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Verlorene Zeit
Als ich endlich hinging, um nachzusehen, stand der Hof hinterm Haus längst voll im Licht. Das Moos, das überall klebte, am Blumentrog, in der Abflussrinne, am Regenfass, leuchtete von der Sonne.
An der Mauer hing die Dartscheibe. Die Pfeile streckten ihre Schatten abwärts bis über den brüchigen Putz. Eine Sonnenuhr, fand ich: Das Ziffernblatt war aus der Form gefallen, der Schatten schoss zu weit darüber hinaus.
Und wirklich, da saß er wieder, der fremde Mann. Wieder auf dem abgedeckten Liegestuhl. Das Mittagslicht streifte seine Wange steil.
Mit spitzen Knien und zusammengezogenen Schultern saß er auf der Kunststoffplane. Es war längst noch nicht Winter, nur der Wind brachte kalte Luft.
„Wie bist du hier hinten hereingekommen?“, fragte ich den Fremden.
Zur Antwort deutete er mit dem Kopf seitwärts. Das brusthohe Gatter war geschlossen. Dahinter reihten sich am Ufer die Pappeln. Der Himmel war weiß und blendete.
Der Mann hatte eine Kladde, ein Tagebuch, bei sich, hielt es in beiden Händen auf den Knien, zugeklappt, ein Stift steckte zwischen den Seiten.
Ich versuchte mich zu erinnern. Die Locken, die Halbrandbrille, die spitzen Knie. Wer konnte das sein?
„Ich bekomme keinen Besuch“, sagte ich. „Du musst dich irren. Niemand kommt zu mir.“
Er schob die Schuhsohlen tastend über die runden Kiesel, die in den Betonboden eingelassen waren und dort ein Muster zogen. Er saß da, in gefasster Unruhe, als wenn er hier zuhause war. Geduldig, als hätten wir gestritten und er kannte meine Schliche. Er kniff ein Auge zu gegen die seitwärts einfallende Sonne, als er mich ansah.
Er schreibe mein Leben auf, sagte er.
„Unsinn“, sagte ich.
Doch, sagte er, er schreibe jetzt einfach mein Leben auf. Ruhig und entschlossen sagte er das. Ja, fast wie nach einem Streit mit einem Kind.
Ich zeigte auf die Kladde in seinen Händen. „Mein Leben“, sagte ich. „In ein Buch? Das sieht falsch aus. Du musst ein einzelnes Blatt nehmen, jeden Tag ein neues, darauf schreibst du eine handvoll leere Worte, dann reißt du es aus und wirfst es weg. Das ist mein Leben.“
Warum saß er nicht in seiner Wohnung am Tisch, trank seinen Tee, aß seinen Kuchen, und schrieb auf, was immer ihm einfiel? Stattdessen krümmte er sich hier und fror in seinem dünnen Pullover. Was wollte er erfahren? Was sollte es geben, das nicht offensichtlich war? Ich ging schon lange nicht mehr vors Tor. Allenfalls einkaufen ging ich noch, das Wenige, was ich aß. Mit Sonnenbrille und Kopftuch drückte ich mich zwischen die Menge, so dass ich im Strom schwimmen konnte. Sonst ging ich nicht raus. Was wollte er da aufschreiben!
„Warst du schon mal hier?“, fragte ich, und er schaute mich weiter so an, forschend von unten her. Einer, der auf solche Fragen nicht antwortet. Als wollte er sagen: Fängst du wieder an?
Dabei hatte ich recht: Es gab nichts über mich zu sagen.
Ich bewohnte ein Zimmer, darin las ich Bücher in fremden Sprachen. Ich schrieb ja selbst nichts mehr auf, ich behielt nichts. Ich las wie im Nebel, erriet halb, was ich nicht verstand, schlug nicht nach. Ich las von Menschen, die es nicht gab, und kam nicht dahinter, ob sie aufstiegen oder untergingen, ob sie vor Lust zerbarsten oder vor Schmerz. Ich fühlte mich am sichersten, wenn es unklar blieb, ob ich es mit einem Namen zu tun hatte oder einem Ding. Ich las dann eilig darüber hinweg, um das Dunkel nicht versehentlich zu lichten. Etwas musste man tun über den Tag, damit sich die Zeit verlor.
Ich las, und manchmal machte es mir den Eindruck, etwas Derartiges sei einmal mein Beruf gewesen, ja, fast schien es mir wirklich so: Früher habe ich gelernt, übersetzt, nachgedacht, geschrieben, wie der Mann da draußen auf meinem Liegestuhl, und seine Locken wippten sicherlich, wenn er schrieb und wenn er umblätterte. Ich las hinweg über die falschen Namen und zählte die Seiten, die ich hinter mir ließ. Ich las, bis es dämmrig wurde.
