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Verpasst
Verpasst
Völlig apathisch rührte er im trüben Kaffee herum und wirbelte den Kaffeesatz auf. Hypnotisiert vom zerrissenen Licht, dass von der langen Neonröhre an der Decke in seine Tasse fiel, konnte seine stoische Ruhe durch nichts gestört werden. Nur hin und wieder, wenn sich jemand ein Buch ausleihen wollte, blickte er über den Rand seiner dicken Brille.
„Kundennummer?“ Es folgt eine sechsstellige Zahl, die er auf einem Zettel notiert, den er anschliessend in den Mülleimer wirft. „Bis Freitag zurück bringen.“
In vierzig Jahren Berufserfahrung stellte sich diese Art und Weise den Kunden zu bedienen als die einfachste heraus. Er probierte viel: „Bitte“ „Danke“ „Einen schönen Tag noch“ „Bis zum nächsten Mal, Herr/ Frau soundso“ „Ein vorzügliches Werk von sowieso über soundso, für welches sie sich interessieren“. Doch irgendwann merkte er, dass sein Gehalt davon nicht stieg, dass die Bücher nicht unversehrter zurückgegeben wurden und dass es ihn nicht glücklicher machte, wenn er guter Laune war.
Also reduzierte er die Dialoge auf das Nötigste. Sein Gehalt blieb gleich, die Bücher waren nicht kaputter als sonst. Es machte ihn zwar auch nicht glücklich, aber durch den mittlerweile automatisierten Prozess war es ein Leichtes in den Stand-by-Modus zurückzufinden. Besser noch: Er war in der Lage vom Stand-by-Modus aus zu agieren, was nicht viele von sich behaupten können. Im Grunde genommen brauchte er nur von acht Uhr morgens bis um fünf Uhr Nachmittags geistesabwesend in die Brühe zu sabbern, die er ohnehin nie trank – nur rührte – und wartete auf seine Pensionierung.
Völlig getrennt vom Diesseits, gedanklich irgendwo zwischen Lebensabend und Tod, konnte ihn nur eines mit voller Härte aus dem Dämmerschlaf reissen: Wenn jemand das kotzgrüne Buch aus dem Regal zog, welches er nie gelesen hatte und genau in seinem Blickfeld lag. Er hat es mit Absicht so hingestellt, damit er sofort bemerkt, wenn jemand dafür Interesse zeigt. Dies kam etwa einmal im Monat vor – Tendenz steigend.
Dann meldete sich ein heftiges Neuronengewitter in seinem völlig verstaubten Rechenzentrum und liess für einen Moment jede einzelne Muskelfaser seines ausgemergelten, krummen Körpers zusammenzucken.
„Ein schlechtes Buch“ war alles, was er zu sagen brauchte. Der dezent aggressive Unterton und sein faltiges, bulldoggenartiges Gesicht – nicht minder aggressiv – reichte aus um jedem, der Interesse daran zeigte, dieses mit durchschlagendem Erfolg zu Nichte zu machen.
Nachdem sich die Vertriebenen - üblicherweise adrett gekleidete Herren oder Damen mit Dauerwelle und Absätzen – erschrocken vom Regal zurückzogen, entweder ins innere der Bibliothek oder schnellst möglich gen Ausgang, atmete er auf und konnte weiter in seinem Kaffee rühren. Doch es liess ihn erst dann wieder los, wenn er den Blick ein weiteres mal hob, um den wohl vertrauten und doch so gehassten Titel zu lesen, der ihn dreizeilig, in goldenen Lettern, groß und gut lesbar vom kotzgrünen Buchrücken aus angaffte:
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Erst dann konnte er nach einigen Minuten stillen Kampfes wieder der Apathie verfallen, bis der nächste an das Regal herantrat...