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Verstaubte Teegläser
Christian Vosteran lächelte. Vor lauter Aufregung war er früh aufgestanden, ganz besonders früh, hatte aus dem unablässigen, undeutlich gemurmelten "Morgen" ein enthusiastisches "Guten Morgen!" gemacht, auch wenn um diese unchristliche Zeit erst drei andere Kollegen in der Sortierstelle waren. Je früher er anfing, desto schneller würde er seine Angebetete treffen können. Sie würde bestimmt ausflippen und ihm um den Hals fallen!
Angespornt vom Geruch frisch gebrühten Kaffees lief er durch die Gänge. Dieser typische Geruch von Wichtigkeit und Produktivität. Auch wenn Christian nur Tee mochte. Er liebte diesen Job, eine verantwortungsvolle Position, in der er zur funktionierenden Kommunikation beitragen konnte, wusste diese Verantwortung zu schätzen und würdigte sie entsprechend. Von ihm konnte der Kunde korrektes Auftreten erwarten, polierte Messingknöpfe, gegeltes Haar und glänzende Schuhe. Kleidung spiegelte schon immer die Arbeitseinstellung wider. Die meisten Kollegen verstanden das nicht.
Christian wunderte sich. Er hatte heute nur eine Handvoll normaler Briefe und ein Einschreiben zu überbringen. Das war selten. Er hätte es zwar vorgezogen, nicht in den abgelegenen Krähenweg zu müssen, doch was konnte er schon dagegen tun? Er gehörte zu seiner Route. Wenigstens würde er in einer dreiviertel Stunde wieder Zuhause sein. Dachte er.
Schon vom Ortsausgang aus konnte er den Einödhof erkennen. Klein zwar, aber deutlich genug, um die berüchtigte Silhouette zu zeigen. Ein Silo-Turm, in dem angeblich Sohn, Tochter und Frau von Schellhammer in den sechziger Jahren erstickt waren. Daneben ein kleiner Schuppen, ein blassgrauer Holzverhau mit eingeknicktem Dach und, versetzt, das Wohnhaus. Christians Frisur war fein säuberlich aufgeräumt. Die Bürger der Stadt mieden die Umgebung des Hofes. Angeblich geschahen dort seltsame Dinge.
Schließlich bog er in einen schmalen Kiesweg ein. Christian stieg von seinem gelben Fahrrad. Der Boden knirschte unter seinen Schuhen. Sträucher säumten den Weg zu beiden Seiten und hätten Christian nur die Flucht nach hinten gelassen. Er atmete laut.
Inzwischen war er nähergekommen. Eigentlich ein hübsches Haus, dachte er, gemütlich fast. Seltsam entrückt stand es da und das Licht dieses schneeschwangeren Dezembertages ließ die herumstehenden verrosteten Landmaschinen wie Tiere wirken. Christians Blick streifte zwischen den Gebäuden hin und her. Er stellte das Fahrrad ab und öffnete die Posttasche. Der Brief. Schmutzig-grauer Umschlag aus Umweltpapier - beschriftet mit roter Tinte. Ohne Absender. Christian prüfte seine Frisur. Er wandte sich ab von dem zerknitterten Papier, streifte mit seinem Blick die ovale Einstiegsluke des Silos. Daran blieb er hängen. Etwas schien ihn anzustarren. Er fühlte das und seine Bewegungen froren ein. Christian fixierte das schwarze Oval. Seine Haare wollten zu Berge stehen, doch das Gel behielt die Kontrolle, lediglich die Ohren zuckten – ganz von selbst. Er musste mal.
Er strich den Briefumschlag glatt, bog eine geknickte Ecke zurück. Jeder Brief verdiente Respekt, genauso wie dessen Adressat. Christian ging auf das Wohnhaus zu. Hinter ihm knirschte etwas. Das war bestimmt nichts, gar nichts, irgendein Geräusch. Es wurde lauter und während Christian sich zaghaft umblickte, beschleunigte er seine Schritte. Er griff nach dem Ring in seiner Uniformjacke, versuchte sich zu beruhigen. Plötzlich ein Poltern. Christian stürmte los, stolperte auf die Veranda – wo man hinsah, leere Konservendosen -, stieß gegen die Tür und drückte instinktiv die Klinke. Er schlüpfte hinein und spähte durch den Türspalt. Dort war nichts, nur eine Katze lugte am Silo zwischen leeren Farbeimern hervor.
