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Vergib mir, Jacky
Die Tür gab nach und Jack stürzte in fliegender Hast hindurch. Um ein Haar wäre der Junge über seine eigenen Füße gestolpert und der Länge nach hingeschlagen. Im letzten Moment fing er sich und jagte weiter. Panisch flog sein Blick durch den Flur, suchte nach einem Versteck. Jacks Verfolger war ihm dicht auf den Fersen.
Irgendwie musste er hier wieder rauskommen. Zwei weitere Türen. Die erste führte ins Wohnzimmer. Kein Versteck, kein weiterer Durchlass. Die andere gab den Blick auf die Küche frei.
Jack rannte los. Am Rande seines Bewusstseins registrierte er, dass seine Umgebung alt, verkommen und verlassen war. Von innen zeigte das Haus, was es von aussen hatte vermuten lassen. Keine Hilfe zu erwarten.
Schmerzhaft stieß Jack gegen den Türrahmen, strauchelte und verlor sein Gleichgewicht. Tief atmete er den Staub ein, den er aufwirbelte. Hustete und atmete noch mehr ein.
Seine Lungen brannten. Lange würde er nicht mehr fliehen können. Bei jedem Atemzug schien seine Lunge zerreissen zu wollen. Das Knie, auf das er gefallen war, schmerzte höllisch.
In nackter Panik kroch Jack weiter. Seine Gedanken flatterten, wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm, durch seinen Kopf. Keine Zeit. Weiter, WEITER!
Ächzend rappelte er sich hoch; humpelte so schnell und so gut es ging an der Anrichte vorbei. Dabei stieß er zurückgelassene Töpfe zu Boden und ließ sie achtlos hinter sich zurück, den Blick starr auf die Tür konzentriert. All sein Denken auf den Fluchtweg fixiert, hoffte er inständig auf einen Garten, oder eine weitere Straße.
Stattdessen ein anderer Flur. Eine Treppe. Jack warf keinen Blick zurück, lauschte nur auf Schritte und ob sich die Tür öffnen würde. Hatte er ihn schon abgehängt?
Jack warf sich regelrecht die Stufen empor, doch sein lädiertes Knie gab unter ihm nach. Hilflos ruderte Jack mit den Armen, prallte trotzdem hart auf die Stufe und biss sich tief in die Zunge. Blut begann sofort aus seinem Mund zu rinnen und in dicken Tropfen auf die Stiegen zu fallen. Er beachtete es nicht. Sein Blick war starr auf das obere Ende der Treppe gerichtet.
Mit letzter Kraft zog er sich die Stufen empor. Jede genommene Hürde ließ den Schmerz in seinem Körper explodieren und doch gab er nicht auf. Oben kroch er zur nächstgelegenen Tür, stemmte sich hoch und öffnete sie, wobei sein Knie vor Schmerzen schrie.
Ein Schlafzimmer. Ein Schrank. Hoffnung flammte auf. Nur noch ein wenig weiter. Dann wäre es geschafft.
Im Stockwerk unter sich hörte Jack, wie die Haustür aufgerissen wurde. Hörte wie Schritte von schweren Stiefeln auf den Dielen polterten.
Die Angst verlieh Jack Flügel. Pures Adrenalin schoss durch seine Adern. Er kroch, er robbte, schließlich krabbelte er sogar zum Schrank, warf sich hinein und zog die Tür hinter sich zu.
Dunkelheit umfing ihn. Stickige Dunkelheit. Muffiger Gestank von zerfallenden Kleidern.
Blut pochte hinter Jacks Schläfen, hämmerte auf sein Gehirn ein und machte ihn taub. Nicht einmal seine eigenen keuchenden Atemzüge hörte er.
Jack kniff die Augen zusammen. Zwang sich flacher zu atmen. Lauschte.
Nichts. Stille. Dann ein wütend zur Seite getretener Kochtopf. Er war in der Küche.
Jack hielt die Luft an, zwang sein Herz ruhiger zu schlagen. Doch es half nichts. Ihn flimmerte es vor den Augen und keuchend entwich ihm die angesammelte Luft.
Schritte auf der Treppe. Das langsame Knarren der Stufen, wenn sich Gewicht verlagerte. Er ließ sich Zeit.
Ohne dass Jack es bemerkte, rannen ihm Tränen aus den Augen. Seine Blase entlud sich heiß zwischen seine Beine und klebte ihm die Hose an den Hintern. Der Tag war zuviel für ihn gewesen. Seine heile Welt hatte sich in eine Hölle verwandelt.
Jack wusste, dass er um sein Leben gerannt war. Und nun blieb ihm nur noch die Hoffnung.
