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Vermisst: Jakob Wenger

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19.09.2022
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Vermisst: Jakob Wenger

- Der Anfang -​

»Ich weiß, du willst nicht darüber reden.«, sagte Martin nach etwa zehn Minuten. Seit ihrer Begrüßung, hatte keiner von beiden ein Wort gesprochen. Es war eine sternlose Nacht und die Luft war so kalt, dass einem die Kehle brannte. Jeder Atemzug schmerzte.
»Aber kannst du´s mir bitte erklären? Ich bin doch hier. Und ich habe keine einzige Frage gestellt.« Bis jetzt, dachte Martin.
»Ich musste da raus«, gab Finn prompt zurück, ohne dabei aufzusehen.
Martin wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte, und schaute schweigend auf seine Füße. Die Geräusche um ihn herum nahm er jetzt ganz deutlich wahr. Das Knirschen ihrer Schritte im Schnee, das Rascheln der Bäume im Wind und ab und zu wurde der Name des vermissten Jungen gerufen. Sehen konnte er nur das, was sich im Schein ihrer Taschenlampen befand. Es vergingen wieder zehn wortlose Minuten. Finns Armbanduhr zeigte 22:45 Uhr, also war es ziemlich genau drei Stunden her, dass er seinen Freund angerufen hatte.
»Das kann ich mir vorstellen.«, sagte Martin schließlich. »Hast du ein schlechtes Gewissen?«
»Ja natürlich. Können wir jetzt bitte damit aufhören? Wir müssen uns konzentrieren.« Martin merkte, dass sein Freund dieses Thema um jeden Preis meiden wollte und tat ihm diesen Gefallen.
»Glaubst du er wurde entführt?«
»Die wichtigere Frage ist doch, ob seine Eltern die Wahrheit gesagt haben.«
»Was meinst du damit?«
»Was ich meine? Hast du die ganzen Artikel überhaupt gelesen?«
Die beiden Männer liefen ein wenig abseits der Gruppe. Vertieft in ihr Gespräch stocherten sie mit ihren Stöcken unbeholfen im schneebedeckten Waldboden herum, ohne wirklich darauf zu achten, was sie taten.
»Also ich weiß, dass Jakob Wenger seit Montag…also seit vier Tagen, vermisst wird und dass seine Eltern angeblich keine Ahnung haben, wo er sein könnte. Ich glaube er ist nach einem großen Streit weinend aus dem Haus gerannt, oder nicht?« Martin blickte Finn fragend an.
»Ja, das stimmt so ungefähr. Aber hast du gelesen, was ihre Nachbarn der Polizei gesagt haben?«
»Irgendwas Komisches, nehme ich an. Die Wengers waren doch schon immer ein bisschen merkwürdig.«
»Ja, das weiß ich. Allein, dass Ida mit 47 Jahren noch schwanger werden konnte, ist einfach außergewöhnlich und…«
»Woher weißt du das denn?«, fiel Martin ihm ins Wort.
»Na woher wohl? Ich habe an dem Tag gearbeitet und jeder im Krankenhaus hat darüber gesprochen. Ida Wenger, das medizinische Wunder. Wollen wir uns das Baby angucken? Dann schnell nach oben in Zimmer 7.013!«
Martin musste lachen.
»Ärzte können so bescheuert sein. Und in unsere Hände legen die Menschen ihr Leben…«
»Oh du sagst es. Von dir würde ich mich nicht operieren lassen.«, sagte Martin grinsend.
»Dich würde ich während der OP aufwecken und am Herzen kitzeln. Na, jedenfalls waren die Wengers schon vor Jakobs Geburt ein sonderbares Paar. Diese Feiertage, die niemand außer ihnen kannte, haben mir und Svenja schon ein mulmiges Gefühl gegeben.«
»Oh, ja richtig!«, entgegnete Martin aufgeregt. Es war, als hätte sich in seinem Kopf ein Schalter umgelegt. »Die hatte ich total verdrängt. Erinnerst du dich an diese Fastenwoche eine im November? Wie haben sie das nochmal genannt?«
»Nova artificia docuit fames.«
»Was bedeutet das nochmal?«, fragte Martin und war erstaunt darüber, dass sich Finn an die Worte genau erinnern konnte.
»Müsstest du das als Lehrer nicht eigentlich wissen?«
»Ich unterrichte Englisch und Geschichte. Und das solltest du als mein bester Freund eigentlich wissen.«, gab Martin zurück, ohne es zu meinen. Sie sprachen nicht viel über ihre Arbeit und er liebte das an ihrer Freundschaft. Wieso auch sollte man sich über seinen langweiligen Alltag unterhalten, wenn man stattdessen ein Bier trinken und dabei blöde Witze reißen konnte, die die meisten Menschen als unreif oder vulgär bezeichnet hätten. Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass Martin und Finn nicht auch über die ernsten Themen des Lebens sprechen konnten. Denn das taten sie, wenn sie es mussten – wenn sie es brauchten. Den Rest ihrer gemeinsamen Zeit genossen sie und hatten dabei den Spaß ihres Lebens.
»Neue Künste lehrte der Hunger.«, sagte Finn.
Bei diesen Worten bekam Martin eine Gänsehaut. Wie hatte er alles über die Feiertage der Wengers vergessen können? Der Letzte war vor nicht einmal sechs Monaten gewesen und bevor Finn ihn gerade eben daran erinnert hatte, waren alle Erinnerungen daran aus seinem Gedächtnis verschwunden.
Als hätte sie mein Unterbewusstsein absichtlich tief in meinem Verstand verborgen, dachte Martin.
