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Verlorene Zeit
Jessie schlüpft in ihre Jeans, zieht feste Halbschuhe an und verlässt geräuschlos durch die Hintertür ihr Haus. Wir wollen sie begleiten, immerhin bleiben wir unsichtbar und bringen uns somit in keine Schwierigkeiten – darauf sind wir wirklich nicht sonderlich erpicht.
Die Dame - der wir gerade folgen - hat ein bestimmtes Ziel. Ihre Schritte führen auf einen schmalen Pfad, der fast unerkennbar hinter ihrem Haus liegt. Ein ungeschultes Auge würde diesen Weg nicht erkennen, aber er ist da. Jessie weiß das. Wir wissen es auch, weil Jessie es weiß und unbewusst eine Führerrolle übernommen hat. Uns gegenüber.
Es dämmert bereits und die Bäume werfen Schatten. Jessie geht unbeirrt weiter, sie hat ein Ziel und hat sich in den Kopf gesetzt dieses zu erreichen. Ein Käuzchen schreit. „Wie in einem billigen Horrorfilm“, denkt Jessie und grinst. Ihr Grinsen ist unangenehm, wir sehen zum erstem Mal ihr Gesicht, nicht unhübsch, aber es gefällt uns trotzdem nicht. Wir können aber auch nicht sagen, was uns daran stört, vielleicht sind es die verkniffenen Mundwinkel. Vielleicht ist es aber auch der höhnische Ausdruck in ihren Zügen, der uns missfällt.
Über den Waldboden krabbelt ein großer Käfer, ein Hirschkäfer vielleicht. Wir können nicht lange genug einen Blick auf das Tier werfen um es zu identifizieren, denn Jessie hat den Käfer erspäht und tritt mutwillig darauf. Sie lächelt und stapft weiter. Wir starren empört auf die schwarze glitschige Masse auf dem Waldboden und können nicht begreifen, warum diese Frau, der wir gerade folgen, das tut. Scheint eine brutale Lady zu sein, das gefällt uns nicht. Aber wir geben kein Urteil ab, schließlich kennen wir Jessie kaum.
Jessie hat den von ihr zertrampelten Käfer vergessen, trampelt aber weiter auf dem kaum vorhandenen Pfad dahin. Der Trampel trampelt weiter.
Schaut mal, da ist ja schon das Haus, das Jessie anpeilt. Ihr Haus hat sie verlassen, aber ein anderes wird sie bald betreten. Wir sind ein bisschen verwirrt, weil es doch reichlich merkwürdig ist, einen so modernen Bau mitten auf einer Waldlichtung vorzufinden. Das Gebäude ist weiß gestrichen, imposant und mit großen Glasfenstern ausgestattet. Hinter den Glasfenstern wuseln Gestalten in weißen Kitteln herum, sie wirken sehr geschäftig.
Jessie betritt das Gebäude und geht auf die Rezeption zu, hinter der ein ebenfalls geschäftig wirkender Mann im weißen Anzug seine Arbeit tut. Soviel weiß schmerzt das Auge. Wir haben keine Sonnenbrille auf, also müssen wir dieses blendende Weiß ertragen. Wem es zuviel wird, der muss halt zurückgehen. Es ist ja nicht weit.
Die Dame die wir auf ihrem Spaziergang hierher begleitet haben, wartet. Sie ist nicht der/die einzige/einziger Kunde/Kundin an diesem Abend. Ob Jessie ihre Ungeduld bezwingen kann? Sie muss wohl, etwas anderes bleibt ihr nicht übrig, also stellt sie sich in die Warteschlange.
Eben wird ein weinerlicher kleinwüchsiger Mann im schwarzen Mantel abgefertigt. Der Mann hat schlimme Zahnschmerzen, das entnimmt Jessie der Unterhaltung, sie hat ja auch nichts Besseres zu tun, auch wenn sie ganz kribbelig darauf fiebert, endlich selbst an die Reihe zu kommen.
„Hören Sie“, sagt der Schwarzbemäntelte zu dem Angestellten an der Rezeption, „ich leide! Ich brauche sofort einen Termin. Die Schmerzen in meinem rechten Eckzahn sind unerträglich. Wenn Sie wüssten, wie einem Vampir mit Zahnschmerzen zumute ist ...!“
„Lieber Herr“, antwortet der Angestellte, der übrigens Carl heißt, missbilligend, „um hier behandelt zu werden, brauchen Sie Geld. Bargeld. Kümmern Sie sich um Ihre Sozialversicherung und suchen Sie eine staatliche Institution auf.“ Der Vampir, dessen rechte Gesichtshälfte unnatürlich angeschwollen ist, resigniert, wir merken, er hat kein Geld. Was er ganz gewiss hat sind Zahnschmerzen, aber Geld sicher nicht. Er wirft dem Rezeptionisten ein paar unschöne Wörter zu und verlässt fluchtartig das Gebäude. So ist das Leben. Der Vampir muss entweder seine Angelegenheiten regeln oder weiterhin mit Zahnschmerzen leben. Tatsächlich wählt er eine einfachere Variante und überfällt einen Zahnarzt, der ihn von vor seinen Schmerzen befreit und der die ewige Dankbarkeit des Vampirs genießt. Er erhält einen schönen neuen Eckzahn, jungfräulich frisch aus dem Labor und das ganz umsonst. Der Vampir, nicht der Zahnarzt. Die Frage die sich einem aufdrängt, was das alles bloß mit der guten alten Jessie zu tun hat, bleibt unbeantwortet. Man weiß es nicht. Wir wissen nicht, warum wir wissen, welche Verzweiflung den Vampir angetrieben hat. Ist es wichtig?
