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Verneigung zwischen Tadashi und Michiko
Tadashi absolvierte allmorgendlich auf dem Balkon Übungen, die zur Stärkung von Körper und Geist dienten. Ein Beobachter könnte es auch als Ehrerbietung an die aufgehende Sonne deuten.
Michiko schaute ihm aus dem Haus gegenüber zu. Sie war durch die behutsamen Bewegungen seiner Arme aufmerksam geworden. Es waren graziöse Bewegungen im Zeitlupentempo, die etwas Tänzerisches aufwiesen. Der nackte Oberkörper des Mannes wurde eben von ersten Sonnenstrahlen gestreift. Ein ungewöhnlicher Anblick, wie eine Bühnendarbietung.
Das tägliche Schauspiel des sich der aufgehenden Sonne entgegenreckenden Körpers zog sie in den Bann. Auch ein Regentag schreckte ihn nicht ab. Die vom Wind getragenen Regentropfen perlten auf seiner Haut, während er durch Konzentration geübt Gleichmut zeigte. Keine Verkürzung der Übungen war erkennbar, mit stoischer Ruhe führte er sie aus. Die Stoffhose klebte an seinem Körper und liess so die Bewegungen bis in die Beine mitverfolgen.
Eines Abends stand Tadashi auf dem Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Dies tat er immer so, wenn ihm nach diesem Genuss verlangte, in den Wohnräumen rauchte er nicht. Das Licht aus dem Raum hinter ihm liess seine Silhouette wie ein Scherenschnitt abheben. Gegenüber wurde die Raumbeleuchtung eingeschaltet. Durch das Fenster war niemand zu sehen, nur Möbelstücke eines Wohnzimmers sowie ein Rollbild an der Wand.
Ein erster Stern machte sich reflektierend am Abendhimmel bemerkbar. Tadashi mochte diese Stimmung vor der hereinbrechenden Nacht.
Die Bewegung einer Frau gegenüber, die unbekleidet den Raum betrat, erweckte seine Aufmerksamkeit. Einen Stuhl vom Tisch wegziehend, hantierte sie und begann mit einer Hand sich über Schulter und Arm zu streifen. Tadashis Blick war unbefangen, so wie er vorher den Abendhimmel betrachtete. Manchmal griff sie zur anderen Hand, in der sie einen Gegenstand hielt. Ihre Hand strich nun in langsamer Bewegung über eine Brust. Bisher hatte er noch nie eine Frau bei der Körperpflege gesehen.
Einen Fuss stellte sie auf den Stuhl und begann die Beine einzureiben. Ihre Hände glitten behutsam den Oberschenkel entlang zum Knie, auf der Innenseite wieder hochziehend. Auf das Geschehen konzentriert, versetzte Tadashi sich in die Empfindung der Hautberührung. Als die Behandlung beider Beine abgeschlossen war, rückte sie den Stuhl beiseite.
Tadashi zündete eine weitere Zigarette an, was ihm nicht üblich war, da er nur wenige im Tag konsumierte. Das Licht der Flamme erhellte kurz sein Gesicht.
Die Frau begann mit den Armen Dehnbewegungen auszuüben, wodurch ihre Brüste sich hoben und senkten. Nach verschiedenen Übungen hob sie die rechte Fussspitze auf die Tischkante, das Bein ausgestreckt und beugte sich vornüber, die Arme ausgestreckt. Die Behutsamkeit, mit der sie ihre Bewegungen ausführte, waren Tadashi nachvollziehbar, obgleich ihre Übungen nicht den seinen entsprachen. Sein Interesse war dadurch aber noch mehr geschärft. Er blickte gespannt, als sie sich mit gespreizten Beinen hinstellte, und langsame Rumpfbewegungen ausführte. Ihre nächste Übung war eine Rückwärtsbeugung des Körpers, mit den Händen sich am Stuhl abstützend. Ihre Knie waren dazu nach vorn gestellt, sie langsam streckend. Sie musste sehr biegsam sein. Als sie wieder aufrecht stand, nahm sie einige Lockerungsübungen vor. Die Sachen auf dem Tisch zusammenpackend, ging sie hinaus, das Licht im Raum löschend. Tadashi stand noch eine Weile da, die Bilder sich in die Erinnerung einprägend, dann zog er sich zurück.
Am nächsten Morgen war Michiko bereits auf, als der junge Mann den Balkon betrat. Ihr Fenster hatte sie weit geöffnet, in der Luft war die Frische der Nacht noch spürbar. Vom klaren Himmel streiften erste Sonnenstrahlen die gegenüberliegende Hauswand.