»Verschwinde, Penner!«
Christian fuhr herum, eine Strähne hing ihm ins Gesicht.
»Du meine Güte, Herr von Schellhammer, haben Sie mich erschreckt!« Erleichterung.
»Das interessiert mich einen Scheiß, machen Sie, dass Sie verschwinden, Sie gottverdammter Penner.«
Der alte Mann sah grauenhaft aus, roch wie abgestandenes Bier. Er musste das Feinripphemd schon vor Tagen angezogen haben.
»Tut mir Leid, dass ich so einfach hereinplatze.«
Den Brief hinter dem Rücken stand Christian unschlüssig im Flur. Gott, was für ein Gestank, dachte er.
»Glotzen Sie nicht so dämlich und sagen Sie mir, was Sie zum Donnerwetter wollen? Ich verpasse Ihnen gleich eine hiermit!«
Obwohl Herr von Schellhammer in einem Rollstuhl saß, dadurch gut zwei Köpfe kleiner war, schaffte er es irgendwie, herablassend mit dem Schürhaken herumzufuchteln.
»Ich habe etwas für Sie«, sagte Christian und streckte die Hand mit dem Brief vor.
»Es gibt nichts, das ich brauchen könnte, sehe ich so aus, als hätte ich irgend etwas nötig?«
Der Schürhaken schwang haarscharf an Christians Nase vorbei. Herr von Schellhammer stierte ihn an.
»Ein frisches Hemd?«
Der Schürhaken polterte zu Boden. Christian hatte damit gerechnet, sich dafür eine einzufangen.
»Halten Sie die Klappe!« Der Alte rollte heran, rammte die Beinstützen gegen Christians Schienbein und schnappte sich in einer erstaunlich agilen Bewegung den Brief. »Geben Sie schon her!«
»He, was fällt Ihnen ein, ich hätte Ihnen den Brief auch so gegeben«, maulte Christian.
»Reißen Sie sich gefälligst zusammen, immerhin sind Sie hier eingebrochen. Wären wir in Amerika, hätte ich Ihnen eine Ladung Schrot auf den Pelz gebrannt!«
Dass sich dieser alte Sack von einem Scheißkrüppel auch so aufführen muss, dachte Christian und rieb sich die schmerzende Stelle.
»Eingebrochen, was soll das denn heißen? Ich habe Ihren bescheuerten Brief gebracht.«
Beim Blick auf seine polierten Schuhe wurde er sich schließlich wieder seiner Prinzipien bewusst. Er richtete sich auf, bändigte seine Strähne, rückte die Krawatte zurecht und atmete, nein, nicht tief - dieser Geruch! - durch.
»Bitte entschuldigen Sie, es steht mir nicht zu, so zu reden. Würden Sie bitte hier unterschreiben?« Christian hielt ihm einen Quittungsblock vor die Nase.
»Da sprichst Du Wahres gelassen aus, Jungchen«, sagte der Alte und kratzte sich dabei an seinem Beinstumpf. »Aber drauf geschissen, jetzt bist Du mir was schuldig. Stift?«
Christian hätte das vorher wissen können. Nervös blicke er sich um und holte umständlich einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke.
»Was schuldig? Wie kann ich Ihnen helfen?«
In der Ecke stand ein ausgestopfter Fischreiher, darüber hing ein Gemälde. Bob Ross hätte seine Freude daran gehabt. Nach dem er seine Unterschrift hingekitzelt hatte, mühte sich Herr von Schellhammer, den Rollstuhl zu drehen, doch der zusammengeschobene Überrest eines Teppichs blockierte die Räder. Christian schnappte sich kurzerhand die Schiebegriffe, machte sich nützlich.
