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Verschollen am River Mersey
Es war früher Abend in Liverpool. Ein noch reger Betrieb herrschte auf den Wegen entlang der Hafenanlagen nahe den imposanten Royal Albert Docks, wo immer noch Gruppen von Spaziergängern flanieren, um den ausklingenden Tag zu genießen. Ein spätes, sanftes Licht senkt sich auf die Ufer des River Mersey, hier, wo ein leichter Wind die Meeresluft von der Irischen See mit dem Hafengeruch aus Altmetall, Schiffsdiesel und Salzwasser vermischt. Die Andeutung einer morbide Stimmung lag über der Kulisse dieser Stadt, die schon so oft Ort für Sehnsüchte und Inspirationen vieler Besucher gewesen ist. Dieses Flair nahm ich intensiv in mich auf, am vermeintlichen Endpunkt einer Reise. In meinem Ohr leicht verwehte Töne von Gitarrenriffs und Schlagzeugwirbeln, die aus der nahen Altstadt aus engen Gassen und schmalen Seitenstraßen zu mir herüberklingen. Irgendwo im Hintergrund die melancholische Melodie eines Straßenmusikers.
Ich bin bis dicht an das Ziel meiner Reise gelangt, nachdem ich die erste Station meines Weges, den Stadtteil St. Pauli, die vielschichtige, wilde Seite Hamburgs, hinter mich gelassen habe. Dort habe ich in endlosen Nächten Spuren meiner Familie zurückzuverfolgen versucht; als Orientierungshilfe nur mit vagen Geschichten aus dem mir ansonsten unbekannten Teil des Lebens meiner Großmutter auf St. Pauli der frühen Sechzigerjahre ausgestattet.
„Das kannst du vergessen. Da wirst du nichts Brauchbares finden. Was soll das überhaupt? Willst du Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig erleben?“
Mitdiesen Worten hatte mich meine Schwester verabschiedet, mit der ich als Kind bei Pflegeeltern aufgewachsen bin. Und von dieser Feststellung begleitet, begab ich mich auf die Suche – augenscheinlich mit nur wenig Aussicht auf Erfolg. Als Anhaltspunkte hatte ich lediglich Erzählungen über Ausschweifungen meiner Großmutter im Dunstkreis englischer Rockmusiker in jener Zeit. Diese Narrative waren angereichert mit verschwommenen Spuren: Namen von Musikkneipen und Clubs, angedeutete Ereignisse, anrüchige Erzählungen über einige Musiker aus dieser Szene, sowie das Gerücht um Paul McCartney – das war es auch schon. Aber in meinen Erinnerungen, die in den zurückliegenden Jahren immer intensiver um das Verschwinden meiner Mutter kreisten, die sich irgendwann aufgemacht hatte, um nach ihrem leiblichen Vater zu suchen, lebte mehr: Ein starkes Gefühl der Sehnsucht, eingehüllt in mir wenig erklärbare Geschichten, sowie die Musik meiner Kindheitstage. Und der Wunsch, mehr über die Beweggründe meiner Mutter zu erfahren, veranlasste mich, Schauplätze in Hamburg aufzusuchen, an denen meine Großmutter einige ihrer jungen Jahre verbracht hatte, und wo meine Mutter ihre Suche vermutlich begonnen hat. Mich ohne konkrete Anhaltspunkte auf den Weg zu machen, schien wenig erfolgversprechend. Jedoch der Impuls, wichtige Hintergründe zu diesem Teil meiner Familiengeschichte in Erfahrung zu bringen, war stärker.
Wie befürchtet, ergaben meine ersten Versuche auf St. Pauli nichts, das mir wirklich weiterhalf. Einige frühere Namen von Lokalen und Clubs aus dieser Zeit existierten zwar noch, hatten aber keinen direkten Bezug mehr zu der Kneipen- und Musikszene jener Tage.
„Versuch's doch mal ein Stück weiter. Ganz hier in der Nähe. In den Nebenstraßen. Kleine Freiheit, Hamburger Berg. Irgendwo da. In den Kaschemmen dort. Mit'n bisschen Glück gibt's da noch ein paar Übriggebliebene. Aber nach so langer Zeit?“
Solche Auskünfte einiger älterer Gäste dieser Lokalitäten waren gutgemeint, bestärkten mich aber nicht in meinen Hoffnungen. Ich begab mich dennoch auf eine Tour durch ein Milieu, in dem der nach unten durchgereichte Teil der Gesellschaft seine Zeit totschlägt, wohinter heruntergekommenen Fassaden ein Parallelleben in der abgestandenen Schäbigkeit von Spelunken stattfindet.
Was folgte, waren Abende und Nächte in Kneipen, in denen ich, im Dunstkreis gescheiterter Existenzen, nach Hinweisen suchte. Und dies erwies sich ein zähes Unterfangen. Dann ein Hoffnungsschimmer. Der ehemalige Lokalreporter einer früheren Stadtteilzeitung schien sich an meine Gr0ßmutter erinnern können.
„Ja ,so eine Gudrun kannte ich. Die hingen hier alle rum. Mädchen aus der Provinz. Hauptsache weg von Zuhaus. Die suchten hier das romantische Abenteuer. Die Beatles und andere waren angesagt. Und Kinder von denen gab's dann auch schon mal.“
Er grinste mich dabei augenzwinkernd an. Das waren keine ergiebigen Auskünfte, aber immerhin. Ich hakte nach:
„Gibt's denn irgendwas Konkretes? Namen, Adressen, oder so?“
Die Antwort war ernüchternd.
