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Vergessene Erinnerung

Seniors
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24.04.2003
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Vergessene Erinnerung

Ich wurde an jenem Morgen von einem dumpfen Poltern geweckt.
Meine Frau war die Treppe hinuntergestürzt, und hatte sich das Genick gebrochen.

Es ist seltsam, sich an keine letzten Worte erinnern zu können. Wir waren den Abend zuvor gemeinsam ins Bett gegangen, und hatten noch ein wenig miteinander gesprochen; aber worüber ... ich weiß es einfach nicht mehr.
Genausowenig weiß ich, warum sie an jenem Tag unbedingt um sieben in der Früh aufstehen musste, um die Wäsche aus dem Trockner zu holen. Sie war doch sowieso nicht mehr gut auf den Beinen.
Heute hätten wir Goldhochzeit.
Sebastian hat mich vorhin angerufen. Wie es mir denn ginge. Anschließend haben wir über das Wetter geredet.
Nächste Woche kommen er und Susanne mich besuchen. Früher geht es nicht.
Ich finde es schade, dass sie noch immer kein Enkelkind für mich in Planung haben, aber naja, Lisbeth und ich haben uns mit Sebastian ja auch viel Zeit gelassen.
In der Wohnung sieht es schlimm aus. Ich bin kein unhygienischer Mensch, aber eben doch sehr nachlässig, wenn es ums Aufräumen, oder Staubwischen geht. Ich werde meine müden Knochen wohl oder übel bewegen müssen, bevor die Beiden kommen. Aber das hat noch Zeit.
Jetzt kaue ich auf dem Brot herum; bilde mir ein, dass es schmeckt, und die Schinkenwurst frisch vom Metzger kommt, obwohl ich sie abgepackt gekauft habe.
Dann werde ich mich rasieren, mir die Blutstropfen von der spröden Haut wischen, und mir vorstellen, einen gewöhnlichen Sonntagsspaziergang zu unternehmen.

Der muffige Wintermantel ist viel zu weit geworden, oder ich viel zu dürr, je nachdem, wie man das sieht.
Draußen schneit es.
Ich mag keine Friedhöfe. Erinnerung ist bitter, nicht friedlich, und die Toten sind eh ganz woanders.
Wenn Lisbeth mich jetzt sehen könnte, den Kopf würde sie schütteln.
Ich friere am Hals. Mein einziger Schal liegt noch immer im Wäschekorb. Er steht dort, seit ... ich habe einen neuen Korb gekauft.
Bei der Auswahl des Grabsteins habe ich aufs Geld geachtet. Ich schäme mich manchmal dafür, bei meiner hohen Rente. Es ist ein schöner Stein, aber kein besonders teurer. Mir geben diese Bräuche nichts.
Die Schneedecke verbreitet eine romantische Atmosphäre.
Lisbeth ... warum streckst du mir denn die Zunge raus?
Die Flocken fallen langsam, machen alles weiß.
Jetzt jag´ mir doch nicht so einen Schrecken ein.
Eine Frau zündet ein "ewiges Licht" an. Seltsame Bezeichnung.
Lisbeth, ich weiß doch, dass du mich siehst. Du hast doch die Augen offen.
Es ist heute tatsächlich friedlich hier. Die Wege sind lang und ruhig.
Wo hast du dir denn weh getan? Ach Frau! Was hast du denn bloß angestellt?
Selbst die kahlen Äste der Bäume sind vom Schnee bedeckt.
Lisbeth ... so sag doch endlich was.
Das Grab kommt näher. Nur wenige Meter von der Kapelle entfernt liegt es. Es ist ein schöner Platz, für ein Grab.
Lisbeth. Neihhhinein!

Äußerer Frieden, innerer Kampf.
Ich dachte immer, dass du mich überleben würdest.
Und nun stehe ich hier, und beginne zu sprechen, was ich mir seit Wochen zurechtgelegt habe; seit dieser Tag in greifbare Nähe gerückt ist.

"Sebastian kommt nächste Woche. Er bringt Susanne mit. Bilde dir jetzt aber ja nicht ein, als wenn ich mit dir reden würde. Ich glaube nicht an diesen christlichen Unfug, das weißt du aber auch. Ich bin hier als Egoist. Ich meine, wie oft habe ich gesagt, dass dieser dumme Trockner nach unten gehört, und nicht oben ins Bad. Und ... was hast du gemacht? Gelächelt. Und jetzt bist du nicht ... was ich meine, ist, dass ... ach Lisbeth. Die Wohnung sieht schlimm aus. Wie konntest du nur all diesen Staub entfernen? Da wird man ja verrückt bei. Aber den Aschenbecher, den leere ich immer noch ..."