Mit einem Krachen flog die Tür zum Schlafzimmer auf und Jack zuckte zusammen. Seine Augen standen weit offen und der Atem flog flach und schnell durch seinen Mund. Bluttropfen spritzten unbemerkt auf seine Knie, die er mit festem Griff umklammert hielt. Die Hände ineinander verknotet.
Zielstrebig näherten sich seine Schritte dem Schrank und als die Tür aufgerissen wurde, wusste Jack, dass es vorbei war.
“Vergib mir, Jacky ...“
*
Die Seitenstraße spie Jack direkt auf die Mainstreet, hinein in die gesichtslose Masse New-Yorker Pendler. Jacks Blick jagte durch die Menge, suchte nach einem Cop. Suchte nach etwas Sicherem.
Obwohl erst zwölf Jahre alt, war Jack nicht naiv. Er wusste, dass die New Yorker ihm keinen Schutz bieten würden. Courage hieß hier, sich selbst der Nächste zu sein. Man würde sich nicht um ihn kümmern, selbst wenn er schreiend durch die Straßen liefe.
Er musste sich entscheiden, in welche Richtung er sollte. Links oder rechts? Mit dem Strom oder dagegen?
Die Entscheidung wurde Jack abgenommen, als er plötzlich von der dummen Herde mitgeschleift wurde. Er versuchte schneller vorran zu kommen. Weiter fort von seinem Verfolger. Wenn er eine U-Bahn-Station erreichen könnte, wäre er vermutlich in Sicherheit, doch vergeblich suchte er nach einem Schild, das Auskunft gab. Zu weit war er in eine Gegend vorgedrungen, in der er sich nicht auskannte.
Kurz blitzte in ihm der Gedanke auf, in ein Taxi zu steigen. Die Gefahr, während des Heranwinkens von ihm eingeholt zu werden, schien zu groß. Jack wollte sich nicht ausmalen, was dann passieren würde. Zu gut konnte er sich vorstellen zur Seite gezerrt zu werden und an einer Hauswand zusammenzusinken, ein Messer in der Brust.
Der Gedanke ließ in weitereilen. Hastig blickte Jack über die Schulter zurück und sah ihn grade aus der Seitenstraße herausstürzen und sich suchend umblicken.
Bestürzt duckte sich Jack, strauchelte und brachte eine Frau in einem modischen Sommerkleid zu Fall, die ihn sofort angiftete.
„Kannst du nicht gucken wo du hinläufst, du kleine Kröte?“
Jack beachtete sie gar nicht, rappelte sich wieder hoch und drängelte sich durch den Sumpf von Leibern, in dem er drohte steckenzubleiben und zu ertrinken.
Zu Jacks Linken öffnete sich plötzlich eine schmale Seitengasse, die ihn an ein überdimensioniertes, zahnloses Maul denken ließ.
Keine Zeit für kindische Ängste. Jack tauchte in die Spalte, seine ganze Hoffnung darauf richtend, er habe seinen Ausfall aus der Menge nicht bemerkt.
Schmutz und Unrat bedeckten den Asphalt. Nicht einmal ein Penner hatte sich hier niedergekauert oder unter eine Zeitung gekrümmt, um seinen Rausch auszuschlafen. Vom einen zum anderen Moment schien die Menschheit getilgt zu sein. Über der Schulter konnte Jack immer noch das unablässige Vorbeiströmen sehen, doch diese Gasse war absolut verlassen.
Unnütze Gedanken. Jack hastete weiter. Sein Blick streifte Mülltonnen, glitt über Vorsprünge und suchte in aufsteigender Panik nach einer Fluchtmöglichkeit. Die Gasse schien ein totes Ende zu sein.
Tränen traten in Jacks Augen und ließen sein Blickfeld verschwimmen. Er stolperte gegen irgendetwas, griff in etwas Schleimiges, blieb jedoch nicht stehen. Es musste doch einen Ausweg geben.
Beinahe so als hätte sich jemand seinem Wunsch erbarmt, stolperte Jack auf eine Tür zu. Er griff zu und schrie frustriert auf, als sich die Klinke nicht bewegte. Ohne sich umzublicken, hörte Jack die sich nähernden Schritte in der Gasse wiederhallen.
Es gab nur noch eine letzte Chance. Er war erst zwölf Jahre alt und nicht einmal sonderlich groß für sein Alter, doch mit dem Mut der Verzweiflung warf er sich gegen die Tür.
*
„Ich habe deine Mutter geliebt!“ Tränen rannen die stoppelige Wange hinunter, den Blick ins Unendliche gerichtet. Seine Stimme klang entrückt, seltsam verträumt.
„Ich muss dich töten. Ich kann dich nicht leben lassen. Bitte verzeih mir, Jacky.“
Er griff unter seine Jacke.