»Nehmen Sie Ihre verdammten Griffel da weg!«, grunzte der Alte und schlug mit der Faust auf Christians Hand.
Ertappt wich er ein paar Schritte zurück. Schon aus dem Zivildienst hätte er wissen müssen, dass man Rollstuhlfahrern nicht, ohne zu fragen, ins sprichwörtliche Handwerk zu pfuschen hatte.
»Geh da rüber, in die Küche, stell' Wasser auf. Wir werden uns ein bisschen unterhalten.«
Christian dachte nicht im Traum daran, sich mit diesem traurigen Überrest eines Menschen an einen Tisch zu setzen.
»Ich habe keine Zeit, bin im Dienst.«
»Was, zum Kuckuck, ist das hier eigentlich für ein elendiger Scheißdreck? Warum liegt dieser vermaledeite Teppich immer noch hier herum«, keifte Herr von Schellhammer im Kampf gegen das Hindernis.
»Herr von Schellhammer, soll ich nicht doch lieber ...«
Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke und er wusste, dass Schweigen jetzt Gold war. Das Haargel versagte seinen Dienst mehr und mehr, zwei Strähnen schon.
Die Küche. Ein seltsam anmutendes Katastrophengebiet. Über und über mit leeren Dosen vollgestellt. Mexikanische Bohnensuppe. Der Gasherd verdiente seinen Namen nicht, besaß nur eine Flamme. Um die Ecke eine Welt, die so gar nicht zu Herrn von Schellhammer und dem restlichen Ambiente passen wollte. Christian strich über die Tischplatte. Makellos. Er fuhr mit dem Zeigefinger über ein besticktes Platzdeckchen. Schneeweiß. Daneben eine Teekanne, Kerze und Streichhölzer. Zwischen zwei staubigen Teegläsern, die hier bestimmt schon seit Monaten auf ihre Verwendung zu warten schienen, eine Fotografie. Wahrscheinlich Frau von Schellhammer in jungen Jahren.
Nur mit Mühe bekam Christian den Wasserhahn auf und er füllte den überraschend gepflegten Wasserkessel. Der Gasanzünder klebte in einer Kruste alter Bohnensuppe, sodass Christian zweimal zupacken musste.
Vom Flur drang ein dumpfer Schlag herüber.
»Leck mich doch am Arsch, du verschissener Scheißteppich!«, schrie von Schellhammer.
Christian stellte den Kessel auf den Herd und ging in den Flur, nicht ohne einen Stapel Dosen umzureißen. Beinahe wäre er deswegen gegen die Anrichte gelaufen. Er konnte sich ob des Anblicks ein Prusten nicht verkneifen, stand mit offenem Mund in der Küchentür.
»Grins nicht wie ein Schwachsinniger, hilf mir hoch!«
»Aber Herr von Schellhammer, wie haben Sie das denn geschafft?« Jetzt durfte er diesen Rüpel auch noch vom Boden aufsammeln.
»Ich hab den Teppich da so nötig wie einen Kropf, was soll ich damit? Die Schnepfe vom Bürgermeisteramt hat den gebracht.« Er packte den Teppich und riss wie ein tollwütiger Hund daran. »Was soll ich mit so einem unseligen Ding? Ich bin ein verdammter Krüppel, ich will diesen Scheiß nicht in meinem Haus!«
Christian stellte den Rollstuhl, dessen Armlehnen sich verabschiedet hatten, wieder auf die Räder.
»Immer langsam, Sie müssen ihn ja nicht gleich zerlegen«, sagte der Alte.
»Reicht es, wenn ich den Rollstuhl festhalte?«, fragte er.