»Wie haben sie das bloß überlebt? Das habe ich mich schon damals gefragt. Immerhin waren sie eine Woche lang im Wald, ohne Verpflegung.«
»Na wie wohl? Sie haben ihre neu erlernten Künste angewandt.«, witzelte Finn und musste sich zurückhalten, damit er keinen Vortrag darüber hielt, wie lange es der menschliche Körper ohne feste Nahrung aushalten konnte. Flüssigkeit mussten sie zu sich genommen haben, denn das hätte das Paar, selbst unter idealen Bedingungen, nur fünf Tage überleben können.
Martin freute sich innerlich sehr darüber, dass sein Freund endlich mal auf andere Gedanken gekommen zu sein schien.
»Sehr witzig. Und wobei sollen sie gelogen haben?«
Mittlerweile machte sich Martin nicht einmal mehr die Mühe so zu tun, als würde er nach Hinweisen suchen, die zu Jakob Wenger führen könnten. Während sein Freund immer noch konzentriert auf den Waldboden blickte, sah er jetzt aus wie ein nächtlicher Spaziergänger mit einem Gehstock.
Finn hingegen fühlte sich immer noch furchtbar. Der einzige Grund, wieso er sich überhaupt freiwillig gemeldet hatte, um bei der Suche nach dem Jungen zu helfen, war der, dass er versuchen wollte sein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen.
Aber ich musste da raus, dachte Finn und versuchte den Gedanken zu verdrängen.
»Hallo? Hast du mich gehört?«, fragte Martin und wedelte mit seinem Stock vor Finns Gesicht herum.
»Ich…ähm…tut mir leid, ich war gerade in Gedanken. Was hast du gesagt?«
Martin wusste genau an was er gedacht hatte, und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
»Ich habe gefragt, wobei die Wengers angeblich gelogen haben sollen.«
»Es ist nur ein kleines Detail. Eine Kleinigkeit. Aber die Tatsache, dass es dabei um die Wengers geht, macht es irgendwie…unheimlich. Und vielleicht haben sich ihre Nachbarn auch einfach verhört.«
Finn machte eine Pause. Er ordnete seine Gedanken und überlegte, wie er die folgenden Worte am besten formulieren sollte. Dabei drängten sich die Namen seiner Frau und seiner Tochter immer wieder in den Vordergrund und sein schlechtes Gewissen schlich sich von hinten an und kam immer näher. Nach etwa einer halben Minute, die Finn wie die Ewigkeit vorkam, sprach er weiter.
»Oskar und Ida Wenger haben der Polizei erzählt, dass sie an dem Tag einen schlimmen Streit gehabt hatten, den ihr Sohn nicht ertragen konnte.
Angeblich hat er versucht die Beschimpfungen zu übertönen, indem er sich die Ohren zugehalten und dabei laut geschrien hat. Das hat wohl nicht so richtig funktioniert und am Ende ist er heulend aus dem Haus und in den Wald gerannt. Seitdem haben sie ihn nicht mehr gesehen.«
»Ja richtig, ich erinnere mich.«, log Martin. »Bislang finde ich das aber überhaupt nicht seltsam. Diese Familie ist einfach komisch. Nur der Junge tut mir echt leid. Vielleicht sollte man irgendwann mal das Jugendamt einschalten, meinst du nicht?«
»Jedenfalls…«, fuhr Finn fort. »…haben die Nachbarn der Wengers, die Viklunds, der Polizei gegenüber behauptet, keinen Streit gehört zu haben. Auch keine Beschimpfungen, kein lautes Geheul und kein Geschrei. Nichts dergleichen.
Das Einzige, was Emily Viklund glaubte gehört zu haben – und worüber sie und Mikael während ihrer Aussage heftig diskutiert haben sollen, denn er war überzeugt, sie habe sich das nur eingebildet – war Gesang.«
»Gesang? Was denn für Gesang? Die werden wohl kaum Stairway to Heaven gesungen haben.«
»Nein. Als Mikael seine Frau endlich ausreden ließ, hat sie der Polizei angeblich eine Melodie vorgesungen, die laut den Artikeln lediglich aus vier Tönen bestand. Eine simple Melodie, die die Wengers zu dritt gesungen haben sollen. Erst leise, dann etwas lauter und dann so leise, dass Emily Viklund den Gesang kaum noch hatte hören können. Und das war alles.«
»Das war alles…«, wiederholte Martin geistesabwesend seine letzten Worte und dachte darüber nach. Ihm fiel kein plausibler Grund ein, weshalb sich Emily Viklund diese Geschichte ausgedacht haben sollte. Aber warum sollten die Wengers bei ihrer Aussage lügen? Schließlich ging es doch um ihren vermissten Sohn.
Finns Worte hinterließen bei seinem Freund ein mulmiges Gefühl. In der nächsten Zeit konzentrierten sich die beiden Männer wieder schweigend auf die Suche nach Jakob Wenger. Sogar Martin versuchte angestrengt, all seine Sinne zu gebrauchen. Er atmete tief ein und seine Lunge füllte sich mit der eiskalten Waldluft, sodass er husten musste. Riechen konnte er jedoch nichts. Sein Blick folgte unablässig dem Schein der Taschenlampen, während er mit seinem Stock präzise im Waldboden stocherte. Alles, was zunächst wie ein Gegenstand oder Hinweis aussah, versuchte er umzudrehen oder zu bewegen. Doch er fand nichts. Das Knirschen ihrer Schritte im Schnee war zu hören, und das Rascheln der Bäume drängte sich immer stärker in den Vordergrund. Der Wind war stärker geworden. Ansonsten: Stille.

