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Vergiß, wenn du leben willst
Alle zwei Minuten rappelt das Gerät neben mir. Die Pausen dazwischen sind unendlich. Die Elektroden auf meinem Bauch zeichnen ein Muster auf. Ich versuche, es zu verstehen, die Linien zu entwirren.
Was bedeuten sie? Ist es gut, wenn sie gleichförmig und flach bleiben, oder ist es besorgniserregend? Warum ernüchtern diese Striche so? Enttäuschen jene Frau, die nicht zu lächeln vermag, wenn sie dann und wann die Schlange aus Papier flüchtig überfliegt.
Ich fürchte mich vor ihrem Mund, den zusammengepressten Lippen, die so zusammengeschweißt wirken, als könnte sie nie aussprechen, was sie zu sagen hat.
Niemand hat es ausgesprochen, hat gesagt, was ist. Die Ungewissheit macht mich verrückt. Ich fühle Angst, suche Ablenkung, finde nichts, woran ich mich festhalten kann, in diesem Zimmer, weiß und grell. Ich beobachte die Maschine, weil meine Augen daran haften bleiben, erwarte was geschieht, weiß, alle zwei Minuten kündigt sie es an, mein Herz wird mir bis zum Halse schlagen, endlich geht der Papierwust zu Boden. Sehe nur: immer dieselben Linien, parallel verlaufend, mit einem Unterschied, die eine zeigt eine Spitze, die andere einen Wellenberg.
Die Zeit baut sich vor mir auf, ich spüre mein Leben ist nur noch auf diesen Raum beschränkt. Ich bin hilflos, kann mich nicht rühren, bin starr.
Ich habe es nur zufällig erwähnt, eher belanglos, als der Klinikarzt meine Blutzuckerwerte überprüft hat. Es ist mein letzter Arbeitstag gewesen. Meine Kollegen haben mich in den Mutterschutz verabschiedet. Irgendwie ist es sehr seltsam gewesen. Die ganze Zeit hat mich das Gefühl beschlichen, meine Kollegen nie wieder zu sehen. Ich bin traurig gewesen. Dabei weiß ich doch, in ein paar Wochen sitze ich wieder hier, an meinem Schreibtisch. Kehre zurück, werde arbeiten, als sei nichts gewesen. Keine Geburt, kein Kind, kann mich davon abhalten, es muss so sein, weil ich alleine für das Kind sorgen werde. In mir ist eine Kraft, aus der ich schöpfen möchte, seit ich weiß, ich erwarte ein Kind. Der stechende Schmerz im Oberbauch, ist irgendwie nur störend. Ich verdränge ihn, will lieber glauben, alles im Griff zu haben.
So wie ich auch den Diabetes in den Griff bekommen habe.
Die Schwangerschaft ist nicht einfach. Nicht nur, weil ich mit 37 Jahren schon eine Spätgebärende bin. Ich erkranke, muss Insulin spritzen. Obwohl ich mich vor den Nadeln fürchte, gelingt mir es. Ich bin stolz.
„Seit wann haben sie diese Schmerzen?“, hat der Arzt mich gefragt. Das Krankenhaus liegt auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Die Schmerzen im Oberbauch dringen in mein Bewusstsein, als ich nach der Verabschiedung in das Auto steige.
„Seit heute morgen? Ist etwas?“ Ich sehe den Arzt an. Er ist nett. Noch sehr jung, wirkt ein wenig tollpatschig, fast wie ein kleiner süßer Hund. Letzte Woche hat er mir gesagt, ich solle auf Schmerzen achten, fällt mir in diesem Moment ein. Ich weiß noch, wie ich geantwortet habe. Ein wenig keck, weil er mir gefiel, seine Besorgnis rührend war. „Wollen Sie mich wieder sehen? Sie können mich zum Essen einladen und aufpassen, was ich esse.“
Sein Blick hastet über die Akte. Nach einer Weile antwortet er mir:
„Ich sagte Ihnen bereits letzte Woche, dass Ihre Leberwerte überwacht werden müssen.“
Tatsächlich ist es so gewesen, er hat es gesagt. Ich erinnere mich.
Ich habe ihn aber nur angelacht. Habe gesagt: „Na ja im Alter wird die Leber manchmal schwach.“ Bin einfach gegangen, sorglos, wollte nichts ernst nehmen. Es war mir zu viel.
Jetzt nehme ich ihn ernst, da ich sehe, wie es ihm schwer fällt, mit mir zu sprechen. Ich bin verwirrt. Was haben meine Leberwerte mit dem Blutzuckerspiegel zu tun?, denke ich. Ohne mich anzusehen sagt er: „Sie sind in der 35. Woche. Vielleicht haben wir Glück, aber es könnte sein, dass wir durch den Uterus in die Lunge des Kindes injizieren müssen.“
Ich verstehe nichts von dem, was er sagt. Warum sieht er mich nicht an?
„Ich kann nicht nach Hause? Ich soll hier bleiben?“ höre ich mich mit einer fremden Stimme fragen. Sie ist sehr hoch und doch leise. Ich würge an dieser Frage, weil mein Hals wie zugeschnürt ist.
Endlich sieht er mich an, fasst mich bei meinen Händen. Ich fühle die Wärme seiner Haut, bemerke, wie kalt meine sein muss.