»Sehe ich so aus?«, zeterte von Schellhammer, »sehe ich verflucht nochmal aus wie ein verblödeter Athlet? Machen Sie die Armlehnen wieder dran und helfen Sie mir hoch, Sie Klugscheißer.«
Endlich saß Herr von Schellhammer wieder in seinem Stuhl. Christians Uniform war nur noch eine zerknitterte Erinnerung an seinen bedeutsamen Beruf, das Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Schwitzend öffnete er seine Krawatte, hängte sie sich lose um den Hals. Der Körpergeruch des alten Mannes schien Christians Nasenflügel nicht mehr verlassen zu wollen. Ihm war übel und langsam musste er wirklich mal.
Der Alte rollte zu ihm und klopfte ihm auf den Arm.
»Guter Junge.«
»Nicht der Rede wert«, log Christian, klopfte gespielt freundschaftlich die Schulter des Alten. Sie fühlte sich kühl und schmierig, eigenartig körnig an. Ranzige Butter. Angewidert zog Christian seine Hand zurück.
»Jetzt lassen Sie den Teppich endlich liegen, ich mach das schon«, motzte Christian, als er den Alten wieder danach greifen sah. »Machen Sie lieber den Tee.«
Wie auf Kommando begann der Wasserkessel zu pfeifen. Von Schellhammer rollte in die Küche.
»Wohin wollen Sie den Fetzen haben?«, rief ihm Christian hinterher.
»Kommen Sie erstmal in die Küche, für den Scheißteppich haben wir nachher noch genug Zeit.« Das klang fast freundlich.
Christian wusste nicht, was er tun sollte. Eigentlich hatte er keine Lust, länger als nötig zu bleiben, aber Herr von Schellhammer tat ihm Leid. Er wirkte so traurig und war mit Sicherheit sehr einsam. Er beschloss, wenigstens noch für eine Weile zu bleiben.
»Ist sie das?«, fragte Christian und setzte sich.
Den Rücken zu ihm hantierte Von Schellhammer mit einer Teedose.
»Wer?«
»Wirklich hübsch – ist doch ihre Frau, oder?«
»Ach, das Bild. Ja, meine Frau.«
»Hübsch!«
Der Alte drehte seinen Kopf und betrachtete das Bild. »Was?«
»Ihre Frau, sie war eine Schönheit.«
Wieso blickte er plötzlich so finster drein?
»Schönheit? Scheiß Schönheit. Ist vergänglich. Geben Sie mir mal die Kanne!«
Christian stand auf und brachte von Schellhammer die Kanne, dann setzte er sich wieder.
»Aber Sie haben sie doch bestimmt auch wegen ihrer Schönheit geheiratet«, sagte Christian und blies in die Teetasse, die näher bei ihm stand. Staub wirbelte auf und er musste husten.
»Ist man jung, sind Äußerlichkeiten wichtig, aber – das wirst auch Du lernen - irgendwann ist nur noch ein alter Hautsack übrig. Wenn das Buschfeuer der ersten Liebe abgefackelt ist, dann rückt dir die Wirklichkeit den Kopf gerade, aber zugegeben, sie war schon ein Schmuckstück.«
»Ich wette, sie war auch ansonsten eine wunderbare Frau, nicht wahr?« Christian wusste nicht, wo er mit seinen Händen hin sollte.
»Von wegen ... lass dir von einem alten Mann etwas sagen: Heirate besser nicht und schon gar keine schöne Frau.«
»Wie, von wegen?«
»Sie war nichts anderes, als dieser Teppich da draußen! Ständig im Weg. Zierrat.«
Von Schellhammer nahm Christian die Teetasse aus der Hand und begann sie mit dem Unterhemd zu polieren. Christian schnappte sich das andere Glas und sprang auf. Nur über meine Leiche, dachte er und spülte es unter einem großzügigen Wasserstrahl. Dann setzte er sich wieder.
»Das hört sich aber so an, als hätte Ihnen Ihre Frau nichts bedeutet.«
»So viel einem eine geizige Frau mit Geld eben bedeuten kann«, sagte der Alte geistesabwesend.
»Das hätte ich nicht erwartet.«
»Ja, ja, die Menschen neigen dazu, von bemitleidenswerten alten Säcken nur das Beste zu denken«, sagte von Schellhammer, während er mit dem Zeigefinger in seinem Ohr bohrte.