- Geräusche -​

Tief im Wald – so tief, dass man nicht einmal sagen konnte, ob die Quelle des Geräusches vor oder hinter einem lag – ertönte ein gedämpfter Schrei.
Ein Bär? Gibt es überhaupt Bären in Arvika? Martin wusste es nicht.
Aber was auch immer es war – es befand sich tief im Wald und weit entfernt. Erst jetzt bemerkte Martin, dass auch Finn stehengeblieben war, um heraushören, woher der Laut gekommen war. Als er verstummte, hörten sie gar nichts mehr. Ein unangenehmes Gefühl schlich sich von hinten an und packte die beiden Männer im Genick.
»Finn?«, stotterte Martin fragend. »Wo sind die anderen?«
»Ich weiß es nicht.«, sagte Finn. »Ich glaube, ich habe schon eine ganze Weile keinen ihrer Rufe mehr gehört.«
»Scheiße.«
»Ja, Scheiße.«
Schweigen. Die beiden Männer blickten sich ratlos an und Angst wuchs tückisch in ihren Köpfen heran wie ein Gehirntumor.
»Okay, keine Panik. Wenn wir einfach unseren Spuren folgen und zurückgehen, finden wir die Gruppe wieder.«, schlug Finn vor. Und hoffentlich aus dem Wald heraus, dachte er und entschied sich dagegen, diesen Gedanken laut auszusprechen.
»Gute Idee.«
Die beiden Freunde drehten sich um und folgten ihren Fußspuren im Schnee. Sie ahnten jedoch nicht, dass das Grauen, dem sie bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen waren, jetzt direkt vor ihnen lag.
Den gedämpften Schrei hatten sie beide mittlerweile aus ihren Köpfen verbannt. Eine halbe Stunde lang gingen sie schweigend in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Ich habe eine Theorie.«, sagte Martin und durchbrach die Stille so plötzlich, dass Finn zusammenzuckte.
»Lass hören.«
»Vielleicht haben die Wengers eine kleine Hütter im Wald oder so etwas Ähnliches. Und als sie eine Woche lang hier verbracht haben, könnten sie einfach dort gelebt haben. Und wenn Jakob…Falls er von zuhause weggelaufen ist, könnte er doch zu ihrer Waldhütte gelaufen sein, meinst du nicht?«
»Martin.«, nuschelte Finn und hatte dabei eine leichte Aufregung in der Stimme. »Da könnte tatsächlich etwas dran sein.«
»Na klar. Das ist ja auch meine Theorie.«
»Nein, du verstehst nicht. Da könnte tatsächlich etwas dran sein.«, erwiderte Finn nachdrücklich.
»Jetzt bin ich neugierig. Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«
»Ich bin mir nicht einhundertprozentig sicher.«, antwortete Finn und suchte angestrengt in seinen Erinnerungen.
»Das war Anfang November …Ich kam am Haus der Wengers vorbei, als Oskar gerade seinen Rasen gemäht hatte…glaube ich…und ich wünschte ihm viel Erfolg für die kommende Woche.«
»Du hast mit ihm über die Feiertage gesprochen?« Finn klang empört. »Wieso hast du mir das nie erzählt? Dann hätte ich mit meinen Schülern darüber sprechen können!«
»Genau deswegen. Ich hätte mich schlecht gefühlt, die Wengers so bloßzustellen. Es darf doch jeder glauben, was er möchte.«
»Ja, das stimmt. Aber als wir im Unterricht die weniger bekannten Religionen der Weltgeschichte behandelt haben, wäre es schön gewesen, wenn ich genug über die Religion der Wengers gewusst hätte, um darüber sprechen zu können. Das ist immerhin eine Religion direkt in unserer Stadt und hätte die Relevanz des Themas für die Kinder deutlich erhöht.«, sagte Martin, ein wenig empörter, als ihm lieb war.
»Ich verstehe, dass dich das nervt, und es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Aber ich weiß nicht viel mehr als du. Oskar wollte meine Frau und mich dazu überreden mitzukommen.«
»Er wollte, dass ihr auch eine Woche lang im Wald verbringt?«, fragte Martin nachdenklich, dessen kurzer Anflug von Wut sich bereits gelegt hatte.
»Ja. Und im Laufe des Gesprächs erzählte er mir, dass es einen heiligen Ort im Wald gibt, den man nur an den Feiertagen besuchen darf«, sagte Finn und ärgerte sich, dass ihm das nicht vorher eingefallen war.
»Wieso? Wird der Ort sonst entweiht?«
»Möglicherweise. Das hat er leider nicht gesagt.«
»Schade.«, entgegnete Finn und musste kurz lachen.
»Was ist so komisch?«
»Ich finde es äußerst amüsant mir vorzustellen, dass du und Svenja eine Woche lang im Wald verbringt und in Erdlöcher scheißt«, antwortete Martin mit seiner hochnäsigen Humor Stimme. Daraufhin musste sein Freund ebenfalls lachen.
»Ja, das stimmt. Vor allem sie würde das nicht überleben.«, witzelte Finn und sein Lächeln verschwand so schnell wie es gekommen war.
Svenja und Annika.
Frau und Kind alleine zuhause.
Alleine.
Und du bist nicht da.
Wo bist du?
Ich tue etwas Gutes
, antwortete Finn seinem schlechten Gewissen und drängte es in die Tiefen seines Verstandes zurück.
»Wie fühlt sie sich eigentlich im Moment?«, fragte Martin.
»Es wird schlimmer«, flüsterte Finn und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zwang sich die Fassung zu bewahren. »Aber sie kämpft.«
Mehr würde er zu dem Thema nicht sagen können, ohne in Tränen auszubrechen.
»Sie schafft das. Hörst du mich? Sie wird es schaffen. Ihr werdet es schaffen!«, erwiderte Martin. Auch er würde nichts mehr zu diesem Thema sagen können, ohne für seinen Freund ein paar Tränen zu vergießen.
»Jetzt lass uns aus diesem Wald verschwinden. Wir haben nach dem Jungen gesucht und ihn leider nicht gefunden. Ebenso wenig wie einen Hinweis darauf, wo er sein könnte.«
»Bitte denk nicht schlecht von mir«, sagte Finn, ohne auf Martins letzte Worte einzugehen. Sein Tonfall war flehend und doch kalt.
»Meine Tochter ist nicht einmal sechs Monate alt und meine Frau ist schwer krank. Und ich bin nicht bei ihnen, weil ich einen gottverdammten Jungen suche, der wahrscheinlich von seinen gestörten Eltern einem grausamen Gott geopfert wurde«, schluchzte Finn und jetzt musste er doch weinen. Martin zog ihn in eine Umarmung.
So standen sie eine Weile lang da, bis sich Finn wieder beruhigt hatte.
»Weißt du«, begann er zurückhaltend, »während der Arbeit habe ich die ganze Zeit mit kranken Menschen zu tun, und an manchen Tagen…« Finn machte eine Pause, kämpfte gegen die Tränen an. »An manchen Tagen ertrage ich es nicht, nach Hause zu kommen, weil…weil dort zwei weitere Patienten auf mich warten.« Er beendete seinen Satz und hatte Angst vor der Reaktion seines Freundes.
»Das verstehe ich.«, antwortete Martin ohne Zögern. »Das ist nichts Schlimmes, hörst du? Das ist eine unfassbar schwierige Situation, und du bist auch nur ein Mensch.«
Finn lächelte leicht und ließ die Worte seines Freundes wirken. Er fragte sich, wieso er überhaupt Angst vor Martins Worten gehabt hatte, und dankte Gott für seinen besten Freund.
»Ich liebe dich, Mann.«, sagte Finn leise.
»Jaja, ich dich auch – und jetzt lass uns aus diesem scheiß Wald verschwinden.«, gab Martin zurück und lächelte.
»Okay, dann lass uns etwas schneller gehen. Meine Familie wartet auf mi…«
Bevor Finn seinen Satz zu Ende sprechen konnte, hörten sie es erneut: ein merkwürdiger, gedämpfter Schrei, der am ehesten wie der eines Bären klang, aber doch ganz anders. Und diesmal hörten sie ihn lauter und viel deutlicher. Das, was diesen Schrei ausgestoßen hatte, war jetzt ganz in ihrer Nähe.
»Was war das?«, flüsterte Finn.
»Das habe ich vorhin schon mal gehört. Ich glaube es ist ein Bär.«
»Ein Bär? Die hören sich nicht so an. Das muss etwas anderes sein.«
»Ist doch egal, was es ist! Lass uns bitte schnell verschwinden.«
»Wir sollten aber nicht rennen. Dadurch wären wir zu laut und würden nur die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«
Die beiden Männer folgten also mit großen, schnellen Schritten ihren eigenen Fußspuren durch den Wald.
Keiner sagte ein Wort. Sie liefen schweigend so schnell es die Lautstärke ihrer Schritte zuließ, bis plötzlich etwas in einem von Martins Fußabdrücken lag. Beinahe wäre er hineingetreten und konnte seinen Schuh nur geradeso daneben setzen.
»Was ist das?«, fragte Martin, richtete seine Taschenlampe darauf und beugte sich darüber.
»Oh«, stöhnte Finn. »Das sieht auf wie der Kopf eines Hasen.«
»Eines Hasen? Die sind doch viel größer.«
Martin ging mit seinem Gesicht noch näher dran und musste würgen, als er erkannte, was es wirklich war.
»Ach du scheiße, das ist ein süßer kleiner Baby-Hase!«
»Nicht nur einer«, sagte Finn leise.
Finn leuchtete mit seiner Taschenlampe auf eine Stelle links neben dem Weg. Dort lagen unzählige ausgeweidete Hasen, deren abgetrennte Gliedmaßen überall auf dem Waldboden verteilt waren und den Schnee hellrot färbten. Am schlimmsten war es an einer Stelle, die vermutlich einmal der Eingang zu einem Hasenbau gewesen war. Dort war der Schnee durch das warme Blut geschmolzen, und die toten Hasen waren kaum noch als solche zu erkennen.
Die beiden Freunde warfen einen Blick auf dieses grausame Gemälde und große Panik packte sie.
Noch ein Schrei. Diesmal so laut, als ob das – was immer es auch war - direkt hinter ihnen stehen würde.
Martin und Finn fingen an zu rennen.

