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Vergänglichkeit
Ich warte, bis es dunkel wird und das Getuschel verstummt, drücke dann den Knopf der Fernbedienung.
Während das Intro auf der Leinwand läuft, blinzle ich durch das Halbdunkel. In der ersten Stuhlreihe erspähe ich sie.
„Hoch oben, auf einer Klippe: das alte Chapora Fort“, beginne ich. Es folgen Aufnahmen der Ruine aus verschiedenen Perspektiven, untertitelt mit historischen und geografischen Angaben. Das Arabische Meer, Sonnenuntergänge – einer magischer als der andere.
„Das kleine Fischerdorf mit dem idyllischen Hafen. Abends kann man direkt von den Booten den Fang kaufen.“ Während die Bilder nacheinander ein- und ausblenden, nippe ich am Wasserglas, habe den süßen Geruch des Ozeans in der Nase, den Geschmack des Fisches im Mund, höre die laut kreischenden Braunkopfmöwen.
Am Hafen, vor einer Hütte mit Palmblattdach, entdeckte ich sie durch den Sucher meiner Kamera, wie sie bunte Plastikperlen sortierte. Eine bezaubernde Mischung aus Farben und Mustern.
Ich schulterte den Rucksack, stellte mich bei ihr vor und bat darum, sie fotografieren zu dürfen. Sie nickte, sagte My name is Vanita und richtete sich den Dupatta, der ihre Schultern vor den Sonnenstrahlen schützte. Dann sprach sie einige Worte in Konkani, die ich nicht verstand. Viel später wusste ich erst, was sie mir sagen wollte.
Nur wenige Stunden verbrachten wir gemeinsam. Heimlich. Wir rumpelten mit dem Bus durch die Schlaglöcher der Straßen fremder Dörfer. Fuhren mit Rikschas, plantschten im glänzenden Meer. Feierten bei Live-Musik und indischem Tanz in den Bars.
Ich stütze mich am Pult, überfliege meine Aufzeichnungen, fühle die Sehnsucht in mir. So stark, so jung. So unsinnig glücklich.
Dann erscheint das Foto: Sie sitzt auf der Bank vor der Hütte und trägt fliederfarbenen Sari und eine hell leuchtende, bauchfreie Choli trägt sie, Perlen und Glitzerstaub im Dekolleté – echte Perlen –, die Füße nackt in perlenbesetzten Khussas aus Leder; in ihrem schwarzen, langen Haar baumeln antik-goldene Ohrringe, und ich strahle, strahle noch, als ich den Rucksack schultere, mich bei ihr vorstelle und sie um Fotos bitte und sie ihre nackten Schultern mit dem Dupatta schützt.
Vorsichtig blicke ich in die erste Reihe, auf Vanita, die mir ihr schüchternes Lächeln schenkt. Wie gerne hielte ich ihre Hand. Fest, noch fester. Wieder drehe ich mich zur Leinwand. „Hier, an den Stränden, finden außer den Goa-Partys, Bikertreffen und Festivals auch Wochenmärkte statt.“ Tanzende Leute. Einheimische, Touristen, Hippies, Rocker. Dazwischen Polizisten; im Sand liegende Kühe, herumliegende Kleidung.
Es folgen Detailaufnahmen vom Basar. Traditionelle, farbige Gewürze in Bastkörben, die mich an das Fest der Farben erinnern, das wir am zweiten Abend besucht hatten. Shigmo. Mir kommt es vor, als hätte ich noch heute den Staub auf meiner Kleidung, in den Haaren, in der Lunge. Den Rausch im Blut. Ihre Fragen im Ohr.
Fragen nach Kinderarbeit und Unterernährung in meiner Heimat. Kinderehen. Erst da verstand ich.
Es folgt der Mittelteil. Junge Frauen, Mädchen, die auf den Köpfen blecherne Kübel die Dorfstraße entlang balancieren. Was man nicht sieht, ist der Brunnen, aus dem sie das Wasser geschöpft haben — zwei Kilometer entfernt; sind die kleinen Häuschen mit ihren Lehmboden und den offenen, mit Kuhdung befeuerten Feuerstellen, Welldachhütten, in denen sie zu sechst oder zu acht oder zu zehnt leben.
Dann Fotos aus einem Boot mit Blick auf die Küste. Holzkähne, bunte Saris, Menschenmassen unter sandfarbenen Sonnenschirmen. Tempel, umgeben von farbigen, gemauerten Wohnhäusern. Die Fotos zeigen nicht die im Landesinneren liegenden Betonbauten, wo es Orte gibt, die nachts nicht beleuchtet werden, wo es nach Abwasser und Abgasen riecht, nach Vergorenem; wo Menschen hausen, die mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen, Kleinkinder mit weniger als einer Schüssel Reis pro Tag; Kinder, die nicht zur Schule gehen, sondern in Steinbrüchen, auf dem Feld, in der Prostitution arbeiten; junge Mädchen, die selbst noch Kinder sind und zu früh Mütter werden, die verheiratet werden, bevor sie volljährig sind.
Fotografiert habe ich auch nicht die kleine Hütte, in der Vanita zusammen mit ihrem Mann in dem Ort ohne Licht wohnt.
„Der Handwerkermarkt.“ Meine Stimme wird brüchig, ich nestle am Headset herum. „Stoffe, Stickereien, Stirnschmuck.“
Schließlich erscheint das letzte Foto: der goldene Ring, den ich für sie auf dem Basar gekauft habe, ohne zu feilschen.
Das Publikum spendet Applaus, als der Abspann kommt, hinterlegt mit karnatischer Musik, rhythmisch, melodisch. Stumm nicke ich vor mich hin, meine Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an. Allmählich wird das Licht im Saal heller. Erste Gäste erheben sich, einige klatschen weiter, andere kramen in ihren Sachen. Am Eingang erwartet mich bereits mein Agent, der den Daumen hochhält, zustimmend nickt und weiter die Fotobände und DVDs auf dem Tisch sortiert. Hochglanzaufnahmen. Falschdarstellungen.
Ich reibe mir die Augen, spüre Ohnmacht, Vergänglichkeit. Der Stuhl ist leer, Vanita abermals verschwunden.