»Also wenn ich ehrlich bin, habe ich gar keine Meinung von Ihnen gehabt.«
»Das können Sie Ihrer Scheiß-Oma erzählen!«
Von Schellhammer lachte bitter und verschüttete Tee auf dem Tisch.
»Ich habe sie ja bisher nicht gekannt«, sagte Christian.
Das Spitzendeckchen hatte von der aufgesogenen Flüssigkeit einen großen, braunen Fleck bekommen. Das restliche Malheur wischte der Alte mit der Handkante vom Tisch, die er schließlich ableckte und an seinem Unterhemd abtrocknete. Christian wollte nicht hinsehen, konnte seine Blick aber auch nicht lösen.
»Gekannt vielleicht nicht, aber eine Meinung hatten Sie.«
»Also, manchmal, ach, in letzter Zeit eigentlich gar nicht, hört man halt vom Unglück im Silo.«
»Reden Sie immer so um den heißen Brei herum?«
»Ja. Nein. Ich weiß auch nicht. Klar, es hat mich beschäftigt. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass einem die ganze Familie so tragisch wegstirbt. Das muss schon schwer sein.« Christian fingerte an der Teetasse herum.
»Man denkt, was für eine arme Sau«, beantwortete von Schellhammer die Frage selbst.
»Naja, so würde ich das vielleicht nicht ...« Christian verstand nicht, was der Alte von ihm wollte. »Obwohl, stimmt schon, irgendwie.«
Noch ehe Christian etwas dagegen unternehmen konnte, füllte Herr von Schellhammer Christians halb leeres Glas mit Rum auf. Würde er das hochprozentige Gebräu jetzt trinken, wäre der Tag wahrscheinlich gelaufen.
»Nicht so viel!«, protestierte Christian kraftlos. Er nippte an seinem Rum mit Tee und verzog das Gesicht. Schon der bloße Geruch schien seine Gedanken verschwimmen zu lassen.
»Ein Guter hält's aus«, sagte der Alte. Dann setzte er die Flasche an und trank den Rest, ein gutes Viertel. »Ich jedenfalls dachte das.«
»Was?«
»Arme Sau.«
»Ach so. Ist ja klar. Aber ehrlich, wer hätte Ihnen das verübelt und noch wichtiger: wem wäre es nicht so ergangen?« Christian freute sich über seine kluge Aussage. Mit den Fingern umspielte er eine imaginäre Acht auf der Tischplatte.
»Bloß nicht festlegen, was?«
Christian hob das Teeglas zum Mund. »Scheiß drauf«, murmelte er und stürzte das Getränk hinunter.
Von Schellhammer schlug mit der Hand auf den Tisch. »Das ist die richtige Einstellung.«
»Sagen Sie, darf ich Sie was fragen?«
»Kommt darauf an.«
»Warum hatten sie die Gläser hier stehen?«
Der Alte runzelte die Stirn. »Das geht Dich einen Scheiß an!«
»Hätte ja sein können«, sagte Christian. Sein Versuch, die Frisur wieder zu sortieren, scheiterte. »Und wie kam es dazu?« Er deutete auf von Schellhammers umgeschlagenes Hosenbein. Der Schweiß brach ihm dabei aus und das unbestimmte Gefühl, nicht so ganz hier zu sein.
»Hochzeitstag.«
Für eine Minute passierte gar nichts.
»Scheißtiming.« Er zog seine Uniformjacke aus, hängte sie über die Stuhllehne.
