verlaufen
Verlaufen
Mein Orientierungssinn ist außergewöhnlich gut ausgeprägt. Ehrlich. Schon so manches Mal hab’ ich diverse, von sich eingenommene Männer in die Tasche bzw. in den Taschenplan gesteckt. Ja, mein Orientierungssinn ist wirklich ausgezeichnet.
Deshalb ist mir auch in der fremdesten und größten Stadt nicht bange, wenn ein guter Plan in der Nähe ist.
Waikiki ist ein Kinderspiel für mich. Den Weg zum Strand habe ich in der ersten Nacht sogar instinktiv gefunden.
Am nächsten Tag zeigt mir ein Blick auf die Straßenkarte, dass ich hier wahrhaft nichts zu fürchten habe. Vom „Ala Wai Canal“ bis zum Strand sind es nur 3 Straßen und die laufen auch noch parallel. Die Straße, in der sich mein Hotel befindet, heißt „Kuhio Avenue“, die große direkt am Strand „Kalakaua Avenue“. Mehr muss ich nicht wissen.
Nun bin ich schon 4 Tage hier und genieße den allabendlichen Spaziergang am Strand von Waikiki. Einige Leute sind immer unterwegs. Die großen Hotels, allen voran das eigenwillig gebaute, rosafarbene „Hawaiian Royal Hotel“, beleuchten mit großen Scheinwerfern den Strand. Von dort aus sieht man, wie elegant gekleidete Touristen ein offenbar köstliches Essen genießen und von kleinen Musikkapellen mit meist einer Hulatänzerin unterhalten werden.
Die sich abkühlende Luft streift meine Haare, das rauschende Meer ist an meiner Seite, meine nackten Füße fühlen den warmen Sand und mein lächelndes Gesicht ist den Terrassen der Hotels zugewandt, was kann es Schöneres geben? Ich bin auf Hawaii.
Es ist spät. Sicher nach Mitternacht und schon lange dunkel. Heute gehe ich mal einen anderen Weg zurück. Ich entdecke neue Stores. Einige haben schon geschlossen. Ganz langsam kommt auch Honolulu zur Ruhe.
Mein Kopf ist noch voller Eindrücke. Trotzdem: ich wundere mich, warum mein Weg so lang ist. Eigentlich hätte ich schon längst auf der nächsten großen Straße sein müssen. Ich gehe weiter. Vorn ist eine Ecke. Sicher kann ich mich wieder orientieren, wenn ich erst mal dort bin.
Angekommen. Endlich. Immer mehr spüre ich die aufsteigende Müdigkeit, während ich nach einem Straßenschild suche. Es gibt keins. Jedenfalls nicht hier. Oh je. Wie heißt diese Straße? Wo bin ich? Hier bin ich definitiv noch nie gewesen.
Was soll ich tun? Wen soll ich fragen? Wieder umdrehen? Den Weg zurücklaufen? Gut und gerne wäre ich dann über eine Stunde zum Hotel unterwegs. Was mache ich nur? Meine Augen suchen die Straße ab.
Unglaublich. Plötzlich entdecke ich einen Polizisten. Er ist nur einige Schritte von mir entfernt. An seinem Gürtel baumelt ein Stadtplan. Den hat der Himmel mir geschickt.
Als er auf meiner Höhe ist, spreche ich ihn an. „Ich suche mein Hotel“, sage ich, „das Ohana Waikiki Surf“. An seinem Gesicht sehe ich, dass er das nicht kennt. Wie gut, dass ich jetzt sagen kann: “es ist in der Kuhio Avenue“. Aha. Er hat verstanden und beschreibt mir den Weg. Doch Wortbeschreibungen, dazu noch in Englisch, sind mir ein Gräuel. Zwei links, zwei rechts. Wie ein Strickmuster. Wer soll sich das merken?
Ich weiß was Besseres. Ich bitte ihn, mir den Plan zu zeigen. Er tippt mit dem Finger auf die Stelle, an der wir uns jetzt befinden.
Jetzt verstehe ich. Unmerklich bin ich einen Bogen gelaufen und habe mich dabei immer mehr vom Hotel entfernt.
Aber so schlimm ist es gar nicht. Wenn ich bei der nächsten Querstraße abbiege, komme ich direkt auf die Kuhio Avenue und im nächsten Block liegt mein Hotel.
Bin ich froh. Vielen Dank. „Mahalo“, sage ich zu ihm. Er lächelt. Ich kann auch wieder lächeln.
In etwa 15 Minuten werde ich mein Hotel erreichen. Ein großer Stein fällt von meinem Herzen.
Nun kenne ich die Stadt noch besser und mich auch. Nichts und niemand ist unfehlbar. Selbst mein Orientierungssinn nicht.