Jemand stapft hinter mir durch den Schnee. Verrückt ... Aschenbecher ... weil ich ihn nie ...

"Das war es", rufe ich laut. Einige Vögel fliegen aufgeschreckt über mich hinweg.
Wir hatten genau darüber geredet. Du hast mir vorgeworfen, dass ich meine Zigarettenkippen niemals in den Müll schmeiße, und ... ja, genauso war es, und ich habe dir einen Kuss gegeben, und du hast mich angestrahlt ... Du bist und bleibst ein alter Schlunz.
Und dann hast du ... hast du gesagt ...
So plötzlich sind mir im ganzen Leben noch keine Tränen ausgebrochen.
"Du hast gesagt, dass du mich trotzdem liebst. Jetzt weiß ich es wieder. Das waren deine letzten Worte. Was für ein schönes Geschenk zum heutigen Tage, Schatz."

Die Beine weich wie Pudding, versinke ich im Schnee.

Nicht dem Grab ganz nahe, sondern dir.

"Ich liebe dich ja auch!"

 

Hi Cerberus!

Na na, in deinem Alter solch eine Geschichte?

Die ersten beiden Sätze, quasi den Einführungsabsatz würde ich zusammenziehen zu einem einzigen Satz. Würde besser wirken und man wäre noch schneller drin.

Jetzt kaue ich auf dem Brot herum; bilde mir ein, dass es gut schmeckt,..

Das "gut" kannst du getrost weglassen, es klingt dann "gesprochener".
Wie ich auf im Rest des Textes eine gewisse Umgangssprachlichkeit vermisst habe. Es waren schon einige Passagen darunter, die ich einem alten Mann nicht unbedingt zutrauen würde.

Das Grab kommt näher.

Ohne Worte!

Im Ganzen hat mir die Story, das kurze Stück, aber sehr schön gefallen. Wehmütig, und ziemlich optimistisch.

Ach ja, der Titel. Sind Erinnerungen, wenn sie vergessen sind, noch Erinnerungen?

Güße von hier!

 

Hallo!

@Nachtschatten

Echt, das "Pudding" klingt albern? Ist doch eigentlich umgangssprachlich. Mal sehen, ob sich noch jemand daran stört, dann werde ich es ändern.
Über den letzten Satz habe ich auch gegrübelt, aber ich wollte die Geschichte mit der wörtlichen Rede enden lassen.

@golio

Vielen Dank fürs Lob!
Es ist mir immer wichtig, keine Klischees zu verwenden, und Kitsch ist etwas , was mir gar nicht schmeckt. Na gut ... in kleinen Portionen vielleicht, aber nicht mehr.

@Hanniball

Ohne dich gäbe es diese Geschichte nicht.
Ich habe vor einigen Wochen eines deiner Erstlingswerke gelesen (der Titel fällt mir grad nicht ein). Es geht um einen alten Mann (Conner), der in einen Krimi verstrickt wird. Thematisch eine völlig andere Geschichte, bis auf die Schilderung des Selbstmordes der Enkelin.
Hier hattest du auch zwei Sätze verwendet; der erste ist noch normal und unauffällig, und im zweiten heißt es dann plötzlich: "Sie hatte sich am Dachbalken erhängt." - Fand ich sehr schockierend.
So wollte ich auch diese Geschichte beginnen lassen. Erst ein harmloses Sätzchen, und dann quasi die volle Breitseite.
Daher werde ich das so stehen lassen.

Das Grab darf doch auch ruhig näher kommen, oder? Aber das "gut" wird sofort gestrichen, haste Recht.

Der Titel war ein spontaner Einfall. Vielleicht nicht ganz korrekt, aber er gefällt mir irgendwie.


Euch Dreien vielen Dank fürs lesen und kommentieren!

 

Hallo Cerberus!

Die Geschichte finde ich ausgesprochen gelungen. Mit wenigen und einfachen Worten hast Du einen Tiefgang fabriziert, der mich richig hineingezogen hat in die Seele des alten Mannes. In sein leer gewordenes Leben, in dem nichts mehr ist wie früher, als sie noch da war; wie ihn die Erinnerung zu ihren letzten Worten führt, die er fast vergessen hatte, und bei denen er nun die Liebe wieder zu spüren beginnt, weil er dabei erkennt, was sie zum Ausdruck gebracht hat: wie unwichtig manche oberflächlichen Dinge sind, über die man sich manchmal aufregt. Die echte Liebe sitzt sehr viel tiefer.

