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Vergessene Erinnerung
Ich wurde an jenem Morgen von einem dumpfen Poltern geweckt.
Meine Frau war die Treppe hinuntergestürzt, und hatte sich das Genick gebrochen.
Es ist seltsam, sich an keine letzten Worte erinnern zu können. Wir waren den Abend zuvor gemeinsam ins Bett gegangen, und hatten noch ein wenig miteinander gesprochen; aber worüber ... ich weiß es einfach nicht mehr.
Genausowenig weiß ich, warum sie an jenem Tag unbedingt um sieben in der Früh aufstehen musste, um die Wäsche aus dem Trockner zu holen. Sie war doch sowieso nicht mehr gut auf den Beinen.
Heute hätten wir Goldhochzeit.
Sebastian hat mich vorhin angerufen. Wie es mir denn ginge. Anschließend haben wir über das Wetter geredet.
Nächste Woche kommen er und Susanne mich besuchen. Früher geht es nicht.
Ich finde es schade, dass sie noch immer kein Enkelkind für mich in Planung haben, aber naja, Lisbeth und ich haben uns mit Sebastian ja auch viel Zeit gelassen.
In der Wohnung sieht es schlimm aus. Ich bin kein unhygienischer Mensch, aber eben doch sehr nachlässig, wenn es ums Aufräumen, oder Staubwischen geht. Ich werde meine müden Knochen wohl oder übel bewegen müssen, bevor die Beiden kommen. Aber das hat noch Zeit.
Jetzt kaue ich auf dem Brot herum; bilde mir ein, dass es schmeckt, und die Schinkenwurst frisch vom Metzger kommt, obwohl ich sie abgepackt gekauft habe.
Dann werde ich mich rasieren, mir die Blutstropfen von der spröden Haut wischen, und mir vorstellen, einen gewöhnlichen Sonntagsspaziergang zu unternehmen.
Der muffige Wintermantel ist viel zu weit geworden, oder ich viel zu dürr, je nachdem, wie man das sieht.
Draußen schneit es.
Ich mag keine Friedhöfe. Erinnerung ist bitter, nicht friedlich, und die Toten sind eh ganz woanders.
Wenn Lisbeth mich jetzt sehen könnte, den Kopf würde sie schütteln.
Ich friere am Hals. Mein einziger Schal liegt noch immer im Wäschekorb. Er steht dort, seit ... ich habe einen neuen Korb gekauft.
Bei der Auswahl des Grabsteins habe ich aufs Geld geachtet. Ich schäme mich manchmal dafür, bei meiner hohen Rente. Es ist ein schöner Stein, aber kein besonders teurer. Mir geben diese Bräuche nichts.
Die Schneedecke verbreitet eine romantische Atmosphäre.
Lisbeth ... warum streckst du mir denn die Zunge raus?
Die Flocken fallen langsam, machen alles weiß.
Jetzt jag´ mir doch nicht so einen Schrecken ein.
Eine Frau zündet ein "ewiges Licht" an. Seltsame Bezeichnung.
Lisbeth, ich weiß doch, dass du mich siehst. Du hast doch die Augen offen.
Es ist heute tatsächlich friedlich hier. Die Wege sind lang und ruhig.
Wo hast du dir denn weh getan? Ach Frau! Was hast du denn bloß angestellt?
Selbst die kahlen Äste der Bäume sind vom Schnee bedeckt.
Lisbeth ... so sag doch endlich was.
Das Grab kommt näher. Nur wenige Meter von der Kapelle entfernt liegt es. Es ist ein schöner Platz, für ein Grab.
Lisbeth. Neihhhinein!
Äußerer Frieden, innerer Kampf.
Ich dachte immer, dass du mich überleben würdest.
Und nun stehe ich hier, und beginne zu sprechen, was ich mir seit Wochen zurechtgelegt habe; seit dieser Tag in greifbare Nähe gerückt ist.
"Sebastian kommt nächste Woche. Er bringt Susanne mit. Bilde dir jetzt aber ja nicht ein, als wenn ich mit dir reden würde. Ich glaube nicht an diesen christlichen Unfug, das weißt du aber auch. Ich bin hier als Egoist. Ich meine, wie oft habe ich gesagt, dass dieser dumme Trockner nach unten gehört, und nicht oben ins Bad. Und ... was hast du gemacht? Gelächelt. Und jetzt bist du nicht ... was ich meine, ist, dass ... ach Lisbeth. Die Wohnung sieht schlimm aus. Wie konntest du nur all diesen Staub entfernen? Da wird man ja verrückt bei. Aber den Aschenbecher, den leere ich immer noch ..."
Jemand stapft hinter mir durch den Schnee. Verrückt ... Aschenbecher ... weil ich ihn nie ...
"Das war es", rufe ich laut. Einige Vögel fliegen aufgeschreckt über mich hinweg.
Wir hatten genau darüber geredet. Du hast mir vorgeworfen, dass ich meine Zigarettenkippen niemals in den Müll schmeiße, und ... ja, genauso war es, und ich habe dir einen Kuss gegeben, und du hast mich angestrahlt ... Du bist und bleibst ein alter Schlunz.
Und dann hast du ... hast du gesagt ...
So plötzlich sind mir im ganzen Leben noch keine Tränen ausgebrochen.
"Du hast gesagt, dass du mich trotzdem liebst. Jetzt weiß ich es wieder. Das waren deine letzten Worte. Was für ein schönes Geschenk zum heutigen Tage, Schatz."
Die Beine weich wie Pudding, versinke ich im Schnee.
Nicht dem Grab ganz nahe, sondern dir.
"Ich liebe dich ja auch!"