- Angst -​

Finns Armbanduhr zeigte 00:25 Uhr und mittlerweile hatten sie fast zwanzig Minuten lang nach ihren Fußspuren gesucht. Ohne Erfolg.
Darüber hinaus hatte es begonnen zu schneien und die Nachtluft wurde immer kälter und kälter.
»Mir ist heiß.«, schlotterte Martin. »Ich wünschte, es wäre ein bisschen kälter.«
Finn zwang sich zu einem kurzen Lachen. Er konnte an nichts anderes als an seine Familie denken und hasste sich dafür, gerade nicht bei ihnen zu sein.
»Gab es nicht mal einen Typ, ein Jugendlicher glaube ich, der sich im Wald verlaufen hat und nur überleben konnte, weil er sich ein Iglu gebaut hat, das ihn warmgehalten hat?«
»Kann schon sein.«, murmelte Finn. Sprechen war für ihn anstrengend geworden, weshalb er versuchte, so wenig Worte wie möglich zu gebrauchen.
»Dann haben wir also einen Plan B. Das beruhigt mich sogar ein bisschen«, log Martin, um seinem Freund (oder doch eher sich selbst) ein wenig Hoffnung zu machen.
Über ihnen, hoch oben in den Bäumen, begann eine Eule ihren nächtlichen Beutezug. Der Vogel stieß sich kräftig von einem Ast ab, der daraufhin eine Ladung Schnee fallen ließ, und flog in den eisigen Nachthimmel.
Eine Sekunde später schrie Martin laut auf.
»Uff«, keuchte Finn. »Was ist passiert?«
»Nichts, tut mir leid.«, antwortete Martin, der versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. »Das war bloß Schnee.«
»Mann, du hast mich zu Tode erschrocken.«, sagte Finn vorwurfsvoll.
»Und der scheiß Schnee hat mich zu Tode erschrocken. Das ist ausgleichende Gerechtigkeit, mein Freund.«, schoss Martin zurück, woraufhin sie beide für einen kurzen Augenblick grinsen mussten.
»Wie konnten wir nur unsere Fußspuren verlieren, das darf doch nicht wahr sein!«, fluchte Martin, dessen Laune sofort wieder umschlug.
»Ich weiß«, sagte Finn leise. »Wir werden sie schon finden.« Was er tatsächlich dachte, behielt er lieber für sich.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Nehmen wir mal an, dass wir beide heute sterben…«
»Martin!«, ermahnte ihn Finn. »Lass uns über so was jetzt bitte keine Witze machen.«
»Darum geht es doch gar nicht. Ich wollte sagen, was ich im Moment am meisten vermisse. Und das sind nicht Maja und Daniel.«
»Was ist denn bitte wichtiger als deine Frau und dein Sohn?«
»Ganz ehrlich? Der Gedanke, nie wieder unterrichten zu können, macht mich fertig.«
»Naja, du liebst deinen Job. Das ist schon irgendwie verständlich. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass du während deines letzten Atemzugs an deine Schüler denken wirst.«
»Doch, ganz bestimmt«, witzelte Martin. »Meine letzten Worte werden sein: Haltet alle die Klappe, sonst hagelt es Sechser und Schläge!«
»Pscht!«, fauchte Finn. »Nicht so laut!«
»Scheiße«, flüsterte Martin. »Tut mir leid«
»Pscht!«, fauchte Finn erneut. »Hörst du das?«
Martin wollte gerade Nein sagen, als Finn seine Hand hob und ihm deutete, ruhig zu sein. Dann hörte Martin es auch.
»Hat da jemand Sex?«, flüsterte er – eine Frage, die er später bereuen würde. »Was denn?«, verteidigte er sich, als Finn ihm einen finsteren Blick zuwarf. »Das hört sich doch so an.«
»Das kommt von rechts, oder?«, fragte Finn und neigte den Kopf in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich glaube schon«, nuschelte Finn, der jetzt hochkonzentriert war. Er zwang sich durch eine Lücke zwischen zwei Bäumen und verließ den kleinen Pfad, auf dem sie sich mittlerweile befanden.
»Ist das so schlau? Vielleicht ist es dort gefährlich…«
Aber Martin bekam keine Antwort. Entweder er folgte seinem Freund, oder er blieb allein auf dem Pfad zurück. Diese Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er schob die Zweige mit beiden Händen so weit wie möglich beiseite und folgte seinem Freund in die Dunkelheit. Doch als er die Zweige wieder losgelassen hatte, konnte er ihn nirgendwo sehen. Er leuchtete langsam mit seiner Taschenlampe in der Umgebung herum. Doch außer Bäumen sah er nichts.
»Finn?«, flüsterte er ins Dunkel. Einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Doch er bekam keine Antwort.
»Das ist nicht witzig!«
»MARTIN!«, rief Finn plötzlich mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die Martin so von ihm nicht kannte. Finns Kollegen aus dem Arbeitskrankenhaus hätten diesen Tonfall sofort wiedererkannt. »HIERHER!«, befahl er ihm.
Er wird sterben, dachte Martin. Verdammte scheiße wieso ist er dem Geräusch gefolgt…
So schnell er konnte, kämpfte sich Martin über den unebenen Waldboden in die Richtung, aus der Finns Stimme gekommen war.
»Finn?«, rief er.
»Hier!«
Martin lief noch ein paar Meter weiter nach rechts und endlich konnte er ihn sehen auf einer kleinen, baumlosen Fläche. Er konnte sie sehen.
Sein Freund kniete auf dem Boden vor einer Frau, die stark zu bluten schien. Neben ihr lagen zwei weitere Menschen, die sich nicht mehr bewegten. Einer davon war Stefan Falk, der die Suche nach dem Jungen organisiert hatte. Sein feuerrotes Haar war nicht zu übersehen. Die anderen beiden erkannte Martin nicht.
»Was zum…«, begann er, doch Finn unterbrach ihn sofort.
»Schnell! Komm her, du musst ihren Kopf stützen und die Taschenlampe halten.«
Martin gehorchte und fühlte sich dennoch völlig nutzlos. Finn zerriss das Hemd der Frau, die vor Schmerz aufstöhnte und Martin begriff: Sie war das Geräusch gewesen. Sie hatten das Stöhnen dieser Frau gehört, die an der Schwelle zum Jenseits aus dem Gleichgewicht gekommen war und zu fallen drohte. Diese fremde Frau, die sich im Todeskampf befand und bereits sehr viel Blut verloren hatte. Vermutlich war sie auch eine freiwillige Helferin gewesen. Und jetzt lag sie hier – blutend im Schnee, durchdrungen von Schmerz, während sich vereinzelte Schneeflocken ihren Weg durch die offenen Wunden in den Körper der Frau bahnten.
Ich komme in die Hölle, dachte Martin und schämte sich. Ich komme sowas von in die Hölle…

Finns Armbanduhr zeigte 00:43 Uhr, als er die Frau für tot erklärte. Seine Hände waren blutverschmiert und trotz der eisigen Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn.
»Sie ist tot«, flüsterte er.
»Tot«, wiederholte Martin und schaute im schwachen Licht der Taschenlampe in das leblose Gesicht der Frau.
»Sie sind alle tot«, stellte Finn fest, der bei den anderen beiden Personen keinen Puls fühlen konnte. »Wir sollten sofort verschwinden. Irgendetwas ist hier draußen. Wenn es am Ende wirklich ein Bär ist, dann müssen wir uns absolut ruhig verhalten, verstehst du? Keine hektischen Bewegungen. Wir dürfen nichts tun, was der Bär als Bedrohung auffassen könnte. Hast du verstanden?«
Martin sagte nichts. Er kniete noch immer auf dem Boden und stützte den Kopf der Verstorbenen.
»Hey, alles in Ordnung?«, fragte Finn, dem erst jetzt bewusst wurde, dass sein Freund nicht jeden Tag eine Leiche zu Gesicht bekam. »Möchtest du drüber sprechen?«
»Nein«, antwortete Martin mit gebrochener Stimme. »Gib mir einfach ein bisschen Zeit.«
»Okay.«
Etwa zehn Minuten vergingen, bevor Martin die Stille durchbrach.
»Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen«, sagte er.
»Was schlägst du vor?«
»Wir haben keine Schaufeln, um sie zu begraben. Aber wir können versuchen, uns die Stelle einzuprägen und wiederzukommen, wenn wir hier rausgefunden haben.«
Martin lenkte den Lichtstrahl seiner Taschenlampe von der Frau weg und richtete sie nach vorn. Dann bewegte er ihn langsam nach links und suchte nach etwas Einprägsamen.
»Da hinten ist eine Hütte. Die können wir uns gut merken«, sagte er.
Stille.
Plötzlich legte sich in seinem Kopf ein Schalter um.
»Da hinten ist eine Hütte!«, wiederholte er aufgeregt. »Das gibt’s ja nicht. Dort können wir übernachten!«
Finn drehte sich um und brauchte einen Moment, bis er sie mit seiner Taschenlampe fand. Zwischen den Ästen und Baumstämmen, ungefähr zwanzig Meter entfernt, erblickte er eine Holztür.
»Martin, du bist ein Genie. Wie hast du die nur sehen können, so wie die getarnt ist?«
»Keine Ahnung.«
»Komm, lass uns hingehen«, sagte Finn und reichte seinem Freund die Hand, um ihm hochzuhelfen. Dann gingen sie mit schnellen Schritten auf die Holztür zu. Doch mit jedem Schritt wurde ihre Euphorie geringer.
Es gibt einen Ort im Wald, dachte Finn. Einen Ort, den man nur an den Feiertagen besuchen darf. Wieso?
Komm…lass es uns gemeinsam herausfinden.