»Die Gläser, Du Blödmann!«
Christian verstand gar nichts. »Was haben die Gläser mit dem abgehack... also ich meine, mit dem amputierten Bein zu tun?«
»Himmel, Arsch und Zwirn, Junge, Du brauchst Training. Musst ja nur Deinen Zinken in Alkohol halten und schon hörst Du die Glocken klingen.«
»Also wenn ich ehrlich bin, Herr Schellhammer, kreisen Sie auch immer um die Antworten, ganz wie Fliegen um eine Leiche.«
»Von Schellhammer. Unterschlage mir nicht das von.«
Obwohl er schwitzte und sich alles um ihn drehte, fühlte sich Christian etwas wohler, vielleicht aber auch gerade deshalb. Genaugenommen, war der alte Mann doch eigentlich kein schlechter. Vielleicht war er ein Riesenarschloch und der Alkohol machte Christian etwas vor, so genau konnte er das nicht mehr sagen, aber vielleicht ließe es sich bestimmt einrichten, den Alten zu einem Gläschen Tee zu besuchen. Der brauchte wahrscheinlich nur ein wenig Ansprache.
Da kam Christian ein Gedanke. »War von Schellhammer der Mädchenname Ihrer Frau?«
Von Schellhammer war gerade im Begriff sich Tee einzuschenken, hielt inne und sah ihn eindringlich an. Schlagartig war Christian wieder bei sich. Irgendwie fühlte sich alles um einige Zentimeter näher an, deutlicher, kälter.
Unverrichteter Dinge stellte der Alte die Teekanne wieder ab. »Stimmt.«
»Wie kam das eigentlich mit Ihrer Familie?«
»Junge, hol' mir mal ein Bier aus dem Kühlschrank«, seufzte er. »Und nimm Dir auch eins.«
Jetzt noch ein Bier und mir wird schlecht, dachte Christian beim Aufstehen.
»Nein, nein, nicht um die Zeit.«
»Schlappschwanz.«
»Habe ich kein Problem damit.« Er gab der Kühlschranktür einen Stoß und stellte zwei Bierflaschen auf den Tisch.
»So siehst du aus«, grunzte von Schellhammer.
»Sie brauchen es mir nicht zu erzählen, geht mich sowieso nichts an.« Warum redete von Schellhammer nicht? Er legte es doch direkt darauf an, danach gefragt zu werden.
»Reden Sie doch keinen Unsinn, das ist über vierzig Jahre her, glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun? Soll ich lieber die ganze beschissene Zeit herumjammern?« Von Schellhammer nahm das Foto und betrachtete es mit glasigem Blick. »Um die armen Kinder tut es mir Leid, ja, was konnten die schon dafür, aber sie ...« Er schleuderte das Bild wie eine Spielkarte auf den Tisch.
»Wieso? Konnte ihre Frau denn etwas dafür?«
»Zumindest war es gerecht.«
Das irritierte Christian.
»Wie kann sowas gerecht sein?«
»Sie war ein selbstsüchtiges, habgieriges Stück.« Mit geballten Fäusten saß er da.
»Dann kam Ihnen der Unfall also ganz gelegen.«
»Sag mal, bist Du schwer von Begriff?«, schnauzte der Alte und machte sich ein Bier auf.
»Was? Nein. Ach Blödsinn, ich rede doch nicht von ihrem Bein, ich dachte nur ...«
»Denk doch, was du willst«, murmelte von Schellhammer.
»Ich meine ... nein, hören Sie, ich will Sie doch nicht beleidigen. Es hat sich einfach so angehört, als wären Sie froh darüber, dass Ihre Frau gestorben ist.«
»Meine Herren!« Er musste aufstoßen. »Willst Du mir das vorwerfen? Was soll ich denn machen? Flennen? Sie war ein beschissener Geizkragen, hat keine müde Mark für uns ausgegeben.«
»Es geht immer um das liebe Geld.«
»Ach, woher denn, es hätte schon irgendwie funktioniert, aber sie hat ja nur lamentiert, in einer Tour gekeift. Schwere Zeiten übersteht man schon, wenn man zusammenhält. Die schwierigen Zeiten hätten einfach nicht sein müssen.«
»Aber wenn sie doch Geld hatte, warum hat Ihre Frau die schweren Zeiten damit nicht überbrückt?«
»Ja Himmel, Arsch ... wovon rede ich denn die ganze Zeit?«
Christian hob beschwichtigend die Hände. »Naja, 'tschuldigung, hat eben ein bisschen gedauert.«
»Wundert mich nicht, dass Du Briefe durch die Gegend schleppst.«
»Danke auch.«
Von Schellhammer streckte Christian die Hand entgegen. »War nicht so gemeint.«
Christian winkte ab.