Schön deutlich wird die Leere, die durch ihren Tod in sein Leben getreten ist, nicht nur durch die Wurst, die Wäsche, usw., sondern besonders auch hier:

Sebastian hat mich vorhin angerufen. Wie es mir denn ginge. Anschließend haben wir über das Wetter geredet.
Da scheint nicht mehr viel Leben übrig zu sein, über das zu reden sich lohnen würde. Daß der Sohn erst »nächste Woche« Zeit hat, ist auch nicht gerade Zeichen einer herzlichen Beziehung, vielleicht kommt er auch wegen der unaufgeräumten Wohnung seltener, oder weil es kein gutes, von der Mutter gekochtes Essen mehr gibt – der Mann scheint jedenfalls sehr allein(gelassen) zu sein.

Sehr schön fand ich auch diese Stelle …

Ich mag keine Friedhöfe. Erinnerung ist bitter, nicht friedlich, und die Toten sind eh ganz woanders.
… in Verbindung mit dieser:
Nicht dem Grab ganz nahe, sondern dir.
An den beiden Zitaten sieht man recht schön, wieviel an Tiefe die Geschichte gegen Ende gewinnt. Erst sind die Toten ganz woanders, dann ist er ihr so nah, obwohl er noch gar nicht beim Grab ist. Nebenbei beweist er damit aber auch, daß er diese »Bräuche« tatsächlich nicht braucht.
Den letzten Satz würde ich keinesfalls weglassen, auch, wenn ich den vorletzten schon sehr tiefgehend finde. Ich sehe gerade dieses aus dem tiefsten Inneren kommende »Ich liebe dich ja auch« als die Antwort, die er ihr in jener Nacht nicht mehr gegeben hat, als sie das mit den Aschenbechern sagte, und daß sie ihn trotzdem liebt. Nach seinen fast schon nach Vorwürfen klingenden Gedanken, sie sei nur tot, weil sie wollte, daß der Trockner oben steht, und warum sie denn überhaupt so früh auf mußte, wirkt das sehr versöhnlich und aus dem tiefsten Herzen kommend. – Wäre es ein platt dahingesagtes »Ich liebe dich«, wäre ich vermutlich auch fürs Streichen. Aber das ist es nicht, ich spüre richtig, wie es dem Mann dabei innerlich alles zusammendrückt.

Golio schrieb:
die seelische Entwicklung, die der Opa am Tage nach dem Tode seiner Frau durchmacht
Es ist wohl eher nicht der Tag nach dem Tod – soo schnell wird niemand verscharrt. ;) Er geht sie ja bereits am Friedhof besuchen, aus Anlaß des Hochzeitstages (und wer weiß, wie lange er den Besuch schon vermieden und dabei die Erinnerung verdrängt hat).
Gerade dadurch, daß es die goldene Hochzeit wäre, ist es besonders hart von dem Sohn, daß er keine Zeit hat. Er zeigt dem Vater damit sehr deutlich, daß er ohne die Mutter unwichtig geworden ist.

Cerberus schrieb:
das "Pudding" klingt albern? Ist doch eigentlich umgangssprachlich.
Man könnte es auch als ausgelutscht bezeichnen. ;) Da aber »weich wie Pudding« ohnehin nur eine Umschreibung für das eigentliche Gefühl ist (schwach, zittrig, von allen Kräften verlassen?), würde ich eventuell auf die Metapher verzichten. – Das sind aber nur meine Gedanken zur entstandenen Diskussion, von selbst hätte ich den Punkt nicht kritisiert.

Hannibals Frage, ob Erinnerungen, wenn sie vergessen sind, noch Erinnerungen sind, finde ich eigentlich in der Geschichte beantwortet:

Es ist seltsam, sich an keine letzten Worte erinnern zu können. Wir waren den Abend zuvor gemeinsam ins Bett gegangen, und hatten noch ein wenig miteinander gesprochen; aber worüber ... ich weiß es einfach nicht mehr.
und
"Das war es", rufe ich laut. Einige Vögel fliegen aufgeschreckt über mich hinweg.
Wir hatten genau darüber geredet.
An manche Dinge erinnert man sich nicht so einfach, aber wenn man in Gedanken die ganze Situation noch einmal durchlaufen läßt, kommen sie wieder. Die Erinnerung war also oberflächlich vergessen und ist nun wieder aufgetaucht. Ich finde das völlig korrekt und den Titel gerade deswegen schön gewählt. :)