- Das Ende -​

Je näher sie der Hütte kamen, desto mehr wurde ihnen bewusst, dass sie größer war, als es anfangs den Anschein gehabt hatte. Die Seitenwände waren – bis auf ein paar kleine Lücken – mit Holzbalken und Sträuchern bedeckt, und in der vorderen Wand klaffte ein großes Loch, in dem sich eine dunkle, unhandliche Holztür befand.
Martin fand, dass sie sehr alt aussah. Als er erneut einen Blick auf die Seitenwände warf, bekam er eine Gänsehaut. Aus der Nähe konnte man erkennen, dass die Wände gar nicht mit Balken und Sträuchern bedeckt waren, wie es zunächst gewirkt hatte. Stattdessen standen rund um die Hütte in kleinen Abständen viele Bäume – einige wuchsen gerade in den Himmel, andere schienen sich um die Hütte zu schmiegen. Diese Bäume, zusammen mit dem verwitterten Zustand der Tür, ließen darauf schließen, dass dieses Holzhaus schon seit vielen Jahren an genau diesem Ort stand.
Aber Martin sagte nichts. Diese Erkenntnis bereitete ihm Unbehagen, aber er wollte Finn nicht auch noch damit belasten. Außerdem vermutete er, dass sein Freund ohnehin dieselbe Schlussfolgerung gezogen hatte.
Nur noch ein paar Meter, dann würden sie die Tür erreicht haben. Ohne es zu merken, waren ihre Schritte langsamer geworden, je näher sie ihrem Zufluchtsort kamen. Der Wind war noch stärker geworden und trieb die immer dichter fallenden Schneeflocken in ihre ungeschützten Gesichter. Für die beiden Männer stand fest: Sie konnten die Nacht nicht draußen verbringen. Dafür war es einfach zu kalt. Und jetzt standen sie direkt vor der alten Tür und richteten ihre Taschenlampen auf das raue, unebene Holz.
»Siehst du das?«, fragte Martin zögerlich und deutete mit dem Finger auf ein Symbol, das in die Tür geritzt war. Man musste genau hinsehen, um es überhaupt wahrzunehmen.

∞Y∞

»Das sieht aus wie etwas Okkultes.«, stellte Finn fest, dem seine Angst äußerlich nicht anzumerken war. »Vielleicht ist das ein altes Familiensymbol.«
»Wenn das ein Horrorfilm wäre, würden jetzt alle Zuschauer die Leinwand anschreien, dass wir bloß nicht in diese Hütte gehen sollen.«, sagte Martin und tat so, als würde er nach den Filmkameras Ausschau halten.
»Wenn die wüssten, wie unerträglich kalt es gerade ist…hört ihr, Liebe Zuschauer? Wir sind keine dummen Teenager, aber es ist viel zu kalt draußen!«
»Wollen wir vorher klopfen?«, fragte Finn und ging nicht auf Martins Worte ein.
Ohne zu antworten, schlug dieser dreimal kräftig mit der Faust gegen das Holz.
Rums. Rums. Rums.
»Hallo?«, rief Martin. »Ist jemand zuhause?«
Keine Antwort.
»Hallo?«, wiederholte er, diesmal lauter. »Scheint so, als wäre niemand da.«
»Dann hoffen wir mal, dass die Tür nicht abgeschlossen ist«, sagte Finn und griff nach der Türklinke. Sie fühlte sich rau und eisig an. Nur mit Mühe ließ sie sich nach unten drücken. Sie hörten ein gedämpftes Klack, dann lehnte sich Finn mit seinem Körper gegen die Tür. Sie war tatsächlich nicht abgeschlossen und öffnete sich mit einem dumpfen, schleifenden Geräusch.
Gott sei Dank, dachte Finn, als ihm warme Luft aus dem Inneren der Hütte entgegenströmte. Einen kurzen Augenblick verharrte er in dieser Position, während sich die Wärme langsam in seinem Gesicht ausbreitete. Sie wanderte durch seinen ganzen Körper, beruhigend und trügerisch wohltuend. Fünf Sekunden. Sechs Sekunden. Sieben.
Langsam senkte Finn die Hand mit der Taschenlampe – sein Blick folgte dem Lichtkegel und eine böse Vorahnung bestätigte sich.
»Gehen wir jetzt rein oder nicht?«, fragte Martin ungeduldig. »Mir ist kalt.«
»Siehst du das?«
»Was denn?«
»Na das«, antwortete Finn und deutete mit seinem Finger auf eine Stelle des Holzbodens, die vom Licht erfasst wurde.
»Ein Riss im Holz. Na und?«
»Ich hoffe, dass es nur das ist. Aber ich glaube, es ist etwas anderes.« Langsam drückte Finn die Tür weiter auf. Der vermeintliche Riss im Holz entpuppte sich als der erste Strich des Buchstaben N. Je weiter sich die Tür öffnete, desto mehr Buchstaben kamen zum Vorschein, bis schließlich ein ganzer Satz zu sehen war. Und was dort stand, ließ eine unangenehme Nervosität in beiden Männern aufsteigen.

Nova artificia docuit fames​

»Das kann nichts Gutes bedeuten«, murmelte Martin. Er wusste genau, dass sie diese Hütte nicht betreten sollten. Schon von außen sah sie alles andere als einladend aus und im Inneren herrschte Dunkelheit. Keiner der beiden hatte es bisher gewagt seine Taschenlampe zu heben und ins Innere der Hütte zu leuchten.
Der heilige Ort, den man nur an den Feiertagen besuchen durfte. Nova artificia docuit fames – Neue Künste lehrte der Hunger.
Das ist eine allerletzte Warnung, dachte Martin. Danach gibt es kein Zurück.
»Wollen wir wirklich über die Schwelle treten?«, fragte Finn nach einer Weile.
»Um Wollen geht es dabei nicht. Ich glaube, wir haben gar keine andere Wahl.«
»Du hast recht«, stimmte Finn zu. »Da wird schon nichts passieren. Wir sind beide Katholiken und wir glauben nicht an solche Dinge.«
»Genau.«
»Und wenn es den lieben Gott wirklich gibt, wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, seine schützende Hand über uns zu halten.«
Keiner der beiden Männer bewegte sich. Im schwachen Schein ihrer Taschenlampen sahen sie sich an.
»Ich will da nicht reingehen.«, gab Finn zu und musste schmunzeln. »Lass uns doch das mit dem Iglu versuchen.«
»Gute Idee«, antwortete Martin erleichtert.
Plötzlich zuckten sie zusammen. An diesen Augenblick würde Finn im Laufe seines Lebens noch oft zurückdenken müssen. Dreht um und rennt weg, schreit Finn immer und immer wieder in seinen Träumen. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Und wer weiß schon, ob ein paar Sekunden mehr oder weniger etwas geändert hätten. Finn wusste es jedenfalls nicht.
Seine Armbanduhr zeigte 01:01 Uhr, als sie es noch einmal hörten – ein seltsames Nagen, gefolgt von einem Schmatzen.
Wie Stefan, der über seinen Futternapf herfällt, dachte Martin und vermisste seinen Collie.
Instinktiv hoben beide Männer ihre Taschenlampen und leuchteten ins Innere der Hütte. Auf jedem einzelnen Brett des Holzbodens war dasselbe Symbol eingeritzt wie an der Eingangstür. Und noch etwas fiel ihnen auf: Die gesamte Hütte bestand aus nur einem einzigen, großen Raum.
Das ist definitiv der Ort, von dem Oskar gesprochen hat, dachte Finn. Ohne jeden Zweifel.
Die beiden Freunde ließen die Lichtstrahlen ihrer Lampen langsam von der linken Wand nach rechts wandern.
Vor den Fenstern auf der linken Seite waren Holzbretter angebracht, in gleichmäßigen Abständen und grob mit Nägeln fixiert.
Vermutlich, damit sie trotz der Tarnung noch nach draußen schauen können, dachte Finn. In der hinteren linken Ecke der Hütte stand ein kleiner Holztisch, umringt von drei niedrigen Hockern. Auf dem Tisch standen vier massive Kerzen, deren Wachs sich wie die Wurzeln eines Baumes über die Holzfläche ergossen hatte – und darüber hinaus. Am Boden, entlang der linken Seitenwand, entdeckte Finn eine ganze Reihe weiterer großer Kerzen.
Na gut, dachte er und versuchte eine rationale Erklärung zu finden.
Durch die zugenagelten Fenster fällt hier wahrscheinlich nie Sonnenlicht ein. Da muss man eben auf andere Lichtquellen zurückgreifen…
Sie gelangten mit ihren Taschenlampen allmählich in die Mitte des Raumes.
Als erstes fiel Finn die große Feuerstelle am hinteren Ende der Hütte auf. Über dem erloschenen Feuerholz hing ein ungewöhnlich großer Topf und darüber befand sich eine Eisenstange, an der man etwas befestigen und über dem Feuer drehen und braten konnte.
Für eine dreiköpfige Familie ist der Topf eindeutig zu groß und die Stange ist definitiv zu lang, dachte Finn und sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet.
Außerdem dürfen sie doch gar nichts essen, oder etwa doch?
In der Mitte des Raumes war das Symbol noch einmal eingeritzt, diesmal deutlich größer. Es war jedoch größtenteils von einer seltsamen Vorrichtung verdeckt, die Finn an einen Krankenhausapparat aus dem Mittelalter erinnerte. Eine große Holzplatte, die etwa so groß war wie der Tisch in der Ecke. Auf ihr und rundherum: Lederschlaufen, Metallklingen – alles grob und schwer – und in jeder Ecke eine Kerze.
Finn leuchtete weiter nach rechts und entdeckte ein paar kleine Holzschüsseln, die neben der Apparatur auf dem Boden standen. Sie waren verschmiert und sahen aus wie das schmutzige Geschirr nach einem üppigen Festmahl. Aus den Schüsseln ragten ein paar Fleischreste und abgenagte Knochen heraus, die am ehesten aussahen wie…
»Oh Gott«, flüsterte Finn.
»Nein. Der ist ganz bestimmt nicht hier«, antwortete Martin kalt. »Was stimmt nicht mit den Wengers?«
Keine Ahnung, wollte Finn sagen, doch da hörte man es wieder: dieses schmatzende, nagende Geräusch.
Sie leuchteten in die hintere rechte Ecke der Hütte und es offenbarte sich ihnen ein grausames Bild. Getrocknetes Blut bildete einen braun-schwarzen Rahmen und klebte großflächig auf dem Holzboden. Hat hier ein Kampf stattgefunden?
Platsch