»Unsere Ehe ist wegen des Geldes zerbrochen. Scheiß drauf, passiert tausendmal am Tag«, seufzte der Alte. »Hat Deine Zukünftige denn Geld?«
»Ich will Ihnen damit nicht zu nahe treten, aber ehrlich gesagt, würde ich schon gerne wissen, was mit Ihrer Familie passiert ist«, bohrte Christian. Er versuchte, dieser persönlichen Frage auszuweichen. Ob es pietätlos war, nach einem solch tragischen Ereignis zu fragen?
»Du hast nicht zufällig ein Bild dabei?«
Keine Chance, Alter, das zeige ich dir in hundert Jahren nicht, dachte Christian. »Nein«, log er.
»Wäre ich in deinem Alter, würde ich das Foto auch nicht herausrücken.« Herrn von Schellhammers Lachen klang wie ein Motor, der nicht anspringen wollte.
Draußen schlug das Wetter um und heftiges Schneetreiben verdunkelte die Küche. Der alte Mann saß wortlos am Tisch und beobachtete das Schauspiel. Wie traurig er aussah; wie einsam. Christian überkamen melancholische Gefühle. Jene Gefühle, die ihn beim Anblick vermeintlich trauriger oder hilfloser älterer Männer manchmal beschlichen. Sogar bei seinem eigenen Vater hatte er das erlebt. Sein anfängliches Mitgefühl wurde zu Mitleid und er fühlte sich schlecht deswegen. Wie konnte er die Stimmung des armen Mannes ein wenig aufheitern? Er grübelte, dachte über mögliche Konsequenzen nach und griff dann in der Innentasche seiner Uniformjacke nach seinem Portmonee. Sie ist hübsch, dachte Christian wie so oft. Er legte das Foto vor von Schellhammer auf den Tisch. Der aber starrte noch immer aus dem Fenster. Es blitzte.
»Das ist sie«, sagte Christian leise.
Von Schellhammer wandte sich dem Foto zu. Es donnerte.
»Bisschen pummelig«, stellte er trocken fest.
Sofort bedauerte Christian seine Entscheidung und verstaute das Foto wieder. Er entschied, dass es jetzt genug sei und erhob sich.
»Ich kann dir sagen, was passiert ist.«
»Vielleicht ein anderes Mal, aber jetzt sollte ich wirklich gehen.«
Herrn von Schellhammers Blick zeugte von Enttäuschung. »Bei dem Sauwetter?«
»Ich muss noch andere Briefe austragen. Also, machen Sie's gut, passen Sie auf sich auf.«
»Ja«, brummte der Alte und hob die Hand beiläufig.
»Ach so, um den Teppich kümmere ich mich noch schnell.«
»Mhm«, machte Herr von Schellhammer, während er aus der Flasche trank.
Christian stand hinter ihm in der Tür und sah ihn an, beobachtete seinen seltsamen Gastgeber, der nichts tat, als die Bierflasche zu betrachten.
Nachdenklich rollte Christian den Teppich zusammen und fragte sich, ob das Ding wohl einmal im Wald gelegen war, denn es roch nach Erde.
»Wo wollen Sie den Teppich haben?«, rief Christian in Richtung Küche.
»Wirf ihn vor die Tür«, tönte es aus der Küche.
Das wunderte Christian nicht. Ihm war schon aufgefallen, dass es auf dem Grundstück von Schellhammers nach genau diesem Pragmatismus aussah. Alt, defekt, verbraucht, raus vor die Tür. Naja, ihm konnte es egal sein.