Aber bevor der viele Honig auf meinem Bildschirm kleben bleibt, schnell noch dieses hier:

»Meine Frau war die Treppe heruntergestürzt, und hatte sich das Genick gebrochen.«
– hinuntergestürzt
– ich wäre da eher für »und hat sich das Genick gebrochen« (es ist ja vermutlich immer noch gebrochen)

»Heute hätten wir Goldhochzeit.«
– »goldene Hochzeit«; ich würde den Satz aber ein bisschen mehr betonen, zum Beispiel: »Heute würden wir unsere goldene Hochzeit feiern.«

»wenn es ums Aufräumen, oder Staubwischen geht.«
– keinen Beistrich nach »Aufräumen«

»bevor die Beiden kommen.«
– die beiden

»Jetzt jag´ mir doch nicht so einen Schrecken ein.«
– ohne Apostroph: jag

»Lisbeth ... so sag doch endlich was.«
– da würde ich schon mal eher zu einem Rufzeichen tendieren, jedenfalls stelle ich ihn mir hier schon eher verzweifelt vor.

»Bilde dir jetzt aber ja nicht ein, als wenn ich mit dir reden würde.«
– »dass« statt »als wenn«
Übrigens auch einer der Sätze, die mir besonders gefallen haben. Wie er abstreitet, mit ihr zu reden, und es dabei gerade tut, kommt ziemlich ironisch. :thumbsup: Aber es ist eben auch der Wechsel zwischen Oberfläche und Tiefe: das Fühlen nimmt dem Verstand, dem bewußten, rationalen Denken, langsam seine Macht. Wer fühlen kann, braucht keine Religion, an deren Regeln und Glauben er sich durchs Leben hantelt.

»ja, genauso war es,«
– in dem Fall auseinander: genau so

»Ich liebe dich ja auch!«
– würde da drei Punkte machen statt dem Rufzeichen


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Cerberus,

insgesamt finde ich die Geschichte sehr gut, weil ich mit dem Prot mitfühlen kann und mir die Situation klar und deutlich vor Augen steht.
Wie Nachtschatten, hat mir aber das mit dem Pudding nicht gefallen, weil es die Stimmung in dieser Situation aufbricht (oder war das gerade deine Intention?). Mmh, wenn ich es mir nochmal anschaue, finde ich es doch gar nicht so schlecht, gibt dem ganzen irgendwie Realität, im Gegensatz zu der rückgewandten Perspektive vorher.
Was mich allerdings wirklich stört, ist die Plakativität, die du mE vollkommen unnötigerweise einführst. Sowohl die kursiven Sätze wie die explizite Bennenung danach stören mich, weil es so selbstverständlich ist und weil ein Perspektivwechsel, zumal ein so kurzer, und die damit verbundene Reflexivität, mich aus deiner Geschichte zurück vor den Computer zerren.
Das kann aber den positiven Gesamteindruck nicht schmählern.

Liebe Grüße,
nils

 

Hi Cerberus,
mir gefällt deine Gesichte auch gut, besonders der Anfang (die 1. zwei Sätze)
Was den "Pudding" angeht schließe ich mich Nachtschatten an- gefällt mir in dem Zusammenhang auch nicht, passt nicht richtig rein, aber das is wohl Geschmackssache.
LG borboleta

 

Hallo Cerb,

Mich hast Du mit Deiner Geschichte ein Stück mitgenommen, mit dem alten Mann. Du erzeugst mit einfachen Worten und schlichten Sätzen eine lebendige Atmosphäre. Ich fand gerade was nils kritisiert hat (die Enflechtung der krusiven Sätze) gelungen, da sie die Stimmung gut wiedergeben. Äußere Beobachtung des Jetzt, dazwischen innere Erinnerung von damals. Man ist außen irgendwo, die Augen sehen irgendwas, aber man ist innen bei den Dingen die einen bewegen, berühren, nicht loslassen. Gerade, dass Du daneben die äußeren Dinge weitergehen lässt, finde ich gut. Es hat auch einen dynamischen Aspekt.

Mein einziger Schal liegt noch immer im Wäschekorb. Er steht dort, seit ... ich habe einen neuen Korb gekauft.
dort? das passt mE nicht, weil jeder fragt: wo denn? Aber eigentlich ist es nebensächlich ...
Lisbeth. Neihhhinein!
Das war die einzige Stelle, die mir zu plakativ war, man kann sich den Schmerz auch ohne das Neihhhinnein vorstellen ... das hat mich fast an Comicsprache erinnert - und die passt ja nun garnicht.

liebe Grüße
Anne

 

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