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Verkabelt
Ein junger Mann saß auf einer Parkbank und las in einem Buch. Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war und setzte mich neben ihn auf die Bank.
"Entschuldigen Sie junger Mann, was lesen sie da?"
Er sah mich misstrauisch, aber nicht unfreundlich an und sagte: "Einen Krimi."
"Sehr schön. Kennen Sie Lucas Leistenschneider? Das ist mein Lieblingskrimischriftsteller. Nie werde ich seine letzten Worte vergessen: 'Jetzt musst Du mein Werk fortsetzen!' "
"Na klar kenne ich Lucas Leistenschneider. Ein genialer Schreiber! Aber der ist doch vor zwei Jahren ertrunken. Wem soll er da 'letzte Worte' gesagt haben?"
"Mir. Und ich habe Wort gehalten mit TOD AM SEE."
Der junge Mann konnte es nicht fassen.
"Echt? Sie sind Michael Mordstein, der TOD AM SEE geschrieben hat?"
Er sah mich bewundernd an. Ich genoss die stille Verehrung und blickte siegessicher in die Ferne. Dieser junge Mann würde mir weiterhelfen. Das spürte ich.
"Ich frag' mich immer, wie man so echt schreiben kann, als ob man es selbst erlebt hätte. Ihr Roman kommt für mich gleich nach KALTBLÜTIG von Capote. Okay, Capote hatte einen Tatsachenbericht geschrieben, aber bei Ihnen bekommt man das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein."
Er lachte mich an:
"Wie war das nochmal? Da hatte sich angeblich das LKA an sie gewandt, weil die wissen wollten, woher Sie das alles wüssten? Das ist unglaublich. Die dachten, dass sie mit einem Killer unter einer Decke stecken, weil die gerade genau so einen Typen gesucht hatten, den Sie in Ihrem Roman beschrieben haben. Das muss man sich mal vorstellen!"
"Nein," entgegenete ich, "das LKA hat sich nicht deswegen an mich gewandt..."
Er winkte ab: "Ach, was die Zeitungen schreiben. Aber Sie schreiben sicher an einem neuen Buch? Verraten Sie mir, worum es geht?"
Ich zögerte. "Nun, ich..."
"Okay, ich verstehe. Entschuldigen Sie. Natürlich werden Sie nicht darüber reden wollen. Wahrscheinlich passiert Ihnen das ständig, dass Sie über Ihr neues Buch ausfragt werden. Ich hoffe ..."
"Aber nein", unterbrach ich ihn, "das stört mich überhaupt nicht. Ich würde Ihnen sehr gerne meinen neuen, noch unfertigen Roman vorstellen, wenn es Sie interessiert. Ich würde zu einigen Punkten Ihre ehrliche Meinung hören wollen. In Kriminalliteratur kennen Sie sich ja bestens aus."
Er schien zu platzen. "Sie meinen, Sie wollen mich um Rat fragen?!"
"Naja, nicht direkt. Wie heißen Sie eigentlich?"
"Bill Bockhardt!" Er streckte mir seine glatte, haarlose Hand entgegen. Ich packte sie und spürte seinen weichen Händedruck. Mit Leichtigkeit, bildete ich mir ein, hätte ich sie zusammendrücken können wie eine Packung Wiener Würstchen, ließ es ihn aber nicht merken.
"Hallo Bill! Ich bin Michael. Du kannst mich Micha nennen." Ich hüstelte etwas verlegen.
Bill strahlte.
"Bill!" wiederholte er sich.
Endlich ließ mich seine schwitzige Hand los.
"Lass uns etwas spazieren gehen, Bill."
Er stand fast gleichzeitig mit mir auf und schien mir nie wieder von der Seite weichen zu wollen. Stolz schritt er neben mir her und wünschte sich wahrscheinlich, dass ihn alle seine Freunde so sehen konnten, wie er mit mir, einem so erfolgreichen Autor, hier spazierenging.
Ich schlug ihm unvermittelt einen Haken in den Unterleib. Bill beugte sich röchelnd nach vorn. Ich griff ihn schnell unter die Arme und zog ihn in das dichte Buschwerk am Wegrand.
Bills Achselhöhlen waren schweißnass und mich überkam leichter Würgereiz.
Angewidert ließ ich los. Bill fiel in die Hocke und noch bevor er sich mir mit blödem Gesichtsausdruck zuwenden konnte, rammte ich ihm mit der Schnellkraft eines Elfmeterschützen mein rechtes Knie in die Visage. Es krachte und er fiel hintenüber. Einen Moment dachte ich, dass mein Knie viel mehr schmerzen musste, als seine gebrochene Nase. Aber der Schmerz verflog schnell und Bill lag regungslos in den Sträuchern.
Mit dem Fuß drehte ich Bill auf die Seite und drückte mit dem spitzen Schuhende auf seiner angeschwollenen Nase herum, damit das Blut abfließen konnte. Bill durfte nicht ersticken. Nicht jetzt.
Mit Plastikkabelbindern zurrte ich seine schwitzigen Handgelenke auf dem Rücken zusammen.
Bill stöhnte. Ich hielt ihm den Mund zu, mit der anderen Hand hielt ich ihm ein Teppichmesser an das mir zugewandte, mich anglotzende Auge.
"Psst, Bill. Keinen Ton, wenn du deine Glupscher behalten möchtest."
Ich nahm meine Hand von seinem Mund. Einen Moment verbanden uns noch lange, blutige Speichelfäden und ich stach angewidert eine Einwegspritze mit Betäubungsmittel in seinen Körper und drückte ab.
"Bill, Du wirst gleich einschlafen. Aufwachen wirst du in einem Grab. Gut - die Idee ist nicht neu. Aber der Clou ist, dass wir uns unterhalten werden, Bill. Ich werde dir ein Luftloch lassen und dich verkabeln, so dass wir in Kontakt bleiben werden. Du wirst mir von da unten alles erzählen, was einem lebendig Begrabenen so durch den Kopf geht."
Bills Auge weitete sich angstvoll. Ich drückte die Klinge des Teppichmessers direkt auf seinen Augapfel.
"Mal sehen, wenn du es gut machst, Bill, hole ich dich vielleicht wieder 'raus. Das müsste doch genau deinen Geschmack treffen, was Bill?! Nichts bereitet dir doch mehr Vergnügen, als von realistischen, bis in alle Einzelheiten minutiös geschilderten, bestialischen Morden zu lesen. Und jetzt darfst du live dabei sein! Du bist sogar die Hauptfigur in meinem neuen Roman STIMME AUS DEM GRAB!"
Bill ächzte und sein Körper sackte in sich zusammen. Die Betäubung schien einzusetzen. Näselnd und hustend sagte er mit matter Stimme:
"Ich bin von der Polizei. Schneiden Sie mich sofort los!"
"Ach ja, diese Tour. Was willst du damit erreichen, Bill? Meinst du ich fall' auf so einen alten Trick 'rein?"
"Wir beobachten Sie seit der Sache mit Leistenschneider, weil wir ihnen nichts nachweisen konnten, Mordstein. Aber wir wissen alles über sie: Ihre Vorbereitungen, wo sie nach potentiellen Opfern suchen, ...alles. Meine Leute müssten gleich hier sein."
"Aber wer wird denn deinen Freunden bescheid sagen, Bill?"
"Das haben Sie selber... Ich bin verkabelt, du Arsch."