Sie bemerkte, dass er nicht mehr eine lange Hose trug, sondern einen String, ähnlich dem eines Sumo. Der Haltung nach begann er sich zu sammeln, den Blick dem Himmel zugewandt. Langsam hoben sich seine Arme, seine Beine spreizten sich, und die behutsam fliessenden Bewegungen setzten ein. Sein schlanker Körper wirkte geschmeidig, die absolvierten Figuren von eleganter Natürlichkeit. Bei einer Übung, die seinen Körper zur Seite bewegte, nahm sie das Spiel seiner Sehnen und Muskeln überm Gesäss wahr. Ein Anblick, der ihr ein anregendes Gefühl bereitete. Sie blickte nah am Fenster stehend mit Faszination zu. Nach einer abschliessenden Übung stand er statuenhaft, die Augen geradeaus gerichtet. Michiko vermeinte, sein Blick durchdringe sie, ohne sie wahrzunehmen. Wie vor dem Himmel verneigend beugte er sich. Instinktiv erwiderte Michiko die Verneigung.
Erstmals herrschte an diesem Abend eine milde Temperatur, da die Sonne am Tag die Luft stärker zu erwärmen vermochte. Tadashi trat vor Sonnenuntergang auf den Balkon und schaute kurz auf das Fenster gegenüber, welches weit geöffnet stand. Ein letzter Sonnenstrahl reichte tief in den Raum hinein.
Längere Zeit stand er da, die Arme verschränkt, ohne dass sich gegenüber etwas regte. In der sich ausbreitenden Dunkelheit studierte er den Sternenhimmel, um der keimenden Ungeduld Einhalt zu gebieten. Wie bei einem Theaterauftakt erhellte sich der Raum gegenüber. Die Frau stand in einem Kimono gekleidet neben der Tür im Wohnzimmer, die Hand vom Lichtschalter wegziehend. Mit wenigen Schritten auf das Fenster zutretend, als wollte sie sich seiner Aufmerksamkeit vergewissern. Das Licht hinter ihm zeichnete ihn. Ihre Hand, welche sie an den Gürtel legte, zog am Obi. Der Kimono teilte sich und sie streifte ihn ab, während sie sich umdrehend zum Tisch trat. Es waren die gleichen Handlungen wie am vorgehenden Abend, die sie vollzog. Nur einzelne Bewegungen schienen noch ausführlicher. Auch war ihm, als ob sie mehr Zeit aufwandte, die Körperpflege und die Übungen noch behutsamer vornahm. Zum Schluss stand sie dem Fenster zugewandt, eine leichte Verneigung vornehmend. Tadashi verbeugte sich auch.
Als sie ihr Licht löschte, blieb er stehen, sich der Bilder erinnernd. Im Fenster gegenüber erhellte eine kleine Flamme für einen Augenblick das Gesicht der Frau, dann war ein rot glimmernder Punkt zu sehen. Er zündete auch eine Zigarette an, die Erste an diesem Abend. Wie miteinander kommunizierend erhellten sich zeitweilig die beiden roten Punkte in der Dunkelheit.
Tadashi war zum Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft, als er unvermittelt der Frau von gegenüber begegnete. Sie stand plötzlich im gleichen Regalgang, ihre Blicke kreuzten sich. Sie wirkte unauffällig, hübsch, vielleicht wäre sie ihm nicht aufgefallen, wenn er sie in letzter Zeit nicht intensiv betrachtet hätte. Doch je länger der Moment dauerte, nahm er ihr Gesicht, ihre geschwungenen Lippen, als vollendete Anmut wahr.
Michiko erblickte den jungen Mann, seine körperliche Spannkraft war ihr vertraut. In seiner Alltagskleidung hob er sich von andern jungen Männern kaum ab, doch zeichnete ein reifer Zug sein Gesicht. Den Blick seiner mandelförmigen Augen, der einen langen Moment dem ihren begegnete, nahm sie als angenehm wahr.
Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich, beide in den Regalen wählend. Als sie auf gleicher Höhe waren, verneigten sie sich höflich einander gegenüber, wie Bekannte die sich nicht namentlich kennen, und gingen weiter. Ihre Gesichter waren dabei von ausdrucksloser Freundlichkeit.
Tadashi setzte seine Betrachtung am Abend wieder fort, Michiko ihre am nächsten Morgen, in den Bewegungsausführungen sich einander sachte annähernd.