Verzweifelt riss Jack seinen Fuß hoch und traf ihn zwischen den Beinen. Der Tritt war nicht kräftig, doch überraschend genug den Mann in die Knie zu zwingen. Der Griff lockerte sich. Jack versuchte sich loszureißen, aber er war schnell und erwischte ihn am Ärmel.
Jacks Flucht wurde jäh unterbrochen und er selbst zurückgeschleudert. Er hatte Glück. Durch sein Gewicht riss der Ärmel und Jack war wieder frei. Mit hastigen Bewegungen strampelte er sich von ihm fort und stürzte durch den Flur auf die Tür zu. Er war dicht hinter ihm. Fast glaubte Jack seinen Atem im Genick spüren zu können.
Seine Finger waren schweißnass und beinahe wäre er an der Türklinke abgeglitten. Jack riss die Tür auf und jagte ins Freie, traute sich nicht sich umzuschauen, Angst ihm direkt in die Augen zu blicken.
Er rannte die Straße hinunter, lief zwischen Häuserschluchten entlang und hörte dabei immer die jagenden Stiefelabsätze hinter sich auf den Asphalt schlagen.
Niemand nahm von ihnen Notiz. Dem Jungen, der um sein Leben rannte und dem Mann, der gleichfalls um das Leben des Jungen rannte.
Jack wusste nicht mehr wo er war. Zu oft hatte er Haken geschlagen und war durch neue und fremde Straßen gelaufen. Seine Beine begannen müde zu werden und drohten unter ihm nachzugeben.
Jack bog in eine weitere Seitenstraße ab und hoffte ihm entkommen zu können.
*
„Ich bin wieder zu Hause, Mom!“
Mit einer lässigen Bewegung ließ Jack die Schultasche von der Schulter gleiten und achtlos im Flur auf den Boden fallen.
„Mom?“
Jack zuckte mit den Achseln. Statt sich weiter Gedanken zu machen, goss er sich ein Glas Nesquick ein und setzte sich an den Küchentisch, um in seinem Comic weiterzublättern. Die Stille im Haus hielt ihn jedoch nicht lange und so ging er ins Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten.
Im Fernsehsessel saß seine Mutter, den Rücken Jack zugewandt.
„Ach, da bist du, Mom. Warum antwortest du mir denn nicht?“ fragte Jack, während er zwischen den Couch-Kissen nach der Fernbedienung suchte.
Keine Antwort.
„Mom?“ flüsterte Jack und drehte langsam den Kopf in ihre Richtung. Er rechnete mit dem Schlimmsten, doch was er sah versetzte ihm einen solchen Stich, dass er wimmernd in sich zusammensank.
Helen Parkers Kopf war kraftlos auf ihre Brust gesunken. Ihre blicklosen Augen starr auf ihre schlaff zusammenliegenden Knie gerichtet. Blut war ihr aus dem Mundwinkel geflossen und auf die weiße Bluse getropft. Unter ihrer rechten Brust hatte sich alles tiefrot verfärbt.
„Mom?“ krächzte Jack, zu kraftlos um aufzustehen oder sich ihr überhaupt zu nähern.
„Mom, was ist mit dir?“
Jack wusste, was mit ihr war. Trotzdem konnte er nur verständnislos in ihr schlaffes Gesicht schauen. Kein Gedanke an Polizei, oder den Notruf. Er konnte den Blick nicht von seiner toten Mutter abwenden. Wie hatte dies geschehen können? Wie war das möglich? Das konnte einfach nicht möglich sein.
Etwas Schwarzes wuchs in sein Blickfeld. Jack hatte noch einen kurzen Moment Zeit, sich zu fragen, ob er grade ohnmächtig würde, als ihn eine starke Hand packte und in die Höhe riss.
„Jack.“
Völlig verständnislos blickte Jack in die Augen des Mannes, die in seine stachen.
„Was tust du hier, Jack?“
„Ich?“ krächzte Jack mit tränenerstickter Stimme. „M... Mommy ...“ stammelte er.
„Ja, ich weiß, Jack. Sie war eine Schlampe. Sie hatte viele Männer. Sie wusste nicht einmal, ob du von mir bist.“
Dad? Daddy? Oh bitte nicht. Bitte, bitte nicht! Tu das nicht ... Doch kein Ton kam heraus.
Die Stimme des Mannes brach. Der Griff wurde noch fester um Jacks Arm, dass er glaubte seine Knochen müssten jeden Moment zersplittern.
Die Augen, die Jack immer noch fest ansahen, verschwammen in Tränen. „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich wollte nicht, dass du es siehst. Aber jetzt bleibt mir keine Wahl mehr.“