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Vater
Ich kauere in einer Ecke des Zimmers, du starrst mich an, ich verstehe nicht, warum du das tust. Es ist meine Wohnung, warum bist du hier? Es ist mein Leben, warum zerstörst du es? Voller Furcht betrachte ich dich, wie du so vor mir stehst, beinahe übermächtig, das seltsame Grinsen in deinem Gesicht, die großen, gierigen Augen auf mich gerichtet, die Angst aufsaugend. Du rührst dich nicht von der Stelle, kostest jede Minute deiner Macht aus, ich kann die Lust spüren, die du in diesem Augenblick empfindest. Ich bin erwachsen und doch fühle ich mich wieder wie das kleine, ängstliche Kind, das ich vor Jahren war, ich spüre die Panik langsam in mir hochsteigen, meine Hände werden kälter, meine Kehle trockener.
Du beugst dich über mich, ich spüre deinen Atem, du hast wieder getrunken, ich kenne diesen Geruch, mir wird übel. Deine strähnigen Haare fallen dir ins Gesicht, die Falten auf deiner Stirn verdichten sich zu einem schier undurchdringlichen Labyrinth aus Erinnerungen.
Plötzlich beginnst du zu zittern und hustest mir eine Mischung aus Blut und Schleim ins Gesicht. Angewidert wische ich diese weg. Als ich wieder aufblicke sehe ich dich zurückwanken.
Ein kurzer Augenblick der Schwäche, gleich hast du dich wieder gefangen und doch bemerke ich jetzt wie alt du eigentlich geworden bist.
Dein braungefärbtes Haupthaar ist zu einem mehr als erbärmlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, an den Geheimratsecken sieht man bereits den grauen Haaransatz. Dein schmales Gesicht wirkt in diesem Licht noch fahler als sonst. Mein Blick gleitet an deinem Körper hinab, mager bist du, warst du immer, mittlerweile siehst du krank aus. Ich betrachte dich bis ins kleinste Detail, sehe noch einmal in die gebrochenen, alten Augen, die so viel weniger Autorität ausstrahlen als noch vor ein paar Jahren.
Langsam erhebe ich mich. Meine Knöchel geben ein ungesundes Geräusch von sich, was ich aber kaum bemerke. Mit einem Mal merke ich, dass ich mittlerweile um ein gutes Stück größer bin als du. Warum ist mir das bloß vorher nie aufgefallen? Als gebrochenes, altes Männlein stehst du nun vor mir, dein selbstgefälliges Grinsen hat so viel von seiner alten Macht verloren.
Lange habe ich auf den Moment gewartet, in dem ich dir all‘ das heimzahlen würde können, was du mir damals angetan hast. Ich wollte dich büßen lassen für die Kinderaugen, deren Strahlen du für immer zum Erlöschen gebracht hast, für die ausgetrocknete Kehle, die des Schreiens müde war, für die durchwachten Nächte, in denen ich auf die Tür starrte, voller Angst darauf wartend, dass du in mein Zimmer kommst, für die Narben, die deine kalten Hände auf meiner zarten Haut hinterlassen haben, für die Alpträume, die ich seit damals habe, für den Hass, der mich manchmal unkontrolliert durchfährt, ja, ich wollte dich leiden lassen, so wie ich leiden musste.
Nun stehst du vor mir, klein und geschwächt, ein Abklatsch meiner größten Furcht, der Gürtel rutscht dir aus der Hand, ich bemerke ihn erst jetzt. Wolltest du mich schlagen? Ich bin erwachsen, hast du das vergessen? Du bemerkst den veränderten Ausdruck in meinem Gesicht, dein selbstgefälliges Grinsen verwandelt sich in eine angsterfüllte Fratze, nun kauerst du in der Ecke meines Zimmers. Ich hebe den Gürtel auf, einen Moment lang denke ich daran, ihn auch gegen dich zu benutzen, dann blicke ich wieder in deine Augen, die still um Gnade flehen. Hast du mich damals auch nur einmal verschont? Wieder steigt Wut in mir hoch, ich hebe den Gürtel, hole aus und…ich kann es nicht…Ich will diese Schwelle nicht überschreiten, nicht in diese Welt eindringen, aus der es kein Zurück gibt. Schlage ich dich nun, so bin ich doch nicht besser als du. Habe ich einmal meiner Wut nachgegeben, tue ich es vielleicht auch beim nächsten Mal. Ich sehe dich an mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid in meinen Augen. Du erkennst mein Zögern, erhebst dich und wankst Richtung Tür. Zitternd öffnest du sie und verschwindest in die Nacht hinaus, ohne dich auch nur ein einziges Mal umzublicken.
Ich schließe die Tür hinter dir, lege mich auf mein Bett und starre an die Decke. Mit einem Lächeln im Gesicht schlafe ich ein und träume zum ersten Mal nicht von dir.