„Nächster!“, ruft Carl in geschäftlichem Tonfall und ein altes Mütterchen tritt vor. Ihr Aufzug ist schäbig und der Rezeptionist lächelt herablassend. „Sie reparieren doch Besen?“, nuschelt die alte Dame und zieht aus den Falten ihrer Röcke ein abgesplittertes altes Exemplar von einem Wischmob hervor. Jessie fragt sich ernsthaft, ob die Hexe einen Dachschaden hat. Wieso kann sie sich ihren Besen nicht selbst wieder herrichten? Was bringt es dann überhaupt eine Hexe zu sein, wenn man nicht einmal das eigene Fluggefährt reparieren kann? Jessie lächelt schon wieder höhnisch und wir sehen ihr missbilligend dabei zu und empfinden Abscheu vor ihrer so offen zur Schau getragenen Verschlagenheit.
Wir merken, dass sich in diesem Gebäude die Angestellten-Crew wirklich mit allen Belangen ihrer Klienten beschäftigen. Es ist eine Klinik, ein Hotel, eine Werkstätte, aber natürlich kein Traumschiff. Was das Gebäude sonst noch zu bieten hat, wissen wir wieder einmal nicht. Geld sollte man schon haben, natürlich, so viel wissen wir schon. Vielleicht weiß Jessie es, damit wir es wissen. Wissen ist wichtig, Wissen ist Macht. Wissen ist – wie wir wissen – ein wandelbares Wort und beliebig einsetzbar.
Der Angestellte eruiert in seiner Tabelle den Preis für eine „Wiederherstellung von diversen Flugobjekten“ und teilt diesen dem Mütterchen mit, das lässig das erforderliche Geld hervorholt und mit einer dramatischen Geste auf das Pult wirft. Carl versteht sein Handwerk, er wirkt nicht einmal überrascht, lässt die Hexe ein Vertragsformular ausfüllen und weist sie in den dritten Stock, Zimmer 354. Dabei lächelt er nachsichtig, Carl versteht sein Geschäft. Carl versteht viel von Handwerk & Geschäft, das merken wir.
Jetzt fragen wir uns natürlich, warum im Zeitalter der neuen Technologien diese so genannte exklusive (und das ist sie zweifellos) Privatklinik mit solch altmodischen Mitteln arbeitet. Handschriftliche Tabellen, Vertragsformulare, Barzahlung. Es ist unglaublich. Sind wir hier im Mittelalter gelandet? Hat die Leitung der Klinik noch nie etwas von Online Banking gehört? Nein, wir können es nicht glauben, aber vielleicht sollten wir das tun. Diese Organisation hat eher von elektronischer Zeiterfassung und Arbeitszeitflexibilisierung eine Ahnung. Wir wissen ja, zu starre Arbeitsformen sind nicht marktkonform. Aber das werden wir der hart arbeitenden Geschäftsleitung überlassen – die weiß sicher am Besten darüber Bescheid, welche Bedürfnisse die Angestellten haben.
Wenden wir uns wieder einmal Jessie zu, die ja eigentlich eine wesentliche Hauptrolle in dieser Geschichte spielt bzw. spielen soll.
Wir fragen uns ja schon die ganze Zeit, was diese ach so liebenswürdige Dame eigentlich will, sonst hätten wir sie nicht hierher begleitet. Sie ist kein Kobold, keine Hexe, kein Vampir, weder ein Werwolf noch ein Rumpelstilzchen noch sonst etwas in dieser Art. Ein Dornröschen oder ein Schneewittchen ist sie auch keines, sie ist nur Jessie, nichts weiter. Abgesehen davon liegt Dornröschen im vierten Stock auf Zimmer 409. Die Spindel war mit irgendwas infiziert, jetzt fault ihr die rechte Hand ab. Ein Jammer. Das kommt davon, wenn man nicht rechtzeit ins Krankenhaus geht. Da geben wir dem Typen, der in einem eleganten Samtsessel neben uns sitzt und sich lebhaft mit einem anderen Typen über dieses Thema unterhält, recht. Jawohl meine Damen und Herren! Wir sind dankbar, diese sensationelle Neuigkeit während der endlos scheinenden Warterei hören zu dürfen. So schlecht sind unsere Ohren ja auch nicht, ich bitte Sie.