In der Mitte der Fläche glänzte frisches Blut, umgeben von zerrissenen Fleischfetzen. Dazwischen lagen mehrere grob abgetrennte menschliche Finger.
Platsch
»Finn, was ist das?«, fragte Martin »Tropft da Blut von der Decke?«
Langsam richteten die beiden Männer ihre Taschenlampen in die obere rechte Ecke des Raumes. Und sahen es. Dann hörten sie plötzlich einen Schrei. Den Schrei. Diesen Schrei, den sie schon zuvor im Wald gehört hatten. Er war so durchdringend, dass sie zusammenfuhren und sich die Ohren zuhielten. Ihre Taschenlampen fielen zu Boden und richteten sich erneut auf die Türschwelle.

Nova artificia docuit fames​

Als sie diese Worte lasen, fühlte es sich an, als würde dieses schreiende Etwas sie direkt in ihre Köpfe brüllen und in die Innenseite ihrer Schädelknochen einritzen, wie ein vernarrter Liebender die Initialen seiner Angebeteten.
Und dann war es plötzlich still.
Drei Sekunden vergingen. Dann vier. Fünf…
Zögerlich nahmen sie ihre zitternden Hände von den Ohren und leuchteten wieder in die rechte obere Ecke. Aber dort war nichts.
Die nächsten Augenblicke vergingen so schnell, dass sie Finn surrealer erschienen.
Wie ein Traum, dachte er. Bitte sei ein Traum.
Sein Lichtstrahl traf die Apparatur in der Mitte des Raumes. Das Wesen, was immer es auch war, hockte auf der Holzplatte auf allen Vieren, mit blutverschmierten Zähnen, die es fletschte wie ein Tier.
Und dann: Schwärze.
Martin und Finn fielen.
Sie fielen und fielen in ein bodenloses Nichts, bis sich alles um sie herum verzerrte.
Und dann fielen sie weiter.
Die Hütte verwandelte sich vor ihren Augen in eine bräunlich-schwarze Masse, die kreisend um das blutige Gebiss des Wesens wirbelte.
Ist das dieser Schock, von dem in Filmen gesprochen wird? Nein. Martin empfand es eher wie eine Erkenntnis – eine schmerzhafte, schwindelerregende Klarheit, die ihm die Luft raubte wie ein Schlag in den Magen.
Dann rannten sie. So schnell es ihre unterkühlten Beine zuließen. In die dunkle, eisige Nacht.
Finn dachte an seine kranke Frau Svenja. An seine kleine Tochter Annika. Niemals wieder würde er sie allein lassen. Das versprach er sich.
Nie wieder, nie wieder, nie wieder!, hallte es in seinem Kopf. Finns Lunge brannte, seine Beine waren schwer wie Blei, aber er durfte nicht stehen bleiben. Er betete zu Gott, dass er seine Familie wiedersehen würde. Sie brauchten ihn. Und er brauchte sie. Er wäre sogar auf die Knie gefallen, wenn das nicht seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Er hörte einen dumpfen Aufprall und lief weiter. Er hörte einen Aufschrei, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Brüllen und lief weiter. Er hörte, wie sein Name gerufen wurde und lief weiter. Hätte er stehenbleiben sollen? Hätte das etwas geändert? Finn wusste es nicht. Er hasste sich selbst und lief weiter. Er lief so lange, bis er Blut spuckte und erschöpft in den Schnee fiel. Warme Tränen liefen über seine Wangen. Doch nach ein paar Sekunden stand er wieder auf. Sein Herz raste und ihm war schwindelig. Aber er musste weiterlaufen. Dicke Schneeflocken flogen in sein Gesicht und vermischten sich mit seinen Tränen.
Nie wieder, nie wieder, nie wieder!, dachte Finn, während er in der eiskalten Nacht um sein Leben rannte.

Wir haben Jakob Wenger gefunden, dachte Martin, kurz bevor er von hinten mit einer gewaltigen Kraft zu Boden gerissen wurde. Er spürte einen stechenden, brennenden Schmerz in seinem Rücken und holte im Moment seines Todes noch ein letztes Mal tief Luft.
»FINN«, schrie er. »LAUF!«

 
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Hallo HiVolkmann,

Danke für Deine Geschichte!

Die beiden Männer liefen ein wenig abseits der Gruppe.
Ist das ein auktorialer Erzähler? Liest man heute selten, ist nicht leicht durchzuhalten. Sehr schön.
Aber: Warum kann ich dann nicht schon zu Beginn in Finns Kopf schauen und erfahren, weshalb er nicht über "das Thema" reden möchte?
Entweder, Du schreibst aus Martins Perspektive, und dann ist Dir bei "Die beiden Männer liefen abseits der Gruppe" ein Perspektivfehler unterlaufen, oder Du schreibst einen auktorialen Erzähler, der dann aber auch in Finns Kopf schauen sollte. In jedem Fall liegt ein Perspektivfehler vor.
»Ja, das weiß ich. Allein, dass Ida mit 47 Jahren noch schwanger werden konnte, ist einfach außergewöhnlich und…«
Das ist heute nicht mehr außergewöhnlich. Mit über 50, ja. Aber mit 47 und dem breiten Zugang zur Fertilitätsmedizin... ich würde für Jakobs Mutter ein noch höheres Alter wählen.
»Woher weißt du das denn?«, fiel Martin ihm ins Wort.
»Na woher wohl? Ich habe an dem Tag gearbeitet und jeder im Krankenhaus hat darüber gesprochen. Ida Wenger, das medizinische Wunder. Wollen wir uns das Baby angucken? Dann schnell nach oben in Zimmer 7.013!«
Völlig unrealistisch!
1. Patienten haben heutzutage Rechte und würden zu Recht protestieren, wenn Ärzte und anderes Personal fachfremder Abteilungen zuhauf, ohne medizinischen Anlass oder ohne Anlass zur medizinischen Lehre (z. B. Uniklinik) in ihr Zimmer platzen würden!
2. Sogar Ärzte haben Pietätsgefühl.
3. Die Kollegen aus der Frauenheilkunde würden die fachfremden Kollegen davon abhalten, aus Sensationsgeilheit Patienten aufzusuchen.
4. Kein fachfremder Kollege interessiert sich besonders für irgendein Neugeborenes, auch und gerade z.B. wenn es nur 600 g wiegt oder schwere Fehlbildungen hat.
5. Außerdem sind Mütter über 40, auch über 45, wie erwähnt, keinerlei Sensation mehr und es interessiert echt keinen, der professionell in der Medizin tätig ist.

