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Vakuum
Meine Schwester schrieb emails aus San José, es drehte sich alles um Nationalparks und Manuel. Er ist wunderschön, schrieb sie. Er küsst so… Genau, wie ich mir einen Latino vorgestellt habe. Ich verlor das Bild, das ich von ihr gehabt hatte. Meine kleine Schwester. Ich sehe sie immer noch vor dem Spiegel stehen, das Gesicht von Ekel verzogen, ein guter Tag ist ein Tag, an dem man sich nicht ansehen muss. Ihre Zimmertür blieb von da an geschlossen, sie schien immer weniger zu werden, wenn sie mit uns am Mittagstisch sass, bestand nur noch aus Ringen unter den Augen. Sie hörte fast ganz auf zu sprechen. Ich schenkte ihr eine CD von den Cranberries, „Zombie“, es war als Scherz gedacht gewesen, aber das Lied hörten wir ständig durch die Tür, meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, „Teufelsmusik“ nannte sie es, was mich nicht weiter überraschte, meine Mutter neigt zu Dramatik.
Nach der Matura verliess sie uns, sie hatte all ihre Energie aufgewendet, um eine Gastfamilie in den Staaten zu finden, zwei Wochen vor ihrer Abreise kam die Absage, sie drohte damit, sich umzubringen. In einem seltenen Moment der Vertrautheit beichtete sie mir, dass das Leben hier für sie so erdrückend wäre, sie hätte Mühe zu atmen. Meine Mutter nahm Kontakt auf mit ihrer Cousine, die in San Francisco lebte, meine Schwester verliess uns also für ein Jahr, wir hörten wenig von ihr, manchmal kam ein dicker Umschlag mit Photos und tagebuchähnlichen Zusammenfassungen der letzten Zeit.
Zuhause blieb das Leben stehen. Ich verlor mich in der Monotonie der regelmässigen Erwerbstätigkeit, fünfmal die Woche stand ich um acht Uhr morgens in diesem Büro, tippte Briefe, nahm Anrufe entgegen, immer den Gedanken vor Augen, nur, solange ich weiss, was ich machen will. Ich beschloss, von zuhause auszuziehen, suchte mir eine kleine Wohnung in sicherer Entfernung von meinen Eltern. Wir telefonierten täglich, meiner Mutter fiel es schwer, allein zu sein in diesem grossen Haus, die Stille zwischen meinem Vater und ihr wurde jeden Tag ohrenbetäubender. Manchmal holte ich sie zu mir, wir kochten zusammen und schauten fern, sie fragte immer „Hast du etwas von deiner Schwester gehört?“, ich schüttelte den Kopf, ohne Bedauern. „Weißt du“, sagte sie dann, „ich habe immer geglaubt, du würdest diejenige sein, die weggeht. Aber jetzt bist du hier und lebst so erwachsen.“ Nur bis ich weiss, was ich machen will, dachte ich, nur solange.
Meine Schwester kehrte zurück, ich holte sie vom Flughafen ab, ihr Lachen war umwerfend. Zuhause wartete mein Vater, der sie kühl empfing, meine Mutter war nicht da, sie kam Minuten später, mit Einkaufstaschen beladen, sie blieb wie versteinert an der Tür stehen, betrachtete meine Schwester, die strahlend und braun gebrannt in der Küche sass, die nicht hierher zu gehören schien. Meine Mutter stellte die Einkäufe ab. Sie umarmten sich, innig, meine Mutter sagte „Geh nicht mehr weg.“
Zwei Wochen später zog meine Schwester nach Wien, sie schickte mir Ansichtskarten von Riesenrad und Stephansdom, sie lud mich zu sich ein, ich erzählte Lügen, um dem zu entgehen. Wenn sie nachhause kam, war sie immer ein bisschen anders, sie veränderte ihre Frisur, sie trug Make Up, Kleider, die ich nur aus Magazinen kannte. Sie sah gut aus. Die Treffen mit unseren Eltern verliefen gespannt, meine Schwester redete viel, erzählte von ihren Freunden, dem Studium. Sie engagierte sich in einem Verein zur Integration von ausländischen Kindern, mein Vater sagte Dinge wie verschwendete Zeit und Dinge wie Österreich soll Österreich bleiben, es kam immer zum Streit, meine Mutter redete nicht, sie verschränkte ihre weissen Finger, rieb die Handflächen aneinander, bis ich sagte „Wir haben noch was vor, danke für das Essen.“ Wir halfen nie beim Aufräumen.
Wir sassen auf dem kleinen Balkon meiner Wohnung, tranken Kaffee, sie rauchte und sagte, ohne mich anzusehen, ich weiss nicht, wie du es hier aushältst. Sie hatte mir ein Buch mitgebracht, ich blätterte kurz darin, las Sätze wie Wir dürfen uns nicht alles nehmen lassen. Als sie weg war, warf ich es in den Müll.