„Nein. Sie müssen umgehend auf die Entbindungsstation. Ihr Diabetes ist sekundär.“
Ich möchte, dass er meine Hände nicht loslässt. Doch es geschieht, als er sagt: „Es kommt in fünf Minuten ein Krankenwagen, der Sie rüber fährt.“ Ich weine.
Die Tränen strömen nicht, wie bei einem Kind. Nein, so ist es nicht. Ganz verstohlen hängen sie im Augenwinkel, wollen unbemerkt hinab rinnen. Er sieht sie trotzdem. Streicht mir übers Gesicht sagt: „Ich werde für die Kollegen schon mal das Blut abnehmen und ins Labor bringen. Jede Minute zählt.“
Ich sehe zu, wie er geschickt die Kolben aufzieht. Er macht es gut. So wie immer. Auch wenn ich ihn geneckt habe, er sei ein blutrünstiger Vampir, er hat es immer gut gemacht.
„Mehr kann ich nicht für Sie tun“ sagt er.
Ich funktioniere, als Marionette, esse gehorsam alles auf, egal ob es schmeckt oder nicht.
Ich ruhe, so wie es von mir verlangt wird. Und doch finde ich keine Erholung. In mir ist eine Leere, die ich so, noch vor wenigen Tagen, nicht gefühlt habe. Jedes Mal, wenn ich in mein Innerstes gehorcht, habe ich auch die Präsenz meines Sohnes gefühlt. Habe geglaubt, ihm Zuversicht und Kraft geben zu können, bis er stark genug sei, ins Leben zu treten. Nun ist mir, als sei ein Band zerrissen. Immer wieder versuche ich es, zusammen zu knoten, hoffe etwas zu finden, aus dem ich wieder Kraft gewinnen kann.
Das ist, glaube ich, jetzt drei Wochen her. Man hat mir die Verantwortung für unser Leben abgenommen. Wir liegen hier, abwartend.
Gleichförmig unendlich ist die Zeit. Dass es weitergeht bemerke ich an den Frauen, die das Zimmer mit mir teilen und wieder gehen. Schicksale häufen sich auf. Alle sind sich bewusst, wer hier landet, kann Hoffnung in sich tragen. Einige verlassen diese Obhut unter Tränen, weil alles Bangen keine Früchte trägt. Manche gehen erleichtert, weil der anfängliche Verdacht sich nicht erhärtet hat. Ich bin hier, mit einer Ahnung, aber nicht mit Gewissheit. Warum haben sie es mit mir so schwer? Ich spüre doch keine Schmerzen mehr. Mir geht es, abgesehen von den üblichen Beschwerden, gut.
Der junge Arzt von der Diabetesstation hat mich angerufen. Ich höre seine Erleichterung, als ich ihm erzähle, dass mein Kind noch nicht geholt werden musste. Freue mich, dass er angerufen hat.
„Sie dürfen sich nicht sorgen“, meint eine Hebamme, die Daten aus der Papierschlange in eine Akte überträgt. Auch sie ist noch jung, Anfang zwanzig vielleicht. „Es schadet nur. Denken Sie doch an ihr Kind!“
Ich könnte schreien. Natürlich denke ich an das Kind, will dass es gesund ist, spreche mit meinem Bauch, der sich soweit vorgewölbt hat, dass ich meine Füße nicht mehr sehe. Ich sehe mein Kind vor mir, will es anfassen, riechen, hören, will seine Haut auf meiner fühlen. Ich habe keine Vorstellung von dem, wie es aussieht, nur ein Empfinden: von unnachahmlicher Nähe, von Liebe... und von Verlust.
Ich erinnere mich an einen tiefabgründigen Strudel. Den ich hinabwirbelte, in den ich taumelte, als ich mich verliebt habe. Ich sehe mich streiten, verletzen, zermürben, höre Worte, die alles verändern: „Ich war in dich verliebt, geliebt habe ich dich nie. Verzeih mir, dass du glauben konntest es gäbe eine Zukunft für uns."
Das war das Ende? Von was? Hatte es einen Anfang gegeben? Ich habe vor ihm gestanden, meine Hände zu Fäusten geballt. Die Fingernägel gruben sich in die Handinnenfläche, sollten hinwegtäuschen, als ich sagte: „Du bist frei, kannst machen was du willst, ich halte dich nicht.“
Als er fort ging, entwich zugleich diese Anspannung, die meinen Körper gefangen gehalten hatte.
Plötzlich war da dieses zarte Klopfen ...
Woher kommt es? Es ist da. In mir. Schmetterlinge klopfen in meinem Bauch. Zeigen mir wohin, mein Weg führen wird. Ich weiß, es wird nicht einfach. Entscheide mich. Es ihm nicht zu sagen.
Ein grässlicher Schmerz durchzieht mich. Zu früh, hetzen noch meine Gedanken, als das Gerät neben mir aufgeregt fiept. Sie schieben mich durch die Flure.
Hastig unbesonnen oder kontrolliert eilfertig? Ich habe Angst. Die Schmerzen überrollen mich. Ich komme nicht dagegen an. Noch nicht!, flehe ich. Im Kreissaal nur fremde Gesichter. Ich bin erschöpft, will mich verkriechen. Sie lassen mich nicht. Und dann merke ich, den Lebenswillen meines Sohnes, spüre meine Stärke zurückkommen. Fühle mein Kind, wie es sich seinen Weg in die ungewisse Zukunft bahnt. Seine Zuversicht ist meine.