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Verfolgung
Jede Mutter glaubt, ihr Kind wäre etwas Besonderes.
Nur die Wenigsten behalten am Ende Recht.
Und die Meisten von denen, die Recht behalten,
wünschen sich dann, ihr Kind wäre ganz normal
geworden.
Mit einer beängstigend routinierten Geste zog Chester seine schwarzen Lederhandschuhe straff. Die Frau, die er verfolgte, drehte sich kurz um, ohne aber einen Augenkontakt mit ihm zu wagen. Sie checkte die Distanz zwischen ihnen – es waren weniger als 10 Meter – und beschleunigte ihren Gang.
„So entkommst du mir nicht, Schätzchen,“ dachte er, „Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen, um den berühmt berüchtigten Ladykiller von Bronx abzuhängen.“
Er verkürzte die Distanz. Sie trennten nur noch 6-7 Meter. Sie hörte seine Schritte ganz dicht hinter sich auf den Asphalt hämmern. Sonst war es totenstill auf der nächtlichen Straße. Und stockdunkel dazu. Keine einzige Laterne weit und breit, New York – die Stadt der Millionen Lichter – haha. Chester konnte die Angst der Frau spüren, sie war wie ein rötlicher Schleif, der sich hinter ihr herzog und einen hässlichen, aber gleichzeitig erregenden Duft verbreitete. Chester atmete diesen Duft ein, sog ihn förmlich ein, und genoss es. Er wusste, dass sie einen Puls von 180 hatte. Er wusste, dass ihre Muskeln wegen der Überdosis Adrenalin im Blut zitterten (seine taten es natürlich nicht, er war ja schließlich ein Profi). Er wusste, dass sie den Augenblick verfluchte, an dem sie den Fuß in diese gottverdammte verlassene Gegend setzte. Und er genoss den Moment, weil diese Frau ihn als einen Mann empfand, einen Mann, der stark war, einen Mann, der gefährlich war, einen richtigen Mann eben und keinen dünnen pickeligen Teenager, der sich herumkommandieren ließ.
Sie sah die leere Dunkelheit vor sich und hörte die hämmernden Schritte hinter sich und schätzte die Chancen eines natürlichen Todes in ihrem schönen Einfamilienhaus in einem wohlhabenden Vorort zu sterben für geringer ein als als Hackfleisch (oder vergewaltigtes Hackfleisch, was spielte das im Endeffekt schon für eine Rolle) morgen auf dieser Straße gefunden zu werden. Ja, klar, sie könnte um Hilfe schreien, aber wen, wen um Gottes Willen würde in der Bronx ein Schrei interessieren? Sie hatte mehr Chancen, dass jemand rein zufällig vorbeikäme, als dass jemand käme, wenn sie schrie. Was blieb ihr noch? Sich wehren? Es würde vermutlich ein ziemlich kurzer und einseitiger Fight werden – eine dreiundfünfzig Kilo leichte Frau, die alle Einladungen zu diesen Kursen der Selbstverteidigung immer als unnützliches Zeug abgestempelt und in den Papierkorb geworfen hatte, gegen einen… nun, in der Dunkelheit konnte sie es nicht genau sagen, aber mindestens eins achtzig großen und höchstwahrscheinlich bewaffneten Mann. Teufel, sie hatte nicht mal lange Fingernägel um ihm die Augen auszukratzen! (Warum hatte sie bloß auf diese feministischen Tussies gehört, die behaupteten, lange lackierte Fingernägel waren nur ein weiteres Symbol der Unterdrückung der Frauen?) Ihre Argumentation war lang und schwer nachvollziehbar, aber sie war auch unwichtig, wichtig war, dass sie auf einer leeren Straße von einem Mann verfolgt wurde. Und seine Schritte kamen immer näher. Wichtig war, dass sie sofort eine Lösung finden musste, wenn sie nicht als Metzgerfüllsel enden wollte.
Der pessimistischen Stimme in ihrem Kopf stockte für einen Moment der Atem und die optimistische übernahm das Sagen.
„Jetzt werd nicht hysterisch, Mädchen“, sagte sie, „vielleicht will der Kerl gar nichts von dir, vielleicht geht er zufällig den gleichen Weg nach Hause wie du, vielleicht biegst du jetzt hier ab und er geht einfach weiter.“
Sie steuerte jetzt auf eine kleine ampellose Kreuzung zu. Als sie die Ecke erreichte, bog sie in eine Gasse ab, im Vergleich zu der die Vorige wie der Broadway beleuchtet war. Zuerst konnte sie absolut nichts erkennen. Nur Mauern. Mauern überall.