„Nee, weiß ich nicht. Aber von den Beatles war Gudruns Kind eher nicht. Soll aber auch einer von denen aus Liverpool gewesen sein. Ein Roadie, oder so, glaube ich.“
Erfuhr fort:
„Der einzige Rat, den ich dir geben kann: Probier's mal in Liverpool.“
Und so suchte ich dann in der Stadt am Mersey nun seit Tagen in der Umgebung des legendären Cavern Pub. Ich zog durch ungezählte Kneipen und Bars, nahm Kontakt zu früheren Konzertveranstaltern auf, selbst Archive der Musiker-Gewerkschaft ließ ich nicht aus. Einige Spuren führten weit in die Vergangenheit zurück, ergaben aber nichts, was mich konkret weitergebracht hätte. Bis ich an einem Punkt angekommen war, an dem ich nicht mehr sicher war, ob ich in den richtigen Pubs geforscht hatte, mich überhaupt mit den richtigen Leuten unterhalten hatte. Unzählige Geschichten hatte ich mir angehört, erzählt von alten Männern, die an den Tresen und auf Bänken heruntergekommener Kneipen saßen, wo selbst die abgenutzten Tische Geschichten zu erzählen schienen. Hatte in Gesichter voll von verlorenen Träumen geblickt, die von diffusen Bildern aus gelebten Leben berichteten. Nichts hatte zu einem verwertbaren Ergebnis geführt; alles Vorstellbare fühlte sich für mich wie bereits Vergangenes an – eine Vorahnung des Scheiterns beschlich mich.
Dann, an meinem vermeintlich letzten Abend, in einem verrauchten Pub in irgendeiner der engen Gassen zwischen altem Gemäuer, traf ich auf eine ältere Frau, die mich auffällig musterte. In meinem frustrierten, vom Alkohol vernebelten Zustand, glaubte ich etwas Spezielles in ihrem Blick erkannt zu haben. Ich ging zögernd durch den abgenutzten Schankraum zu ihrem Tisch und nahm dort Platz. Und nach einer Weile erzählte ich ihr von der Suche nach meiner Mutter, die vermutlich hier in Liverpool verschollen war – es sprudelte nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihr von den wenigen, undeutlichen Erinnerungen an diese. Auch von den Gerüchten, die mich hierher verschlagen hatten, von Leuten aus dem Dunstkreis früherer Musiker, und von diesem einen Roadie. Eine ganze Weile hörte sie still zu und nickte dann.
„Ja ,so eine Frau aus Deutschland gab's hier damals. War oft hier im Pub. Alle wussten, die war auf der Suche. Nach ihrem Vater.“
Und weiter:
„Und sie war auf der Suche nach einem anderen Weg im Leben.“
War das die Wende? Ich konnte es kaum glauben, was ich hier gerade erfuhr. Ich zitterte vor Aufregung und schlagartig wurde ich nüchtern, ich wollte Einzelheiten erfahren.
„Was ist mit den Musikern? Gab es da einen Roadie, der aus Hamburg zurückkam? Mit den Beatles? Oder mit anderen?“
Die Antwort, die ich erhielt, warf mich fast um.
„Ja, so einen gab's tatsächlich. Ein Roadie, genau. War'n Frauentyp. Trieb sich viel hier herum. Im Cavern, und so. Kam eigentlich aus Crosby. Ein Vorort von Liverpool, nur ein paar Kilometer außerhalb. Irgendwann war er verschwunden.“
Eine Information mehr für mich, Hoffnung stieg in mir auf.
„Und was war mit meiner Mutter?“
„Die ist ihm wohl hinterher. Zu ihrer neuen Familie. Zu ihrem Vater. Da war auch noch 'ne andere Tochter, glaub ich. Muss dann wohl deine Tante sein. Und ein anderes Kind. Dein Halbbruder, nehme ich an.“
Ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmte mich, ich schien dem erfolgreichen Ende meiner Suche nahegekommen zu sein - das Rätsellöste sich offensichtlich. Meine Mutter hatte nicht nach Deutschland zurückkehren wollen, weil sie in Liverpool eine Familie gefunden hatte, erfahre ich hier. Diese Familie war der Grund für sie gewesen, die Verbindung zu ihrem früheren Leben abzubrechen.
Das klang endlich nach einer Spur, nach all den Enttäuschungen, die mich zermürbt hatten. Mein Herz schlug heftig, und aufgeregt bohrte ich weiter. Die Alte schien den Faden zu verlieren. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck irritierte mich. Ich folgte ihrem erschöpften Blick, suchte nach einer Quelle weiterer Informationen – da war aber nichts. Für sie schien dies das Ende des Gesprächs zu sein:
„Der Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Seine Familie lebt wohl noch in Crosby.“
Dann erhob sie sich und ging in Richtung Ausgang, unsicheren Schritts, aber zielgerichtet auf die Tür zu. Ich konnte noch eine Frage an sie richten, bevor sie das Lokal verließ.
„Und meine Mutter, lebt die noch in Crosby?“
Sie hielt kurz inne, drehte sich zu mir um, und antwortete:
„Die gibt’s nicht mehr. Die ist vor einigen Jahren gestorben.“
Damit verschwand sie aus meinem Blick, und mit ihr ein Teil meiner Familiengeschichte. Ich war wie gelähmt. Ich saß, den Kopf in die Hände gestützt, allein an dem abgewetzten Tisch. Meine Emotionen schienen in einem anderen Teil meines Lebens stattzufinden.