Ich stand auf und trat wieder auf die Schwelle nach draußen, lehnte mich in den Türrahmen. Der Mann saß noch immer auf dem Liegestuhl, noch immer auf der alten Plane. Es war Zeit, ihn zur Rede zu stellen. Er schrieb wieder nicht.
„Wer hat dir von mir erzählt?“, fragte ich.
Er schloss die Augen, blies die Backen auf und wollte nicht antworten.
„Leg das Buch weg“, sagte ich, „es gibt nichts über mich zu schreiben.“
Es gehe ihm nicht darum, sagte er, nicht um jetzt. Es gehe darum, was davor, dazwischen gewesen sei.
„Vorsicht“, sagte ich, „es gibt nichts zu erinnern.“
Vielleicht doch, sagte er behutsam.
„Wer bist du?“, fragte ich. „Mein Bruder? Mein Freund? Wir haben uns geliebt, ist das so?“
Er hielt das Buch mit den weißen Blättern jetzt aufgeschlagen. Ich konnte nicht erkennen, ob inzwischen etwas darin stand.
„Bist du mein Sohn?“, fragte ich. Möglich musste es sein. Ich hatte nichts in der Hand, um es zu prüfen. Überhaupt hatte ich nichts mehr hier, nur Spielzeug von früher, und wenn ich mich doch an etwas erinnern wollte, nahm ich ein Plastikschiff, setzte es im Hof, dort hinter dem Liegestuhl, wo jetzt der Mann saß, ins Regenfass, drehte und schaukelte es in seinen eigenen Wellen, so wie damals, als ich noch auf die Steinstufe steigen musste, um dem Fass mit dem Kinn über den Rand zu reichen. Es war ungefährlich, sich an die Kindheit zu erinnern, sie war vorbei, sie bedrohte mich nicht. Etwas anderes gab es über mich nicht zu sagen. Ich hatte im Haus keine Spiegel, wie sollte ich wissen, wie alt ich war.
Ich sah den Mann an. Es war nicht klar zu sagen, ob er noch jung war.
Das schien für einen Augenblick ein tröstlicher Gedanke, dass der da mein Sohn sei, mein Kind, das groß geworden ist, eine Vorstellung war das, die, wenn ich ihn ansah, etwas Wahres haben konnte. Aber etwas an ihr stimmte zugleich auch nicht, sie passte nicht auf seine Gestalt, es gab einen Missklang. Es klang schief, wenn ich in seinem Gesicht nach ihrem Grund suchen wollte. Ich musste sie abweisen.
„Schau“, sagte ich, „es kommt niemand zu mir. Du bist hier nicht richtig.“
Er schrieb nicht, zog die Braue nach oben und schaute mich an. Als dachte er nach. Als könnte er mir etwas ansehen, das er in seine Kladde schreiben konnte, um zu behaupten, es sei mein Leben.
„Du kannst mir keine Angst machen“, sagte ich.
Er schüttelte nicht einmal den Kopf.
Er saß, dachte nach, die Schultern zusammengezogen. Er kratzte sich über den Jeansstoff am Knie, vergaß, was er da gerade tat und hielt die Falten zwischen den Fingern fest. Er gab kein Zeichen, dass er mich gehört hätte.
„Ja“, sagte ich versöhnlich, „was willst du darauf auch antworten.“
Es gehe nicht um Schuld, sagte er, ich müsse das begreifen.
Ich drehte den Kopf zur Seite. Richtig, fand ich, die Dartscheibe, dort hing sie an der Mauer, ganz wie eine Sonnenuhr mit verschobenen Ziffern. Jetzt hing sie im Schatten. Da steckten die Pfeile, bewegten sich nicht und zählten die Zeit. Alle Jahre fiel einer auf den Boden und blieb liegen: drei rote Pfeile. Nur rote sind gefallen, bisher. Die Ziffern oben tanzten im Kreis und taten, als gäbe es eine Vergangenheit.
Da schrieb der Mann — ja, jetzt schrieb er. Da wucherte seine Handschrift, da wippten seine Locken, wenn er umblätterte. Da saß er auf der Plane. Da stand hinter der Regentonne auf dem Fenstersims das Plastikschiff.
Er sah nicht auf, auch nicht, als ich näher hinging, so nah, dass ich ihm mit den Händen in die Locken hätte greifen können. Er schrieb flüssig, hastig beinahe, achtete nicht auf mich, nicht darauf, wie ich vor ihm stand, nicht darauf, wie ich mich wieder abwandte.
„Willst du nicht reinkommen?“, rief ich über die Schulter zurück.
Er hob die Hand - Warte!, konnte das heißen, oder: Lass mich! - und schrieb.
Nah am Bulls-Eye steckten die Pfeile im Holz. Ein blauer hing schräg, der fällt als nächstes, endlich ein blauer.