Martin musste lachen.
»Ärzte können so bescheuert sein. Und in unsere Hände legen die Menschen ihr Leben…«
Das ist korrekt.
»Oh du sagst es. Von dir würde ich mich nicht operieren lassen.«, sagte Martin grinsend.
Das wäre realistisch.
»Dich würde ich während der OP aufwecken und am Herzen kitzeln.
Das ist wieder unrealistisch. Welcher Herzchirurg (soll das einer sein?) würde sich jemals so äußern? Auch im Privaten.

Wieso auch sollte man sich über seinen langweiligen Alltag unterhalten, wenn man stattdessen ein Bier trinken und dabei blöde Witze reißen konnte, die die meisten Menschen als unreif oder vulgär bezeichnet hätten.
Hihi, das ist nett!
Flüssigkeit mussten sie zu sich genommen haben, denn das hätte das Paar, selbst unter idealen Bedingungen, nur fünf Tage überleben können.
Umgangssprachlich! So klingt es, als könnten sie das Trinken nur fünf Tage überleben.
Besser:
Denn Flüssigkeitskarenz hätte das Paar .... nur fünf Tage überleben können.
Oder: denn nichts zu trinken, hätte das Paar ... nur fünf Tage überleben können.
Mittlerweile machte sich Martin nicht einmal mehr die Mühe so zu tun, als würde er nach Hinweisen suchen, die zu Jakob Wenger führen könnten.
Interpunktion: "... nicht einmal mehr die Mühe, so zu tun, ...."
Finn hingegen fühlte sich immer noch furchtbar.
Ok, es ist ein auktorialer Erzähler. Siehe Anmerkung oben zum obigen Perspektivfehler.
Der einzige Grund, wieso er sich überhaupt freiwillig gemeldet hatte, um bei der Suche nach dem Jungen zu helfen, war der, dass er versuchen wollte sein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen.
Umständlicher Satzbau und Interpunktionsfehler.
Besser: Es gab nur einen Grund, aus dem er sich freiwillig gemeldet hatte, um bei der Suche nach dem Jungen zu helfen: Er wollte versuchen, sein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen.
Martin wusste genau an was er gedacht hatte, und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
Umgangssprachlich formuliert und zwei Interpunktionsfehler.

Besser: Martin wusste genau, woran er gedacht hatte, und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Ein unangenehmes Gefühl schlich sich von hinten an und packte die beiden Männer im Genick.

"Das schlechte Gewissen" hat sich vorher auch von hinten angeschlichen und die Wendung wiederholt sich merklich.
Schweigen. Die beiden Männer blickten sich ratlos an und Angst wuchs tückisch in ihren Köpfen heran wie ein Gehirntumor.
Schiefer Vergleich, denn Gehirntumore wachsen im Vergleich zu dieser Angst der Beiden, die in Sekunden oder Minuten wächst, doch sehr, sehr langsam.
Vielleicht eine Gehirnblutung, wenn es schon ein medizinischer Vergleich sein muss. Die wächst, zumindest in einigen Fällen, in einem ähnlichen Zeitraum wie die Angst in dieser Situation.

Sie ahnten jedoch nicht, dass das Grauen, dem sie bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen waren, jetzt direkt vor ihnen lag.
Vorausdeutungen sind m. E. prätentiös und nervig!
Ich weiß als Leserin bereits, dass ein Grauen vor ihnen liegt. Es braucht hier keine Vorausdeutung.

»Vielleicht haben die Wengers eine kleine Hütter
Hütte

»Martin.«, nuschelte Finn und hatte dabei eine leichte Aufregung in der Stimme.
Warum nuschelt er?
Nuscheln und Aufregung passen nicht zusammen. Bocklosigkeit, Intoxikation oder Schläfrigkeit passen mit Nuscheln zusammen.
Vielleicht flüstert oder zischt Finn eher?
»Ja, das stimmt. Aber als wir im Unterricht die weniger bekannten Religionen der Weltgeschichte behandelt haben, wäre es schön gewesen, wenn ich genug über die Religion der Wengers gewusst hätte, um darüber sprechen zu können. Das ist immerhin eine Religion direkt in unserer Stadt und hätte die Relevanz des Themas für die Kinder deutlich erhöht.«, sagte Martin, ein wenig empörter, als ihm lieb war.
Nicht sein Ernst!!!
Es würde zu Recht Beschwerden hageln, sich als Lehrer mit "weniger bekannten Religionen" wie dem Okkultismus zu befassen. Außerdem hat ein normaler Geschichtslehrer dafür keine Zeit und muss einen Lehrplan durchprügeln.
Martin scheint zu wissen, dass es Okkultismus ist, denn sonst würde er es vielleicht "Die psychische Erkrankung der Wengers" nennen und nicht eine "Religion", für die man mehr als drei Anhänger benötigt.
»Ich finde es äußerst amüsant mir vorzustellen,
Interpunktion: ... amüsant, mir vorzustellen
dass du und Svenja eine Woche lang im Wald verbringt und in Erdlöcher scheißt«, antwortete Martin mit seiner hochnäsigen Humor Stimme.
Extrem umgangssprachlich, passt weder zum auktorialen Erzähler noch den beiden Akademiker-Helden.
Besser: "antwortete Martin." Schluss! Es ist dem Leser klar, dass diese Antwort sarkastisch klingt.

Daraufhin musste sein Freund ebenfalls lachen.
Martin hat doch gar nicht gelacht, sondern nur seine "hochnäsige Humor Stimme" an den Tag gelegt?

»Weißt du«, begann er zurückhaltend, »während der Arbeit habe ich die ganze Zeit mit kranken Menschen zu tun, und an manchen Tagen…« Finn machte eine Pause, kämpfte gegen die Tränen an. »An manchen Tagen ertrage ich es nicht, nach Hause zu kommen, weil…weil dort zwei weitere Patienten auf mich warten.«
Ein Baby ist zwar pflegebedürftig, aber kein Patient.
»Das verstehe ich.«, antwortete Martin ohne Zögern. »Das ist nichts Schlimmes, hörst du? Das ist eine unfassbar schwierige Situation, und du bist auch nur ein Mensch.«
Finn lächelte leicht und ließ die Worte seines Freundes wirken. Er fragte sich, wieso er überhaupt Angst vor Martins Worten gehabt hatte, und dankte Gott für seinen besten Freund.
Naja, sooooo skandalös war seine Aussage von eben jetzt auch nicht. Er betreibt eher Mitleids-Fishing.

Sie liefen schweigend so schnell es die Lautstärke ihrer Schritte zuließ, bis plötzlich etwas in einem von Martins Fußabdrücken lag. Beinahe wäre er hineingetreten und konnte seinen Schuh nur geradeso daneben setzen.
Beinahe wäre Finn hereingetreten
Diesmal so laut, als ob das – was immer es auch war - direkt hinter ihnen stehen würde.
Umständlicher Satzbau, uneleganter Konjunktiv.
Besser: "Diesmal so laut, als stünde das -- was immer es auch war -- direkt hinter ihnen."
Finn zwang sich zu einem kurzen Lachen. Er konnte an nichts anderes als an seine Familie denken und hasste sich dafür, gerade nicht bei ihnen zu sein.
Wir wissen dank zahlreicher Erwähnungen bereits, dass Finn ein Gutmensch ist. Erfrischender und realistischer wäre es, wenn er sich freute, mal nicht am Krankenlager sein zu müssen.