Der Teppich drückte schwer auf Christians Schulter. Das Schneegestöber hatte endlich nachgelassen. Scheiß Winter, dachte er und im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass er jetzt eigentlich hätte abhauen können, doch etwas hielt ihn zurück, wenn er nur wüsste, was, und außerdem musste er wirklich mal. Endlich, hinter einem Ölfass erleichterte er sich. Seine Hand suchte nach dem Ring in der Jackentasche. Er hatte sie im Haus vergessen. Er klemmte ab, ein Geräusch beunruhigte ihn.
»He, Jungchen, ich hab's mir anders überlegt. Bring den verdammten Teppich lieber in den Keller. Wenn die den hier draußen liegen sieht, bringt mir dieses debile Weibsstück vom Bürgermeisteramt bloß einen anderen«, rief Herr von Schellhammer in der Haustür sitzend.
Mit klappernden Zähnen griff sich Christian erneut den Teppich und schaffte ihn ins Haus. Das hätte sich der Alte doch gleich überlegen können. Dann sah er seine Uniformjacke. Die konnte er jetzt wahrscheinlich wegwerfen, oder für teures Geld vom Gestank dieses Widerlings befreien lassen, der sie sich übergestreift hatte.
»Die Tür da führt zum Keller«, sagte von Schellhammer. Mit dem Kopf nickte er in die entsprechende Richtung.
Christian blieb vor der Tür stehen, kämpfte mit dem Teppich, als wäre er ein störrischen Tier.
»Würden Sie mal bitte?« Wie sollte er mit diesem Ungetüm im Arm die Kellertür auf bekommen, aber der Alte war schon wieder in der Küche verschwunden. Lustlos ließ er die Rolle fallen. Himmel, glaubt der, ich bin sein Sklave? Am liebsten hätte er laut losgemault.
»Machen Sie sich keine Umstände, ich regle das schon«, sagte er halblaut. Was ließ er sich das überhaupt gefallen? Christian schaltete das Kellerlicht ein und schreckte zurück. Schon an der Treppe roch es schimmlig. Er hatte keine Lust mehr, länger als nötig mit diesem Quatsch befasst zu sein, also schob er die Teppichrolle bis an den Treppenabsatz und beförderte sie mit einem kräftigen Tritt nach unten. Zuerst schien sie auf halbem Weg liegen bleiben zu wollen, doch plötzlich polterte sie mit Wucht hinab. Christian befreite seine Hände vom Staub, löschte das Licht und warf die Tür zu. Schluss, aus, er würde jetzt nach Hause gehen.
Kurz davor, die Haustür zu öffnen, hielt er inne. Die Jacke! Und von einem Krachen hinter der Kellertür, das irgendwie spöttisch klang, fuhr Christian zusammen. Etwas musste dort unten zu Bruch gegangen sein.
»Herr von Schellhammer, ich brauche meine Jacke«, sagte Christian halblaut.
Er zog sie aus und hielt sie ihm hin, ohne sich umzudrehen.
Christian rümpfte die Nase. Seine schöne Uniformjacke stank nach ranziger Butter.
Kurz bevor Christian das Haus verließ, rief ihm der Alte hinterher.
Christian blieb stehen, drehte sich um.
»Du hast was vergessen!« Er stand in der Küchentür und streckte ihm einen kleinen Gegenstand entgegen, bleckte gelbe Zähne.
Christian war perplex. Warum hatte von Schellhammer seine Taschen durchwühlt? Niemand fasste diesen Ring an! Nach zwei Schritten stand er bei von Schellhammer, der ihn aus seinem klapprigen Rollstuhl angrinste.
»Her mit dem Ring!«
»Nur wenn du mal wieder vorbei schaust.«
»Her damit!« Christian schrie.
Herr von Schellhammer zuckte überrascht zusammen. Mit sichtlich schlechtem Gewissen händigte er Christian den Ring aus. »Entschuldigung«, sagte er leise.
Beim Öffnen der Tür wehte ein Schwall kalter Luft herein.
»Kommst du wieder?«, fragte der Alte mit glasigen Augen.
Christian zögerte.
»Nächste Woche vielleicht.«
Herr von Schellhammer lächelte.
© by Georg Niedermeier. Alle Rechte vorbehalten.