geschichte sehr real, sehr lebendig macht.
Was ich mich beim Lesen hin und wieder gefragt habe: Um wen es hier eigentlich geht. Um die Protagonistin oder ihre Schwester? Die Protagonistin beschreibt anhand der Schwester ihr eigenes Leben, aber es wird nicht recht klar, ob sie Angst um die jüngere hat, oder eventuell neidisch auf sie ist.
Das Ende kommt überraschend, und auch da fehlen mir ein wenig die Zusammenhänge, aber die Konsequenz, die sie zieht, ist wiederum eine logische Folge aus dem Vorangegangenen und rundet den Text ab.

Alles in allem könntest Du hier und da noch etwas herausarbeiten, um was es Dir geht, ansonsten gefällt mir die Geschichte sehr gut.

Ach ja: Schau Dir bitte noch mal an, wann ß steht und wann ss, das ist Dir ziemlich durcheinander geraten. ;)

Liebe Grüße
chaosqueen

 

Liebe Chaosqueen,

ich danke Dir sehr für die Auseinandersetzung mit meinem Text. Du sprichst genau das an, was auch mich beschäftigt - ich bin mir selbst nicht ganz sicher, worauf ich hinauswill... Ich schreibe bereits ziemlich lange, allerdings habe ich mich bisher nur mit Lyrik beschäftigt. Das Schreiben von Prosa fordert mich sehr - es fällt mir unglaublich schwer, eine ganze Geschichte durchzukonstruieren, bin eher ein Gefühlsmensch beim Schreiben. Mein Einstieg auf dieser Page ermöglicht es mir vielleicht und hoffentlich, mehr Klarheit zu finden. Ich möchte gerne gute Geschichten schreiben.
Was mir sehr wichtig war in diesem Text: Die sehr gegensätzliche Entwicklung der Protagonistin und ihrer Schwester herauszustreichen. Die Schwester lebt ein Leben, welches die Protagonistin gerne leben würde, aber es fehlt ihr an Kraft, sie fühlt sich gelähmt, kann sich nicht verabschieden. Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle, obwohl ich hier selbst zugeben muss, dass ihr Part noch sehr unausgereift ist: Hier gibt es noch viel zu tun.
Was die ss - Schreibung betrifft - Du wirst lachen: Ich finde auf meiner Tastatur kein scharfes s! Seit Monaten! Ich mach mich jetzt auf die Suche!
Nochmals vielen Dank für Dein Feedback - ich hoff, wir hören uns wieder!
Frohe Ostern, Lili :D

 

Hej Lili,

dass Du schon länger schreibst, hab ich mir gedacht. Und Kurzgeschichten einfach emotional zu schreiben und zu sehen, wo man landet, ist okay - man hat in jedem Fall noch einiges damit zu tun, daran zu arbeiten, aber dafür sind wir ja auch alle hier. :)

Was hast denn Du für eine Tastatur??? Amerikanisch? Einfach in den Systemeinstellungen auf Deutsch umstellen, dann ist das ß auf der Taste neben der Null (da müsste unter anderem das Fragezeichen herumliegen). Viel Erfolg beim Suchen und Dir auch frohe Ostern! :)

Liebe Grüße
chaosqueen

 

Hallo Lili,

stilistisch und von der Konstruktion her eine gut gemachte Geschichte. Treffender unvermittelter Einstieg, dann gute Beschreibungen der Entwicklungslinien der beiden Schwestern.
Auch wenn man am Schluss ein versöhnliches Gefühl vermittelt bekommt, durchzieht eine tiefe Melancholie den Text und man weiß, die beschriebene Lebensführung (der häuslichen Schwester) überschneidet sich mehr oder weniger mit der eigenen. Aber auch vom Gegenpol wird wohl jeder Elemente in seiner Biographie finden - so bleibt die Frage: Wie findet man eine Balance, inwieweit gestaltet man selbst oder wird man (durch persönliche und gesellschaftliche Umstände) beeinflusst.

Eine inhaltlich und formal ansprechende Geschichte.

L G,

tschüß Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Lili!

Mir hat die Geschichte wirklich gut gefallen. Die hilflose, unüberwindbare Passivität, die weder von der Protagonistin noch von der Erzählung begründet werden kann, hat mich berührt. Auch Dein Stil las sich von mir zwar hastig, aber das passte irgendwie gut. Normalerweise finde ich solche Familiengeschichten auch immer ziemlich langweilig, aber Du hast die Charaktere ohne umständliche und ausführliche Schilderungen genug beschreiben können, vor allem durch ihre Handlungen. Auch waren sie von meinem Gefühl her sehr schön ausdifferenziert, also überhauptnicht klischeehaft und wirkten auf mich daher realer. Ob es nun um die eine oder andere Schwester geht, finde ich eigentlich egal, es geht ja im Prinzip um beide und ihr Verhältnis zueinander oder vielleicht vielmehr ihr jeweiliges verhältnis zu sich selbst.
Und - so blöd es klingt - ich war froh übers happy end
denn: diese bedrückende "Milieuschwüle", fast kleinstädtisch, dieses Versinken in der eigenen Orientierungs-, Willen- und Ratlosigkeit wurde zumindest mir sehr eindringlich und nachvollziehbar nahegebracht. Die Protagonistin macht ja gar keinen echten Fehler - sie macht nur einfach nichts. Und will doch. Und kann nicht. Und weiß nicht warum. Das ist das echt Tragische.

schönen Gruß,
Xulius

ps: Ich glaube der Anfang, also die ersten Sätze werden nicht mehr aufgenommen und bleiben so etwas verloren stehen. Und das Oxymoron, das mademoiselle stört, finde ich nicht unpassend. Vielleicht kannst Du den Kreis der San - Jose - mails noch irgendwie schließen.

 

Hallo Lili,

etwas irritierend finde ich, dass du ab der Mitte der Geschichte auf Anführungszeichen für die wörtliche Rede verzichtest, selbst wenn du sie direkt anwendest. Das bringt manchmal aus dem Lesen.
In dieser Geschichte funktioniert die narrative, zusammenfassende Erzählstruktur mE wirklich gut. Du erklärst nicht viel, sondern verlässt dich auf Stimmungen, selbst, wenn ich als Leser die Reaktionen nicht immer gleich begreife. Dadurch wird der innere Zwiespalt deiner Protagonistin deutlich. Sie scheint ja selbst nicht immer zu begreifen, warum sie sich wie verhält.

Meine Schwester schrieb emails aus San José, es drehte sich alles um Nationalparks und Manuel.
Emails (groß); Sie (Bezug auf Emails) drehten sich alle um (oder handelten alls von)
Ich verlor das Bild, das ich von ihr gehabt hatte.
Änderte es sich nicht eher nur? Danach solltest du einen Zeilenumbruch machen, eventuell sogar einen Absatz, da du in die Erinnerung wechselst.

Lieben Gruß, sim

 

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