»Was ist denn bitte wichtiger als deine Frau und dein Sohn?«
»Ganz ehrlich? Der Gedanke, nie wieder unterrichten zu können, macht mich fertig.«
Hahaha! Das finde ich mal eine perfekte Charakterisierung eines Lehrers.
»MARTIN!«, rief Finn plötzlich mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die Martin so von ihm nicht kannte. Finns Kollegen aus dem Arbeitskrankenhaus hätten diesen Tonfall sofort wiedererkannt.
Was, bitte, ist ein "Arbeitskrankenhaus"?
Wir wissen ja schon, dass Finn Arzt ist und im Krankenhaus arbeitet.
"Krankenhaus" reicht, oder, noch besser, einfach "Finns Kollegen". Ohne das Wort Krankenhaus.
Er wird sterben, dachte Martin. Verdammte scheiße wieso ist er dem Geräusch gefolgt…
Scheiße
Und jetzt lag sie hier – blutend im Schnee, durchdrungen von Schmerz, während sich vereinzelte Schneeflocken ihren Weg durch die offenen Wunden in den Körper der Frau bahnten.
Naja, die Schneeflocken als solche ja nicht, sie ändern ihren Aggregatzustand durch die Körperwärme.

»Hey, alles in Ordnung?«, fragte Finn, dem erst jetzt bewusst wurde, dass sein Freund nicht jeden Tag eine Leiche zu Gesicht bekam. »Möchtest du drüber sprechen?«

Die sind aber auch moderne Männer, die beiden.
So was sagt nur ein ganz, ganz moderner Chirurg in einer modernen, unrealistischen Geschichte.
Man macht nicht sofort vor Ort eine Pseudo-Trauma-Therapie. Zumal eine selbige (bzw. nicht Pseudo, ein echtes "Debriefing") die Raten an psychischen Folgeerkrankungen traumatischer Erlebnisse erhöht und nicht senkt.

Denn sie sollten jetzt mehr so drüber sprechen, 1. wer jetzt mal einen Weg findet, die "Autoritäten" zu verständigen und 2. wie sie selbst aus dem Wald rauskommen .

»Nein«, antwortete Martin mit gebrochener Stimme. »Gib mir einfach ein bisschen Zeit.«
So sprechen in der Situation nur Darsteller einer Soap-Opera und keine Menschen, die gerade vor physischen Herausforderungen stehen.
Etwa zehn Minuten vergingen, bevor Martin die Stille durchbrach.
Zehn weitere Minuten in der Eiseskälte?!?

Plötzlich legte sich in seinem Kopf ein Schalter um.
Schon wieder! In Martins Kopf legen sich öfter mal "Schalter um" in dieser Geschichte.
»Da hinten ist eine Hütte!«, wiederholte er aufgeregt. »Das gibt’s ja nicht. Dort können wir übernachten!«
Woher weiß er, dass sie dort übernachten können?
Diese Bäume, zusammen mit dem verwitterten Zustand der Tür, ließen darauf schließen, dass dieses Holzhaus schon seit vielen Jahren an genau diesem Ort stand.
Wo hätte es sonst stehen sollen, als an genau diesem Ort?
Besser: "...dass dieses Holzhaus schon seit vielen Jahren an jenem Ort stand."
Aber Martin sagte nichts. Diese Erkenntnis bereitete ihm Unbehagen, aber er wollte Finn nicht auch noch damit belasten.
Mit einer evtl. unmittelbar wichtigen Erkenntnis belasten? Sie sind aber auch immer rücksichtsvoll und empathisch zueinander. Vielleicht sollte die Geschichte lieber "Tödliche Empathie" heißen?
Außerdem vermutete er, dass sein Freund ohnehin dieselbe Schlussfolgerung gezogen hatte.
Vielleicht! Vielleicht auch nicht!
∞Y∞

»Das sieht aus wie etwas Okkultes.«, stellte Finn fest,

Welch eine Überraschung.
»Wenn das ein Horrorfilm wäre, würden jetzt alle Zuschauer die Leinwand anschreien, dass wir bloß nicht in diese Hütte gehen sollen.«,
Das ist richtig! Sie würden es und wir Leser tun es!

sagte Martin und tat so, als würde er nach den Filmkameras Ausschau halten.
»Wenn die wüssten, wie unerträglich kalt es gerade ist…hört ihr, Liebe Zuschauer? Wir sind keine dummen Teenager, aber es ist viel zu kalt draußen!«
Hier hört man den Autor heraus, der stolz auf seinen Kniff ist, den Helden eine ausreichend starke Motivation verpasst zu haben.
Befinden wir uns jetzt plötzlich in einer Parodie?
Gott sei Dank, dachte Finn, als ihm warme Luft aus dem Inneren der Hütte entgegenströmte.
Wieso ist das da drin warm? Ist es ein Passivhaus?

Einen kurzen Augenblick verharrte er in dieser Position, während sich die Wärme langsam in seinem Gesicht ausbreitete. Sie wanderte durch seinen ganzen Körper, beruhigend und trügerisch wohltuend.
Trügerisch wohltuend ist wieder so eine überflüssige Vorausdeutung!
Keiner der beiden hatte es bisher gewagt seine Taschenlampe zu heben und ins Innere der Hütte zu leuchten.
Interpunktion: ... gewagt, seine
»Du hast recht«, stimmte Finn zu. »Da wird schon nichts passieren. Wir sind beide Katholiken und wir glauben nicht an solche Dinge.«
Hahahaha! Gerade Katholiken und andere Gläubige fürchten sich enorm vor dem Okkulten, weil es die Religion des Satans ist, den es für echte Katholiken selbstverständlich gibt. Und vielleicht, weil es eine konkurrierende Glaubensrichtung ist.
Plötzlich zuckten sie zusammen. An diesen Augenblick würde Finn im Laufe seines Lebens noch oft zurückdenken müssen.
Ach nee, jetzt weiß ich schon, dass er überlebt? Und wieder so eine Spoiler-Vorausdeutung!

Es war jedoch größtenteils von einer seltsamen Vorrichtung verdeckt, die Finn an einen Krankenhausapparat aus dem Mittelalter erinnerte.

Im Mittelalter gab es noch keine Krankenhäuser.
Als sie diese Worte lasen, fühlte es sich an, als würde dieses schreiende Etwas sie direkt in ihre Köpfe brüllen und in die Innenseite ihrer Schädelknochen einritzen,
"sie" weglassen

Mein Fazit:
Deinen Stil finde ich bis auf wenige Patzer gut, angenehm zu lesen, dem Sujet angemessen.
Die auktoriale Perspektive ist zu Beginn handwerklich nicht perfekt umgesetzt, passt aber trotzdem und erfrischt.
Die Männerfreundschaft fand ich kitschig umgesetzt. Zu Beginn hat sie mich noch mitgenommen, als die beiden sich necken, aber den späteren gefühlsduseligen Ton fand ich unnötig und er fiel mir unangenehm auf. Man versteht auch ohne ihre Bobby-Ewing-Sensibilität, dass sie sich sehr nahe stehen.
Horrorgeschichten drehen sich ständig um Okkultismus. Das ist nicht meins, muss aber scheinbar sein.
Die medizinischen Vergleiche und der berufliche Hintergrund Finns sind schlecht recherchiert.
Vorausdeutungen als Stilmittel sind für mich unter aller erzählerischer Würde, aber das bin vielleicht bloß ich und mein Geschmack.
Insgesamt eine gute Gruselgeschichte ohne wesentliche "Cringe"-Momente, sage ich als
Nicht-Fan des Genres.

Viele Grüße von Pazifik

 

Wow. Vielen Dank für dieses ausführliche Feedback! Da waren definitiv einige Punkte dabei, bei denen ich mich beim Lesen gefragt habe, wie ich das nicht vorher habe sehen können. Also ganz ehrlich: Vielen Dank!
Leider stecke ich momentan mitten im Staatsexamen und werde vermutlich erst in ein paar Wochen dazu kommen, meinen Text zu überarbeiten. Das erwähne ich nur, weil ich auf keinen Fall undankbar erscheinen will! Ich werde meinen Text definitiv überarbeiten und dabei einige deiner angemerkten Punkte aufgreifen.
Vielen Dank noch einmal und hoffentlich bis in ein paar Wochen (mit einer perfekten Gruselgeschichte)!

 

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