Jessie grinst schon wieder hämisch – sie hat der Unterhaltung auch gelauscht - und wir können ihre Gedankengänge nachvollziehen. Als Prinzessin hat Dornröschen nur gewisse Repräsentationspflichten zu absolvieren, die man locker mit einer Hand bewältigen kann, Dornröschen ist schließlich nicht Prinzessin Diana. Keine schönen Gedankengänge, die wir da von uns geben, da sind wir einsichtig und senken schamvoll das Haupt, aber will jemand den Wahrheitsgehalt anzweifeln?
Jessie hat ein Problem - wenn sie keines hätte, wäre sie nicht hier – logische Schlussfolgerung. Uns kann man nichts vormachen, uns nicht. Wir sind begierig darauf, Jessies Problem zu erfahren. Ein Teil von uns jedenfalls.
Sie tritt vor und mustert den Angestellten – der Jessie höflich betrachtet. Carl denkt sich „Endlich mal ein Mensch!“. Wir merken, Carl hat genug von diesen ganzen Märchenfiguren, die jeden Tag durch die Tür hereintröpfeln – und die nur Scherereien machen, weil die Hälfte von Ihnen kein Geld hat. Carl findet das enervierend. Carl fühlt sich in seiner Würde als Mensch herabgesetzt, wenn er sich mit solchen Objekten abgeben muss, darum betrachtet er den Menschen Jessie aufmerksam und lächelt sogar. Wir merken, Carl hält viel auf sich. „Also die Sache ist Folgende ...“, sagt Jessie.
Der Rest von dem, was Jessie sagt, geht in dröhnendem Bohren unter. Verflixt, warum muss ein Handwerker auch gerade jetzt im Wartesaal – wenn wir diesen als solchen bezeichnen wollen – irgendwelche Kunstwerke aufhängen?
Jetzt haben wir wirklich ein ernsthaftes Problem. Wir sind Jessie durch den Wald gefolgt, haben geduldig mit ihr gewartet und jetzt wissen wir nicht, was sie überhaupt hier her geführt hat.
Das ist fies, verdammt fies. Das kann und wird es nicht geben, so kann man uns nicht behandeln.
Eine Hoffnung bleibt uns - der gute Carl wird doch hoffentlich ein Formular ausfüllen, dann erhalten wir sicher die Informationen, die uns zustehen.
Daraus wird aber nichts, kann nichts werden, denn Jessie hält ihm eine Mastercard hin, die Carl annimmt. Jawohl, das tut er. Wir wissen nicht warum Carl das tut, wünschen aber es wäre anders. Mit offenem Mund beobachten wir, wie Carl höchst persönlich Jessie zu einer Tür geleitet. Leider sind wir nicht schnell genug um mit Jessie durch die Tür zu treten, die vor unseren Nasen zugeschlagen wird. Der gute Carl gleitet – in seinem blendend weißen Anzug – zurück an die Rezeption und nimmt weitere Anfragen / Beschwerden / Bitten / entgegen. Ohne sich zu verausgaben, soviel sei angemerkt.
Wir drücken unsere Ohren gegen die Tür, hinter der Jessie verschwunden ist – vergebens. Es ist nur Kauderwelsch zu hören.
Das war`s – so ein Pech. Wir können es einfach nicht glauben und warten, bis Jessie – nach Stunden wie es uns scheint – aus der Tür tritt und sich fröhlich mit einer Taschenlampe auf den Heimweg macht. Die gute alte Jessie summt sogar ein Liedchen. Wir würden gerne mitsummen, aber die Worte bleiben uns in der Kehle stecken.
Über den Waldboden krabbelt ein großer Käfer, ein Hirschkäfer vielleicht. Wir können nicht lange genug einen Blick auf das Tier werfen um es zu identifizieren, denn Jessie hat den Käfer mit der Taschenlampe ins Visier genommen und tritt mutwillig darauf – auf den Käfer, nicht auf die Taschenlampe.. Sie lächelt und stapft weiter. Wir starren empört auf die schwarze glitschige Masse auf dem Waldboden und können nicht begreifen, warum diese Frau, der wir gerade folgen, das tut. Scheint eine brutale Lady zu sein, das gefällt uns nicht. Aber wir geben kein Urteil ab, schließlich kennen wir Jessie kaum.
Jessie hat den von ihr zertrampelten Käfer vergessen, trampelt aber weiter auf dem kaum vorhandenen Pfad dahin. Der Trampel trampelt weiter.
Sie verschwindet in ihrem Haus.
Wir sinnieren über das Gefühl von versäumter, verlorener Zeit nach. Dieses Gefühl ist nicht gerade als angenehm zu bezeichnen. Es schmeckt nach Metall. Nichts, auf was man versessen sein müsste.
Vielleicht wird der morgige Tag besser. Wollen wir`s hoffen.