Ich hatte Kontakt mit Leuten aus der Volksschulzeit, Karin, die als Friseurin arbeitete, Sigrid, Mutter von zwei Kindern, Georg, der verliebt in mich schien. Manchmal besuchte ich ihn in dem Laden, der seinen Eltern gehörte, ich sass hinter dem Tresen und las, trank Kaffee, während er Kindern erklärte, welche Hefte sie für den Schulanfang brauchten, Füllfederhalter als Geschenk verpackte oder Bücher sortierte. Manchmal redeten wir, wenn es keine Kunden gab. Ich fragte ihn, was er sich am meisten wünsche, er sagte, eine Familie, eine Frau, die sich um mich sorgt, Kinder, wenigstens drei. Ich fragte, was ist mit der Welt, willst du nicht die Welt sehen? Sein Blick war verständnislos. Hier ist es so gut wie an jedem anderen Ort. Ich beobachtete ihn dabei, wie er mich beobachtete, über den Rand meines Buches, ohne, dass er es bemerkte. In Gedanken sagte ich meinen und seinen Namen, mein Name, wie er seiner wurde. Ich sah mich in der Küche stehen, Kinder um mich. Nur, bis ich weiss, was ich machen will. Später an diesem Tag schliefen wir miteinander, in meiner Wohnung, heftig und schnell, von da an täglich, ich kam aus dem Büro, er aus dem Geschäft, manchmal assen wir zusammen, redeten über unseren Tag, über den Ärger, auch über gute Momente, irgendwann zog er mich immer auf seinen Schoss, küsste mich, meinen Mund, meine Brüste, meinen Bauch, während ich mich bemühte, interessiert und erregt zu erscheinen. Ich erzählte meinen Eltern nichts davon, das war auch nicht nötig, solche Dinge sprachen sich schnell herum. Meine Mutter stellte Fragen über ihn, über unsere Pläne, ich sagte, es gibt keine Pläne, es ist nichts.
Georg zog bei mir ein, seine Liebe für Tierbilder und Matchboxautos bereitete mir schlaflose Stunden, bald war meine Wohnung unsere, ein Photo seiner Eltern stand im Schlafzimmer, eines in der Küche. Meine Schwester, die auf Besuch war, schaute mich lange an. War’s das jetzt, fragte sie. Ich bat sie, nicht mehr zu kommen. Sie setzte sich an den Tisch, klappte das Bild von Georgs Eltern nach unten. Ich will, dass du mitkommst, sagte sie, nach Costa Rica. Ich hab mit Papa geredet, er leiht dir das Geld. Nur ein paar Wochen, sag ja. Ich kann nicht, sagte ich, ich wusste selbst nicht wieso. Sie stand auf und nahm ihren Mantel, ich glaube, ich kenn dich gar nicht mehr. Was ist mit dir passiert? Ich schrie sie an, warf ihr Arroganz vor, Egoismus. Als sie gegangen war, legte ich mich ins Bett und weinte.
Georg war hilflos, jeden Abend nach der Arbeit kochte er für mich, sass neben mir und streichelte ungeschickt meine Stirn, die sehr heiss war. Er fragte, ob er den Arzt holen solle, ich wollte das nicht, es wird schon wieder, beruhigte ich ihn, ich fühle mich nur ein bisschen schwach.
Meine Mutter kam regelmässig und redete auf mich ein. Als alles nichts half, schickte sie meinen Vater. Er sass stumm am Bett, die Augen auf die Bettdecke gerichtet. Sehr lange sassen wir so da. Dann räusperte er sich, seine Stimme klang so, als hätte er sie seit Jahren nicht benutzt. Er sagte, deine Mutter hat das auch durchgemacht. Dann beugte er sich über mich und küsste mich auf die Stirn, ich konnte mich nicht mehr an seine letzte Berührung erinnern, das schien Jahre her zu sein. Als er gegangen war, stand ich auf, zog das Bett ab und liess mir ein Bad ein.
Mein Vater kam noch einmal zu mir, ich war gerade dabei, Georgs Tierbilder von den Wänden zu nehmen. Er setzte sich nicht, er drückte mir nur ein Kuvert in die Hand. Nachdem er weg war, öffnete ich es, es lagen wenige Bilder darin und ein Flugticket. Die Bilder zeigten meine Mutter, sie war sehr jung, sie lachte und schien glücklich zu sein. In ihrer Hand hielt sie ein Blatt Papier, man konnte nicht sehen, was darauf geschrieben stand, aber als ich das Bild umdrehte, las ich in ihrer unverkennbaren, sehr exakten Handschrift den Satz: Juni 1978 - Habe die Prüfung bestanden. Amerika, ich komme! Dann noch ein Bild, an das ich mich erinnern konnte – meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich vor goldrotem Hintergrund, der Photograph war hektisch gewesen und hatte uns alle nervös gemacht. Während ich mit meinem Mund voller Zahnlücken in die Kamera lächle, schaut meine Schwester trotzig zur Seite. Mein Vater steht stolz hinter uns, seine Arme um mich und meine Mutter gelegt. Der Blick meiner Mutter ist der, den ich kenne. Zahm und erschüttert.
Auf der Rückseite stand in einer Schrift, die ich als die meines Vaters erkannte: Es ist nicht zu spät. Ich begann, meinen Koffer zu packen.