„Es ist eine Sackgasse, oh mein Gott, es ist eine Sackgasse!“, schrie sie innerlich auf, „Er wird gleich um die Ecke kommen, Jack the Ripper wird gleich um die Ecke kommen und dann…“
Dann sah sie, dass sie keine Wand vor sich sah, dass dort keine Wand war, und, als ihr Verfolger um die Ecke kam, zögerte sie keine Sekunde und sprintete los. Zuerst waren ihre Beine schwer wie Blei, und die Dunkelheit, die sie umgab, schien sich in eine zähe schwarze Masse zu verwandeln, die sie an ihren Knöcheln fest umklammerte und nicht loslassen wollte. Zuerst glaubte sie, dass er ebenfalls losrannte, dass sie seine Schritte immer noch dicht hinter sich hörte.
„Oh mein Gott, er ist schneller als ich, er wird mich packen, er wird mich töten, er wird mich töten!“
Aber in dem Moment, als sie sich schon bereit machte, kalten tödlichen Griff um ihren Hals zu spüren, merkte sie, dass es nur ihre eigene Schritte waren, die sie hörte. Die Schwere in ihren Beinen löste sich und sie rannte weg, rannte, wie sie in ihrem Leben noch nie gerannt war. Aus Angst zu stolpern drehte sie sich nicht um, aber sie wusste, dass, wenn sie es täte, nichts als Dunkelheit da wäre, die sie von ihrem Verfolger wie ein schwarzer Vorhang trennte. Und dann sah sie Licht. So musste sich ein Mensch fühlen, der tagelang in einer Höhle umherirrte und dann schließlich das Tageslicht erblickte. Ja, jetzt war sie wirklich gerettet, denn sie hatte eine Straße erreicht, eine belebte, beleuchtete Straße. Und als sie aus der Dunkelheit ins Licht kam, war sie eine erschöpfte, aber glückliche Frau. Als sie wieder zu Atem kam, sah sie sich um. Sie wurde von den Passanten nicht weiter beachtet, sei bekam nur einige schnelle gleichgültige Blicke zugeworfen, und es war ihr auch recht so. Sie klopfte sich den Staub von der Kleidung ab, korrigierte die Frisur, hielt ein Taxi an und lag 30 Minuten später in einem heißen Bad mit ätherischen Ölen in ihrem schönen Einfamilienhaus in einem reichen Vorort von New York.
Als Chester um die Ecke bog und sah, dass die Frau vor ihm wegrannte, erfüllte ihn ein befriedigendes Gefühl von getaner Arbeit. Er sah ihr noch einige Sekunden hinterher, bis sie von der Dunkelheit völlig verschluckt wurde. Er machte keine Anstalten ihr hinterherzulaufen, denn sein Job war getan und er war stolz auf sich. Als er etwa 200 Meter zurückschlenderte, umkreisten ihn seine Freunde. Alle redeten stürmisch auf ihn ein, alle klatschten ihn ab, nacheinander und durcheinander, alle waren so besoffen, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten.
„Mann, die Tussi hat sich vor Angst in die Hose geschissen!“, schrie Jeremy Hellsing, der dermaßen alkoholisiert war, dass er in Chester das Gefühl erweckte, selbst in Gefahr dieser peinlichen Tat zu sein. „Give me five, boy, komm schon!“, verlangte er von Chester, verfehlte dessen Hand aber um gute dreißig Zentimeter und taumelte ohne jegliches Gleichgewicht auf Chester zu. Er fing Jerry auf.
„Komm, ich nehm´ ihn dir ab, bevor er dich voll kotzt“, sagte Lexis und befreite Chester von unangenehmen Gewicht seines Freundes.
„Gute Arbeit, Chess, wirklich gute Arbeit“, sagte Tony, der aus dem Hintergrund hervortrat. Er ging dicht an Chester heran und schaute ihn ernst an.
„Wenn du die Kamera nicht an hattest, bringe ich dich um.“
„Für wen hältst du mich, Tony?“, fragte ihn Chester und spielte ihm einen übertrieben vorwurfsvollen Blick zu. Er nahm seine Yankee-Kappe ab und brachte eine zigarettenförmigen, etwa sechs Zentimeter langen Gegenstand zu Tage.
„Alles drauf“, er hielt Tony die Minikamera vors Gesicht und zeigte auf das winzig rote Lämpchen über dem Objektiv, „Sie läuft noch und du bist auch drauf. Willkommen bei `Versteckte Kamera`! Möchtest du deine Mami grüßen?“
„Lass das!“, fauchte ihn Tony an und riss die Minikamera an sich. Er stellte das Gerät ab und wandte sich den anderen zu: „Lasst uns feiern, Leute! Wir haben tolle Aufnahmen!“